op. 111 – Eine Analyse in 335 Teilen – Takt 159

Im Dezember 2015 begann Arno Lücker die längste Bad-Blog-Serie aller Zeiten. Er analysiert jeden einzelnen Takt von Ludwig van Beethovens letzter Klaviersonate c-Moll op. 111 aus dem Jahr 1822. Das sind 335 Takte, also 335 einzelne Folgen. Am 6. August 2018 erreichte er den letzten Takt des ersten Satzes. Der Autor verspricht, die Serie bis zum Beginn des Beethoven-Jahres 2020 abzuschließen – sofern er oder der Bad Blog of Musick nicht vorher jämmerlich verenden.

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Die bisherigen Folgen:
Takt 1 Takt 2 Takt 3 Takt 4 Takt 5 Takt 6 Takt 7 Takt 8 Takt 9 Takt 10 Takt 11 Takt 12 Takt 13 Takt 14 Takt 15 Takt 16 Takt 17 Takt 18 Takt 19 Takt 20 Takt 21 Takt 22 Takt 23 Takt 24 Takt 25 Takt 26 Takt 27 Takt 28 Takt 29 Takt 30 Takt 31 Takt 32 Takt 33 Takt 34 Takt 35 Takt 36 Takt 37 Takt 38 Takt 39 Takt 40 Takt 41 Takt 42 Takt 43 Takt 44 Takt 45 Takt 46 Takt 47 Takt 48 Takt 49 Takt 50 Takt 51 Takt 52 Takt 53 Takt 54 Takt 55 Takt 56 Takt 57 Takt 58 Takt 59 Takt 60 Takt 61 Takt 62 Takt 63 Takt 64 Takt 65 Takt 66 Takt 67 Takt 68 Takt 69 Takt 70 Takt 71 Takt 72 Takt 73 Takt 74 Takt 75 Takt 76 Takt 77 Takt 78 Takt 79 Takt 80 Takt 81 Takt 82 Takt 83 Takt 84 Takt 85 Takt 86 Takt 87 Takt 88 Takt 89 Takt 90 Takt 91 Takt 92 Takt 93 Takt 94 Takt 95 Takt 96 Takt 97 Takt 98 Takt 99 Takt 100 Takt 101 Takt 102 Takt 103 Takt 104 Takt 105 Takt 106 Takt 107 Takt 108 Takt 109 Takt 110 Takt 111 Takt 112 Takt 113 Takt 114 Takt 115 Takt 116 Takt 117 Takt 118 Takt 119 Takt 120 Takt 121 Takt 122 Takt 123 Takt 124 Takt 125 Takt 126 Takt 127 Takt 128 Takt 129 Takt 130 Takt 131 Takt 132 Takt 133 Takt 134 Takt 135 Takt 136 Takt 137 Takt 138 Takt 139 Takt 140 Takt 141 Takt 142 Takt 143 Takt 144 Takt 145 Takt 146 Takt 147 Takt 148 Takt 149 Takt 150 Takt 151 Takt 152 Takt 153 Takt 154 Takt 155 Takt 156 Takt 157 Takt 158

Hier beginnt er also. Der zweite Satz von Beethovens letzter Klaviersonate.

Nach dem tiefen und weichen C-Dur-Akkord, mit dem der erste Satz endete, geht es heute also einfach in C-Dur weiter. Und das in einer c-Moll-Sonate. Das ist überhaupt nicht ungewöhnlich, doch verweist die Praxis, den letzten Satz eines Moll-Werkes in Sonatenhauptsatzform schon in Dur beginnen zu lassen auf die Zeit vor Beethoven – vor allem auf die Sinfonien von Beethovens Lehrer Joseph Haydn.

Beethoven war es, der – so behaupte ich – das Moll in der Musikgeschichte groß gemacht hat. Beethoven war die eierlegende Mollmilchsau, der sinfonische Schöpfer theatralischster Moll-Sätze, Drama-Queen in Sachen Musik. Beethoven liebte es, Moll-Sätze in Moll zu beenden. Die „klassisch-lichte Dur-Aufhellung“ am Ende eines Sonatensatzes: Beethoven hatte das quasi schon abgeschafft. Keine Versöhnung, keine Hoffnung – und eben kein: „Alle Menschen werden Brüder“! (Allein, weil darin die Schwestern und die anderen fehlen.)

Und jetzt das! Beethoven fängt in seiner c-Moll-Sonate den zweiten und damit – das „verraten“ wir hiermit einfach mal – letzten Satz in Dur an.

