Fragen zum Lied im 21. Jahrhundert

David Krahl (Student an der Wiesbadener Musikakademie) arbeitet momentan an einer Bachelor-Arbeit zum Thema „Lied im 21. Jahrhundert“. Ich habe seine Fragen gerne beantwortet, einiges davon kann man im folgenden nachlesen:

Wie definieren Sie den Begriff „Lied“ für sich?

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Wenn Oper einem Roman gleicht, dann ist das Lied die Gattung Kurzgeschichte. Wo die Oper Leidenschaften und Emotionen über einen längeren Zeitraum aufrechterhält (was leider nur selten gelingt, da manch einer dabei einschläft), ist das Lied dagegen ein intensiver und manchmal auch flüchtiger poetischer Moment, den wir ganz direkt erleben können. Das Lied ist dabei wesentlich schneller, da es keine langen Einleitungen (z.B. Ouvertüren) braucht.

Welche Bedeutung hat das Lied heutzutage?

Da für viele Menschen der Begriff „Song“ oder „Lied“ so ziemlich für alles angewendet wird, was sich musikalisch ereignet (also auch für Symphonien oder Streichquartette) kann ich mir nicht vorstellen, dass der Begriff an sich schnell verschwinden wird. Was das Lied genau ist, wird jede Generation immer wieder neu definieren müssen, aber die Idee des Liedes als musikalische Artikulation eines Gedankens, einer Situation oder eines Lebensgefühls als gesungenes Gedicht mit einfacher instrumentaler Begleitung ist fast so alt wie die Musik selbst. Ich sehe keinen Grund, diese schöne Idee aufzugeben, und hoffe sehr, dass man auch noch in 500 Jahren Lieder schreiben wird.

Welche Rolle spielt die menschliche Stimme bei der Vertonung von Texten?

Die menschliche Stimme ist ein so essenzieller Teil der Musik, weil aus ihr alle Musik geboren wurde, bevor es überhaupt Instrumente gab. Der Gesang wird aus der Natur geboren (sonst gäbe es keine Vogel- oder Walgesänge) und ist quasi Teil unserer biologischen Konstitution. Dabei ist gerade die große Unverwechselbarkeit der menschlichen Stimme ihr besonderes Merkmal – wir erkennen unterschiedliche Sänger sofort vom Hören, unterschiedliche Instrumentalisten dagegen nur mit Fachwissen. Deswegen durchdringt gesangliches Denken alles – nicht umsonst schreibt man auch in instrumentaler Musik “cantabile“ hin, wenn es besonders schön klingen soll. Für mich ist die Stimme der persönliche Ausdruck eines Individuums, und daher unverzichtbar für die Gattung Lied, selbst wenn man keine Worte verwendet.

Warum schreiben Sie für Stimme?

Weil auch die Vielstimmigkeit Stimmen braucht. Und weil die Stimme das mit Abstand vielseitigste und subtilste Instrument ist, das es gibt, mit einem enorm hohen Grad von Differenzierung und wesentlich ungewöhnlicheren Klangeigenschaften als die meisten Instrumente. Die Art des Singens hat sich über die Jahrhunderte verändert, und immer wieder sind wir erstaunt, wie anders Stimmen in zum Beispiel uns fremder, exotischer Musik klingen können. Dieses unerschöpfliche Potenzial reizt mich, vor allem wenn es nicht immer nur belcanto sein muss. Daher interessiert mich auch klassikfremder Gesang, durchaus auch von Jazz-, Pop- oder Volksmusikern.

Welche Rolle spielt das Klavier?

Das Klavier ist mir als Pianist natürlich sehr vertraut und seine Stärken sind offensichtlich: der neutrale Klang und die leichtgängige Polyphonie, die auch komplexere Passagen bewältigen kann, sind die großen Stärken des Klaviers. Da all dies für nur einen Spieler möglich ist und fast überall Klaviere zu finden sind, ist das Klavier ein besonders geeigneter Begleiter eines klassisch-kammermusikalischen Liedes, daher das eigene Genre „Klavierlied“. Lieder können aber natürlich auch ganz andere Besetzungen haben, und letztlich stehen für mich zum Beispiel die Songs der Beatles gleichberechtigt neben Schubert, was ihre subtile Textbehandlung angeht. „Lieder“ sind für mich nicht an das Klavier gebunden, aber ich mag Klavierlieder besonders gerne.

