op. 111 – Eine Analyse in 335 Teilen – Takt 87
Am 15. Dezember 2015 begann Arno Lücker eine Bad-Blog-Serie. Die vermutlich längste Bad-Blog-Serie aller Zeiten. Denn das Vorhaben ist, jedem einzelnen Takt von Beethovens letzter Klaviersonate c-Moll op. 111 (1822) eine eigene Analyse zuteil werden zu lassen. Die Sonate hat genau 335 Takte. Also müssen es auch 335 einzelne Analysen sein. Manchmal ist Konsequenz der einzige Ausweg.
Die bisherigen Folgen:
Takt 1 Takt 2 Takt 3 Takt 4 Takt 5 Takt 6 Takt 7 Takt 8 Takt 9 Takt 10 Takt 11 Takt 12 Takt 13 Takt 14 Takt 15 Takt 16 Takt 17 Takt 18 Takt 19 Takt 20 Takt 21 Takt 22 Takt 23 Takt 24 Takt 25 Takt 26 Takt 27 Takt 28 Takt 29 Takt 30 Takt 31 Takt 32 Takt 33 Takt 34 Takt 35 Takt 36 Takt 37 Takt 38 Takt 39 Takt 40 Takt 41 Takt 42 Takt 43 Takt 44 Takt 45 Takt 46 Takt 47 Takt 48 Takt 49 Takt 50 Takt 51 Takt 52 Takt 53 Takt 54 Takt 55 Takt 56 Takt 57 Takt 58 Takt 59 Takt 60 Takt 61 Takt 62 Takt 63 Takt 64 Takt 65 Takt 66 Takt 67 Takt 68 Takt 69 Takt 70 Takt 71 Takt 72 Takt 73 Takt 74 Takt 75 Takt 76 Takt 77 Takt 78 Takt 79 Takt 80 Takt 81 Takt 82 Takt 83 Takt 84 Takt 85 Takt 86
Es geht stürmisch in der Setzweise des Vortaktes weiter.
Das Originalzitat der drei thematischen Töne schneit herein – und zwar in der Oberstimme der rechten Hand (c2 – es2 – h1). Die drei Töne bilden aber – und das ist neu – jeweils die obersten Marksteine zwei unterschiedlicher verminderter Septakkorde; es sind also nicht jeweils zwei c-Moll-Akkorde (zwei Viertel, Zählzeiten „eins“ und „zwei“) und ein erwartbarer G-Dur-Akkord (eine Halbe, Zählzeit „drei“). Also findet harmonisch gesehen eine – für Sonatenhauptsatz-Durchführungen durchaus typische – Neu-Interpretation des Themas statt. Im Übrigen wieder in der Abfolge: zwei Staccato-Akkorde und ein resultierendes Sforzato-Pranken-Ausrufezeichen.
Und wieder hält dieser Takt einen immanenten Witz, eine verborgene Besonderheit bereit. Denn im Gegensatz zu Takt 86 werden auf den ersten zwei Zählzeiten nicht mehr die drei Themen-Anroller-Töne (g – a – h) im Bass zitiert. In harmonisch brisanter Quasi-Klanggleichzeitigkeit kommt es in der ersten Takthälfte zu einer spannungsvollen Reibung von verminderten Septakkorden in der rechten Hand einerseits – und aufstrebend gebrochenen c-Moll-Akkorden in der linken Hand andererseits.
Dieser Widerspruch löst sich in der zweiten Takthälfte nicht etwa auf, sondern feiert fröhliche Fortsetzungsurständ! Zu dem vom ersten Akkord aus gesehen nun einen Halbton nach unten gedreschten verminderten Septakkord gesellt sich in grollender Scheinheiligkeit ein horizontaler G-Dur-Dominantseptakkord.
Crazy.
Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.