Den Auftakt zählen wir – das ist gängige Praxis – zu unserem „vollen“ Takt 159 dazu. Und hören und sehen zunächst eine… Ja, was eigentlich? Was ist dieser abwärts gerichtete Quartsprung in der Oberstimme der rechten Hand (c2 zu g1)?

Nun, das können wir zu diesem Zeitpunkt vielleicht noch nicht beantworten. Stattdessen stellen wir eine mehr oder weniger konkrete Frage…

Beethoven liebte aufstrebende, jähe Themen… Bei dem Auftakt zum „Adagio molto semplice e cantabile“ (also in etwa: „Sehr langsam, schlicht und gesanglich“) haben wir es mit einer abwärts gerichteten Quart-Geste zu tun, die ihr zusammenhangvolles Gegenstück am Ende von Takt 159 in Form einer abwärts geneigten Quinte findet. Welche anderen Klaviersonaten Beethoven gibt es überhaupt, bei denen der Komponist in großem Stil – also auffällig, forciert – „Abwärts-Hauptthemen“ voranstellt?

Erst einmal kurz allgemein gefragt: Wie schaut es mit der musikgeschichtlichen Konnotation einer abwärts gerichteten Quarte aus? Eine nach unten geneigte reine Quarte hat zunächst einmal keine ganz bestimmte, genau definierte, im kollektiven Gedächtnis pawlowsche Gleichzeitigkeiten auslösende „Bedeutung“. Nun ist die Quarte zu Beginn des zweiten Satzes von op. 111 zudem rhythmisiert, es folgen also nicht zwei gleiche rhythmische Werte aufeinander. Trotzdem darf man wohl behaupten, dass eine Abwärts-Quarte im langsamen Tempo in vielen Köpfen die Assoziation „Rezitativ-Phrasenabschluss“ auszulösen vermag. In Rezitativen kommt es also häufig zu solchen Quart-Abwärts-Situationen, wie beispielsweise in Bachs „Matthäus-Passion“ (1727)…

Man kann also davon ausgehen, dass eine Quarte abwärts in einem gemächlichen Tempo – und gewiss in mittlerer Tonlage – mit Assoziationen wie „Bedeutung“, „Erzählung“, „Besonderheit“, „Gleichnishaftigkeit“ behaftet ist. „Hier geschieht etwas Konkretes, etwas, das Folgen haben wird“… Und Beethoven mag gewusst haben, dass er mit diesem Intervall den letzten Klaviersonatensatz seines Lebens einläuten wird. Vielleicht.

Schauen wir mal zurück, auf andere prominente, bedeutungsschwangere „Abwärtsthemen“ in den Beethovenschen Klaviersonaten.

Da wäre beispielsweise die A-Dur-Sonate op. 2 Nr. 2 (1795). Die erste prominente Abwärtsquarte in Beethovens Klaviersonatenschaffen…

Trotz der fetzigen Abwärtsquarte ist dieser Sonatenbeginn natürlich nicht unbedingt mit dem Beginn des zweiten Satzes aus op. 111 verwandt. Das Themenintervall ist in seinem Allegro-vivace-Charakter hier rhythmisch-motivischer Motor für ein buntes Sonatentreiben. Drive, Feuer, Virtuosität – all das ist bei dem Adagio-Beginn unserer letzten Sonate freilich erst einmal völlig lahmgelegt.

Noch in derselben Sonate aus dem Jahr 1795 kommt es zu einem – ebenfalls nicht mit op. 111 vergleichbaren, doch erstaunlichen – allerdings Nicht-Quart-Abwärtssprung…

1799 entstehen die zwei Sonaten op. 14. In der zweiten Sonate in G-Dur begegnen wir einem merkwürdigen, irgendwie pastoral-lyrischen Thema, in dem sich eine – nicht allzu bedeutungsvolle – Quarte versteckt, die der Vollständigkeit halber erwähnt sein möge…

Ebenso beiläufig – und gleichfalls in einem schnellen Tempo – ist im ersten Thema des Eingangssatzes der B-Dur-Sonate op. 22 (1800) eine Abwärtsquarte enthalten…

Zwar ohne Abwärtsquarte, doch dem erzählenden Charakter unseres Arietta-Beginns bisher im Vergleich am ehesten verwandt, erklingt der Quasi-Hänschen-Klein-Beginn der traumgleichen Fantasia-Sonate op. 27 Nr. 1…

Zu „witzig“, zu schnell: die abwärts gerichteten Themen des Scherzos aus der Sonate D-Dur op. 28 (1801)…

…des Finales aus eben jener Sonate…

…des spritzigen Beginns der G-Dur-Sonate op. 31 Nr. 1 (1801-02)…

…und des verwegen-lustigen Anfangs der Sonate Es-Dur op. 31 Nr. 3 (1801-02)…

Doch dann geschieht es. In dem langsamen Satz der G-Dur-Sonate op. 31 Nr. 1 kommt es zu dieser intervallischen Szenerie…

