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op. 111 – Eine Analyse in 335 Teilen – Takt 49

Jeder einzelne Takt von Ludwig van Beethovens Sonate für Klavier c-Moll op. 111 aus dem Jahr 1822 wird an dieser Stelle von Bad-Blogger Arno Lücker unter die Lupe genommen. Ein Versuch, dieser Musik irgendwie „gerecht“ zu werden, was natürlich, dafür aber fröhlich, scheitern muss.

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Beethoven op. 111 - 1. Satz - Takt 49

OMG! WTF!

Im letzten Takt – wir mussten uns ja erst ein paar Tage davon erholen, derweil der Herbst, der fucking Herbst eingetroffen ist (Hallo, du Arschloch!) – traf uns Beethovens Faust mitten in die Fresse; und zwar in Form eines Sprungs von vier Oktaven plus einer großen Terz. Ein Ton oben, ein Ton unten, darunter Gerödel der linken Hand. Fortissimo. Sforzato.

Der angestellte Vergleich mit der zweiten Variation von Weberns op. 27 bewahrheitet sich auf gar lustige Art und Weise. Denn tatsächlich sieht unser heutiger Takt aus wie eine Spiegelung; also fast so wie der zwölfte Takt bei Webern. Wobei das Schöne an der Stelle bei Webern ja ist, dass diese direkte Spiegelung des weitgedehnten Sprungs – H – g3 (im Forte) plus g3 – H (im Piano) – sozusagen „körperlich ausnotiert“ erscheint. Man darf also nicht das zweite g3 ebenfalls bequem mit der rechten und das zweite H nicht lässig mit der linken Hand spielen. Nein, die/der Pianist*in hat eine gar Wilhelmbusch’sche Verrenkung zu vollführen (nämlich mit der linken Hand rauf zum g3 – und mit der rechten runter zum H), die die Spiegelung des Notenbilds sozusagen Live-Bild werden lässt. Toll! (Und im richtigen Tempo einigermaßen risikoreich zu spielen.)

Eine Spiegelung ist das bei Beethoven natürlich nicht. Will nur sagen: Mein Vergleich war geil. In your face, ihr ganzen Hater da draußen! (Und einen Verliebtheitsemoji und eine Sonnenblume für alle anderen, ihr süßen Hasen!)

In Takt 48 hatten wir es also mit einem Sprung von vier Oktaven plus einer großen Terz in Des-Dur zu tun. In Takt 49 nun befinden wir uns harmonisch in vermindertenseptakkordigen Gefilden – und es donnert uns ein nun noch erweiterter Sprung von vier Oktaven plus eine verminderte Septe entgegen.

Wer spielt das wie? (Nach den Takten 4, 13, 16 und 28 also heute wieder ein Interpretationsvergleich).

Bei Artur Schnabel (1932) klingen die Schreckenssprünge Beethovens fast ein wenig dünn, was aber bestimmt auch an der Aufnahmetechnik damals liegt. Denn Schnabel, unser lieber Schnabel, war nun alles andere als ein Sicherheitsdenker. In Wahrheit war er sogar der risikoreichste Beethoven-Interpret aller Zeiten. Aber das wisst ihr ja alle.

Solomon Cutner (1951, bei Minute 2.56) haut schön rein. So soll es sein. So wird der Samstagabend zum Freund!

Friedrich Gulda (1953) rödelt mir die linke Hand zu diktiert da unten hin und trifft mit der anderen Hand zwar die Töne (ja, klar, was sonst?), aber es überzeugt mich nicht. Es fickt mich nicht richtig.

Irgendwie mit leichtem Holzaroma im pelzig-abgehackten Abgang nimmt Wilhelm Backhaus (1953) die Stelle, ritardiert in Takt 49 sogar ein wenig. Um zu dem sicheren Hafen von Takt 50 zu gelangen? Who knows? (Wer weiß schon, was in Takt 50 passiert?)

Edwin Fischer (1954) verspielt sich in Takt 49. Witzigerweise aber in der linken Hand. Irgendwie sympathisch, weil mit Inbrunst.

Sviatoslav Richter (1961) macht es so, wie er es immer gemacht hat. Es ist alles total geil dramatisch und radikal. Er hobelt die Töne richtig hart in dein Brain. Da bleiben sie kleben – und die Gehirnmasse läuft genüsslich aus! (Drink?)

Am unauffälligsten spielt überraschenderweise ausgerechnet Grigory Sokolov (1988) die Stelle. Da passiert gar nichts! Wobei: „großer Bogen“ und so dafür… (Und das kann er, der Gute, tatsächlich wie kein anderer.)

Ich mag es sehr, wie Arturo Benedetti Michelangeli (1990) die Stelle nimmt. Vor allem die Takte davor. Als kämpfe er sich durch einen engen Schacht voller Schleim. Ein krasser Kampf, in dem das ganze Ringen, der Schmerz dieser Musik ausnahmslos plastisch deutlich wird. Danke, Arturo!

Harmlos klingt dagegen Evgeny Kissin (2013). So geht es ja nun nicht.

Ähnlich Daniil Trifonov (2014). Was ist nur mit den Russen und ihrem Beethoven-Spiel los? Da verrenkt sich der gute Trifonov – zumindest zugunsten optischer Expressivität, aber gerade bei diesem zentralen Takt geht gar nichts!

Meine abschließende Meinung? Meiner Ansicht nach sollte bei dieser Stelle der Flügel kaputt gehen. Die Saite reißen. Mindestens. Jedenfalls vom Gefühl her. Nach diesem Takt kann nichts mehr so sein wie es mal war. Wenn eine Kugel durch den menschlichen Körper gegangen ist, dann gibt es schließlich auch Narben, die bleiben. Ich fordere mehr Narben in Beethoven-Interpretationen! Fuck you, Sicherheit. Fuck you, Taubsi! Fuck you, Rattfratz!

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Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.