Musik und Wirklichkeit (das neue Buch von Harry Lehmann)

Musik und Wirklichkeit

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Seit vielen Jahren schon spürt man, dass die „Neue Musik“ nicht mehr das ist, was sie mal war.  Selbst ehemalige Hardcore-Protagonisten wagen es kaum noch, den Begriff „Neue Musik“ unhinterfragt und ohne Erröten zu verwenden. „Neue Musik“ mit großem N ist zu einer Art Problembegriff geworden, stattdessen verwendet man wieder vermehrt Begriffe wie „zeitgenössische Musik“ oder „Kunstmusik“. Die ästhetischen Grabenkämpfe und ermüdenden Materialdiskussionen scheinen der Vergangenheit anzugehören. Widerstand regt sich in der Szene höchstens dann, wenn man sie dezent darauf hinweist, dass die neue Toleranz und Materialoffenheit vielleicht doch nicht so makellos sind, wie sie selbst meinen (was vor allem die junge Generation zu spüren bekommt). Helmut Lachenmann schreibt tonale Märsche, dann verwirrenderweise aber wieder genau wie früher. Geht nun „anything“? Oder auch wieder nicht?

Dass ehemalige Reizdiskussionen wie zum Beispiel Tonalität versus Atonalität oder die Frage nach dem richtigen musikalischen „Material“ nicht mehr zünden (gottseidank), kann man allgemein feststellen. Die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz von heutiger Musik dagegen wird immer häufiger und drängender gestellt, und die Antworten darauf sind stilistisch unterschiedlich, wie die heutigen Festivalprogramme beweisen. Ist das Pendel in die andere Richtung ausgeschlagen? Sind wir zu „offen für alles“ geworden? Wo werden die heutigen ästhetischen Diskussionen geführt? Und interessiert das überhaupt noch irgendwen?

An den sich langsam ausfransenden und verendenden Rändern der ehemaligen Avantgarde tummeln sich – vielleicht aus einer tiefen Verunsicherung heraus – immer skurrilere Neudeutungen der jüngeren Vergangenheit, die bis hin zur Abkehr und Zertrümmerung von alten Idolen reichen kann, wie zum Beispiel dieser Blog des Komponisten Tom Sora, der allen Ernstes John Cage unterstellt, ein „Wegbereiter der cancel-culture und der Woke-Ideologie“ zu sein, und ihn einen „nützlichen Idioten“ des „Neo-Stalinismus“ nennt. Nun denn. Anderswo lässt sich beobachten, dass sich manche, die sich in der neuen Musik eher politisch links orientierten, nun rechts verorten. Oder sie drücken alle Augen zu, wenn Hoffnungsträger der Moderne sich von Diktatoren fördern lassen (wie im Fall Currentzis).

Auch die einst funktionierende und unhinterfragte „Heldenverehrung“ von großen Namen ist nicht mehr das, was sie einst war. Als ich neulich mit meinen Studierenden mehrere Seminare lang einen dreistündigen Fernsehvortrag von Stockhausen Wort für Wort durcharbeitete, wurde vor allem bei den Musikbeispielen die Diskrepanz zwischen dem von Stockhausen Gesagten und tatsächlich Klingenden thematisiert, eine Diskussion, die sehr interessant und erhellend war, in den 80er Jahren aber komplett anders verlaufen wäre.

Wir sind also mitten in einer Übergangsphase, irgendwo im Niemandsland zwischen „Konzeptmusik“, „Postmoderne“, „politischem Konzeptualismus“ und der sich rasant entwickelnden KI-Musik. Das mag ermüdend sein, weil niemand weiß, wo es lang geht; ist aber auch ein besonders kreativer Zustand, in dem sehr viel möglich ist. Denn ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: in diesem Moment werden die Weichen für eine Ästhetik gestellt, die vermutlich komplett anders sein wird als das, was wir bisher kennen.