Innerhalb von vier Takten erklingen jene vier theatralischen Töne (siehe Markierung), die die Oberstimme unserer Arietta bilden. Davor, dazwischen und danach geschehen gleichwohl andere Dinge… Trotzdem hat sich hier – wie früher die Maus auf der Kinderrätselseite der Zeitschrift „Brigitte“ meiner Mutter – das Arietta-Thema versteckt. Was weder heißt, dass Beethoven bewusst zwanzig Jahre später darauf rekurriert, noch, dass dieser langsame Satz der mittleren Sonatenschaffensphase auf op. 111 vorausweist.

Schauen wir weiter. Die berühmt-berüchtigte Abwärtsgeste zu Beginn der „Appassionata“ (1804) dürfen wir selbstverständlich nicht außer Acht lassen, wenn sie dem gesanglichen Charakter der Arietta auch nicht verwandt ist…

Zwar ebenfalls nicht mit einer Quarte – so doch mit einer sehr prominenten und vom Komponisten selbst textierten Abwärtsgeste – hebt der erste Satz von Beethovens Es-Dur-Sonate op. 81a (1809) an: „Les Adieux“…

Beethoven schrieb die „Lebewohl“-Sonate in Erinnerung an den vorübergehenden – politisch motivierten – Abschied seines Freundes Erzherzog Rudolf von Österreich aus Wien. Und „Abschied“ klingt natürlich im letzten Satz der letzten Sonate als Thema unwiderruflich mit.

Von fließendem und dabei von Melancholie nicht freiem Charakter: das Thema der drittletzten Sonate op. 109 (1821)…

Zwar von Quarten frei, gleichsam von nicht unverwandtem Sentiment erklingt das Variationsthema zu Beginn des dritten Satzes der gleichen E-Dur-Sonate…

Aufgrund der zeitlich dringlichen Nähe dürfen wir den Beginn der As-Dur-Sonate op. 110 – aus dem Jahr von op. 111, wie wir bereits mehrfach in dieser Artikelserie hier erwähnten – nicht vergessen…

Und in eben jener Sonate treffen wir dann im dritten Satz auf jene Stelle, an der das Fugenthema umgekehrt wird. Fast nur abwärts gerichtete Quarten, was die Verwandtschaft zu op. 111 einmal mehr auf subtile Weise heraushebt…

Diese Stelle kommt intervallisch-quantitativ wie auch in ihrem Charakter unserem Arietta-Beginn am nächsten, während bei den meisten Abwärtsthemen in Beethovenschen Klaviersonaten das Element forschen Humors dominierte.

Im Grunde müssten wir jetzt ein ganzes Beethoven-Abwärtsthemen-Fass den Berg runterrollen lassen. Denn natürlich wäre es fatal, das berühmteste – wenn auch zu Beginn quartenfreie – Stück der klassischen Musik überhaupt unerwähnt zu lassen: die Sinfonie Nr. 5 c-Moll op. 67 (1808)…

Die zweitberühmteste Sinfonie der Welt – Beethovens Sinfonie Nr. 9 d-Moll op. 125 (1824) sollte zwei Jahre nach unserer Sonate op. 111 ein Abwärtsthema – sogar mit Neigungsquarte – an den Anfang des ersten Satzes stellen…

Doch so weit hätten wir gar nicht zurück- beziehungsweise ringsherum- und vorausschauen brauchen! Viel eher hätte uns der Blick auf den Anfang „unserer“ Sonate die naheliegende „Antwort“ auf die Frage gegeben, welche „Bedeutung“ die reine Quarte zu Beginn des zweiten Satzes haben könnte. Denn keine Sonatenbeginn-Abwärtsbewegung ist so radikal wie die anfangs des ersten Satzes von op. 111!

Der Arietta-Beginn, mit dem wir es heute also zu tun haben, verweist vielleicht heimlich auf den Beginn der ganzen Sonate. Außerdem lassen sich Verbindungen zu anderen – ähnlich melancholisch veranlagten – Klaviersonatensätzen herstellen.

Abschließend sollten wir nicht vergessen, uns ganz kurz noch dem konkreten Geschehen von Takt 159 zu widmen.

Zwei C-Dur-Akkorde in Grundstellung markieren den Beginn. Auf der zweiten Zählzeit kommt es zu einem terzlosen Terzquartakkord der Dominante G-Dur, um mit einem Quintsextakkord der gleichen Tonart zu schließen.

Nun denn.

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Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.