op. 111 – Eine Analyse in 335 Teilen – Takt 70
Jeder einzelne Takt von Ludwig van Beethovens Sonate für Klavier c-Moll op. 111 aus dem Jahr 1822 wird an dieser Stelle von Bad-Blogger Arno Lücker unter die Lupe genommen. Ein Versuch, dieser Musik irgendwie „gerecht“ zu werden, was natürlich, dafür aber fröhlich, scheitern muss.
Die bisherigen Folgen:
Takt 1 Takt 2 Takt 3 Takt 4 Takt 5 Takt 6 Takt 7 Takt 8 Takt 9 Takt 10 Takt 11 Takt 12 Takt 13 Takt 14 Takt 15 Takt 16 Takt 17 Takt 18 Takt 19 Takt 20 Takt 21 Takt 22 Takt 23 Takt 24 Takt 25 Takt 26 Takt 27 Takt 28 Takt 29 Takt 30 Takt 31 Takt 32 Takt 33 Takt 34 Takt 35 Takt 36 Takt 37 Takt 38 Takt 39 Takt 40 Takt 41 Takt 42 Takt 43 Takt 44 Takt 45 Takt 46 Takt 47 Takt 48 Takt 49 Takt 50 Takt 51 Takt 52 Takt 53 Takt 54 Takt 55 Takt 56 Takt 57 Takt 58 Takt 59 Takt 60 Takt 61 Takt 62 Takt 63 Takt 64 Takt 65 Takt 66 Takt 67 Takt 68 Takt 69
Ein Takt – so schlicht, so leer wie kein anderer bisher in Beethovens letzter Klaviersonate!
Zwei g-Oktaven auf der zweiten (!) Zählzeit – im „Piano“.
Nach den beiden krachenden as-Oktaven (hoch vs tief) im „Fortissimo“, schön deutsch auf der „Eins“ und der „Zwei“!
Aber nein, wir müssten das Ganze anders angehen. Die 16tel-Triolen des ersten der im Grunde ja zwei (!) letzten Takte unserer vorhergehenden Folge waren natürlich der Auftakt zu Takt 19. Die Exposition wird wiederholt. Allzu erwartbar. Normalfall im Rahmen der Sonatenhauptsatzform. Wir zählen diese Takte aber nicht noch einmal. 335 Takte sind genug. Wir müssen das nicht alles noch einmal durchmachen…
Ja, das ist der leerste, schlichteste Takt. Aber vielleicht der Genialste der bisherigen Sonate (und ich bin kein Fan von „je einfacher, desto besser“; es gibt manchmal komplexe Ideen, die wunderschön sind; und die an Geilheit verlieren, wenn man sie irgendwie versucht, auf einen einfachen Nenner herunterzubrechen).
Im Grunde auch der gruseligste Takt. Ein Geister-Takt!
Ein Fragezeichen, eine absolute Hinterfragung alles Geschehenen! Ein Takt, in dem der Komponist den selbstkomponierten Schrecken des davor in dieser Sonate zu Papier Gebrachten mit einem stillen „Leck mich!“ quittiert. „So ernst war das gar nicht gemeint, haha!“
So etwas hat Liszt später gerne gemacht. Nach virtuos-einbrechendem Tohuwabohu (hebräisch ja für „wüst und leer“, wobei hier, kompositorisch gesehen, eher „wüst und dann leer“ passen würde) wird Liszt gerne immer ganz schlicht. Auch jedes Mal ein Moment des Staunens!
Und blicken wir auf Liszts zwischen 1849 und 1853 komponierte Sonate h-Moll, so merken wir erst, dass gleich der erste Takt fast so etwas wie ein „Zitat“ genau jenes Takts 70 von Beethovens op. 111 ist…
Man könnte also sagen: Da, wo die Exposition von Beethovens letzten Sonate aufhört, da fängt Liszts h-Moll-Sonate an.
Schön, oder?
Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.