Umso besser ist es, dass wir mit dem Philosophen Harry Lehmann jemanden haben, der sich eloquent und aufmerksam mit den neuesten Tendenzen der zeitgenössischen Musik beschäftigt und diese – mittendrin in der Entwicklung – kommentiert, einordnet und auch wagt, in ihren Konsequenzen weiterzudenken. Gerade letzteres ist besonders riskant, aber natürlich auch besonders spannend.

Gerade eben ist das neue Buch von Harry Lehmann erschien: „Musik und Wirklichkeit – Modelle der Musikphilosophie“. Vor einiger Zeit schrieb ich hier im Blog über seine „Gehaltsästhetik“ (Eine Kunstphilosophie), die mit diesem neuen Buch eine direkte Fortsetzung findet und damit auch Teile der vorausschauenden Theorien dieses Buches anhand neuer musikalischen Beispiele analysiert.

Dies geschieht anhand einer Reihe von Aufsätzen zu sehr unterschiedlichen Themenfeldern, die von Lehmann im Rahmen seiner Musikphilosophie eingeordnet und kommentiert werden. Einen großen Raum nehmen Betrachtungen des Werks von Trond Reinholdtsen ein, dessen skurrile und meist mittels e-Player (also synthetischem „Orchester“) „Norwegische Opra“ in Kennerkreisen immer wieder für Aufsehen und auch Heiterkeit sorgt. Reinholdtsen ist für Lehmann ein Paradebeispiel, da in seinem Werk viele Stränge zusammenkommen, die für Lehmann entscheidende Entwicklungen in der Musikästhetik darstellen und sehr vereinfacht als eine „Dekonstruktion der Dekonstruktion“ beschrieben werden können.

Natürlich geht es auch um „Konzeptmusik“, eines der Lieblingsthemen von Lehmann. In „33 Thesen zur Konzeptmusik“ fasst er seine bisherigen Beobachtungen zusammen, die in der These münden: „Konzeptmusik ist kein Beispiel für Gehaltsästhetik, sondern sie funktioniert als Katalysator einer gehaltsästhetischen Wende in der Neuen Musik“. Auch dies ein Hinweis darauf, dass wir eigentlich noch gar nicht wissen, was kommt, aber besser verstehen müssen, was im Moment passiert (wofür die Idee der „Gehaltsästhetik“ ein nützliches Modell ist).

Auch Betrachtungen zur „musikalischen Postmoderne“ dürfen nicht fehlen. Dass er mit deren intrinsischen Humor auch selbst punkten kann, beweist Lehmann mit meinem Lieblingssatz aus diesem Buch: „Das auffälligste Merkmal eines Publikums ist, dass es wegbleiben kann“. Diese Art von trockenem Humor durchzieht das Buch, ohne dass Lehmann je den Blick aufs Thema verliert. Seine Essays sind anspruchsvoll, aber immer klar formuliert und ohne die oft übliche Verliebtheit in geschraubte Sätze.

Das erfrischende an Lehmanns Betrachtungen ist, dass er als Kenner sowohl der Kunst- wie auch Theaterszene nie in die Falle fällt, allein auf eine rein musiktheoretische Betrachtung der neuen Werke zu setzen, um hiermit ihren Status Quo zu begründen. Stattdessen beschreibt er sie immer in einem Kontext einer ästhetischen Rezeption. Erfrischend ist auch, dass er mit gleicher Begeisterung über Werke schreibt, die vielleicht noch nicht die Aufmerksamkeit bekommen haben, die sie verdienen. Hierbei widmet er sich auch einem Genre, dass in zeitgenössischen Musikkreisen eher wenig Beachtung findet, nämlich der „Musik im Sprechtheater“ (so ein weiteres Kapitel).

Meinen Studierenden steht auf jeden Fall mit diesem neuen Band für meine nächsten Seminare interessanter Gesprächsstoff zur Verfügung, und allen Lesern dieses Blogs empfehle ich die Lektüre ohnehin!

Moritz Eggert

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