Unter welchen Kriterien werden die Texte ausgewählt?

Es muss etwas im Kopf zu hören sein, wenn ich den Text lese. Ein für mich zur Vertonung geeigneter Text löst in mir sofort Melodien und Klänge aus, meistens formen diese dann auch die Basis der Vertonung. Wenn mir nichts spontan einfällt, lasse ich die Finger von dem Text. Diese Qualität hat sehr oft mit starken poetischen Formulierungen und einem Gefühl für Rhythmus der Autoren zu tun, aber ich habe auch schon Spaß daran gehabt, sehr sperrige Texte in Lieder zu verwandeln, zum Beispiel die Nutzungsbedingungen von „Google“.

Haben Sie Kontakt zu den Dichtern?

Da ich am liebsten lebendige AutorInnen vertone meistens schon. Wenn ich selbst neue Texte auswähle, sind das immer Texte von Lebenden. Meine Vertonungen von „alten“ Texten kamen meistens nur dann zustande, wenn sich das zum Beispiel ein Festival oder eine Konzertreihe speziell wünschte, aber die Hinwendung zur Gegenwart liegt mir mehr. Ich finde es seltsam, dass nach wie vor zeitgenössische Komponisten meistens uralte Texte vertonen, wogegen Komponisten wie Schubert oder Schumann auf jeden Fall ihre Zeitgenossen vertonten. Die hießen halt damals Goethe oder Heine.

Welchen Stellenwert hat der Text?

Der Text ist sehr wichtig für mich, wenn es denn einen Text gibt (man kann ja auch Lieder ohne Text schreiben). Da er eine eigene Bedeutungsebene hat, muss ich auf jeden Fall damit umgehen, daher liegt es mir zum Beispiel eher nicht, den Text zu verfremden oder in seine Einzelteile aufzulösen. Das sind für mich eher Avantgarde-Manierismen, die ich als veraltet empfinde. Wenn aber plötzlich alle Neue-Musik-Komponisten anfangen würden, den Text wieder so zu vertonen, dass man ihn versteht, hätte ich wahrscheinlich große Lust, das Gegenteil zu machen, das gebe ich gerne zu. Ich mag natürlich auch absurde oder surrealistische Texte, Lautmalerei. Nicht alles muss vordergründig Sinn ergeben, es gibt auch Inhalt im scheinbar Sinnlosen.

Was ist zuerst da, Text oder Musik?

Der Text, denn wenn der Text nicht die Quelle der Inspiration ist, wirkt er wie später darüber geklebt. Das wäre für mich dann nicht mehr authentisch. Es muss eine Einheit bilden.

Warum hört man neue Lieder so selten?

Weil unser klassischer Musikbetrieb ein verrottender Zombie ist. Es ist eigentlich eine Schande, denn natürlich sind die heutigen Lieder in keiner Weise uninteressanter als die alten.

Welchen Rat würden Sie jungen Liedsängern geben?

Mit anderen Gesangstechniken experimentieren – an den Hochschulen wird meistens nur 19. Jahrhundert gelehrt (siehe oben – das befördert den verrotteten Zombie), aber es wäre so viel anderes möglich. Einen weiten Horizont haben – Lieder aus allen Zeiten kennen, vom Mittelalter bis zur heutigen Zeit. Wie wurde gesungen, warum wurde gesungen, wann wurde gesungen? Sich mit allen Möglichkeiten der Stimme beschäftigen. Sich nicht nur auf das verlassen, was an Hochschulen gelehrt oder bei Gesangswettbewerben gefordert wird. Neugierig sein.

Wie sehen Sie die Zukunft der Gattung Lied?

Ich glaube immer an die Zukunft der Bäume, die ich heute pflanze. Sonst ist das Pflanzen sinnlos. Nicht alle Bäume überleben, aber aus dem Humus entstehen neue Bäume.

Moritz Eggert

3 Antworten

  1. Guntram Erbe sagt:

    @Moritz: Dein Interview habe ich zum Anlass genommen, die CD mit Neue Dichter Lieben, gesungen von Yaron Windmüller mit Dir am Klavier, nach langer Zeit wieder einmal anzuhören. Chapeau in jeder Beziehung! G.

  2. Guntram Erbe sagt:

    Schönberg „Das Verhältnis zum Text“ wäre zur Ergänzung eine bedeutender Lesestoff:
    https://archive.org/details/derblauereiter00kand/page/n55