Suno AI im Musikunterricht! Ein Konzept, um Lieder des 19. Jahrhunderts besser zu verstehen

In Deutschland malt man gerne den Teufel an die Wand, wenn es um Künstliche Intelligenz/Artificial Intelligence (KI/AI) geht. Gemäß dem deutschtreuen Motto »XY nimmt uns die Arbeitsplätze weg!« (Zu dem Thema habe ich bereits vor einem Jahr in dem Podcast des Kollegen Axel Brüggemann etwas gesagt.) Statt vielleicht erst einmal zu schauen, wie man denn bestimmte KI-Auswüchse im Bereich Kunst oder Bildung nutzen kann.

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Neu ist immer noch »Suno AI«, eine Musik-KI, die nach Vorgabe Songs ausspuckt. Dieses Projekt lässt sich dabei hervorragend für den (hierzulande in vielen Teilen dahindarbenden) Musikunterricht nutzbar machen! Und heute will ich vorstellen, wie man das angehen könnte.

Suno AI im Musikunterricht! Ein Konzept, um Lieder des 19. Jahrhunderts besser zu verstehen

Voraussetzungen
Die Schüler- oder Studierenden-Gruppe braucht einen Suno-Account (mit ausreichend Credit-Points, die man gegen ein paar Euro erwerben kann). Und zwar einen Bezahlaccount, da sonst nur wenige Song-Generierungs-Versuche pro Tag möglich sind. Der finanzielle Aufwand ist vergleichsweise also gering.

Wir brauchen ein paar Notebooks mit Internetanschluss. Etwa ein Rechner für vier Schüler.

Außerdem benötigen wir im besten Fall ein paar gute Bluetooth-Boxen, damit sich die Ergebnisse besser genießen lassen.

Am besten haben wir auch mehrere kleine Räume zur Verfügung, damit keine ablenkende Dauer-Kakophonie entsteht. Dann kann es eigentlich losgehen.

Vorher muss die Lehrkraft sich natürlich für einen Liederzyklus aus dem Bereich E-Musik entscheiden. Freilich bieten sich da die »großen« deutschsprachigen Liederzyklen an, die jeder Mensch eigentlich mal gehört haben sollte, also etwa Franz Schuberts »Winterreise« oder dessen »Schöne Müllerin«, aber natürlich auch beispielsweise Robert Schumanns »Dichterliebe« oder etwa das »Italienische Liederbuch« von Hugo Wolf. Von diesen Liederzyklen brauchen wir dann die Texte (weniger: die Noten; die erst später). Die gibt es völlig problemlos nach einem mehrsekündigen Google-Vorgang frei verfügbar im Netz (beispielsweise hier für die »Winterreise«, für »Die schöne Müllerin«, die »Dichterliebe« und das »Italienische Liederbuch«). Es geht also erst im zweiten Schritt auch um die Vertonungen. Zunächst sollen die Texte von Wilhelm Müller, Heinrich Heine und Paul Heyse einmal verstanden werden. Denn da, wo kein Textverständnis, da auch kein Kunstliedverstehen.

Zeitaufwand

Kommt drauf an, wieviele Liedtexte neu vertont werden sollen.

Ich würde das Ganze so angehen:

1.) Einführung in die Möglichkeiten von Suno AI: 30 Minuten.

2.) Erstes Experimentieren in der Gruppe: 30 Minuten.

3.) Konkrete Arbeit am Text(verständnis): 45 Minuten.

4.) Konkrete Arbeit mit Suno AI. Eingeben von Texten, Umstellen von Suno-Anweisungen, Finden der perfekten Version: 60 Minuten.

5.) Präsentation der Ergebnisse: pro Gruppe etwa 15 Minuten pro Song.

Lernziel

Das Unterrichtskonzept soll junge Menschen an Texte des 19. Jahrhunderts heranführen. Das bedeutet erstens: Textverständnis schaffen (natürlich mit Hilfe von Sekundärmaterial aus dem Netz und der Lehrkraft in indidivueller, diskursiver Zuwendung an die jeweilige Gruppe) und zweitens: einen Zoom ins Heute gestalten.

Vertonte Gedichte des 19. Jahrhunderts werden von jungen Menschen unserer Zeit vermutlich als »cringe« empfunden. Häufig sind diese Texte (selbst die herrlich ironisch gebrochenen von Heinrich Heine) extrem (eben: zeittypisch!) traditionell, was ein althergebrachtes Geschlechterkonzept angeht: Ein Mann begehrt beispielsweise eine Frau, weil die Frau vom Mann als äußerlich attraktiv wahrgenommen wird. Man(n) verliebt sich in die Frau. Diese sagt »nein«, worauf das ganze Gewicht der Welt auf der Seele des Mannes lastet.

Trotzdem führt kein Weg dran vorbei: Ein großer Teil von Kunstlied- und Opern-Texten beruht auf einem konservativen Geschlechterverhältnisbild. Dieses gilt es aber zu verstehen, um überhaupt »alte« Literatur empathisch nachvollziehen zu können. Gleichzeitig geht es im zweiten Schritt um die extrem vielen Ausdifferenzierungen der Themen »Liebe«, »Liebesunglück«, »Einsamkeit« und beispielsweise (siehe Schubert): »Wandern« und »Natur« (natürlich immer in enger Anbindung an die jeweilige Färbung des jeweiligen amourösen Unglückszustandes, etwa: Der Stein am Rande des Bächleins ist genauso einsam wie ich selbst).

In dem Suno-AI-Song-Prozess sollen Texte von »früher« ins »Heute« geführt werden. Was »sagt« also beispielsweise gleich der erste Part der von Wilhelm Müller 1821 bis 1822 gedichteten und von Franz Schubert 1827 legendär vertonten »Winterreise« – »Gute Nacht« – aus? Die Mutter sprach von Eh(e), die Hunden bellen den unglücklich Wandernden an; das Gefühl der Verlorenheit, der Fakt, dass Liebe meistens nicht ewig bleibt, sondern »wandert«: All diese Phänomene gilt es, zu verstehen, um sie letztendlich musikalisch-textlich neu umzusetzen. Und ja, das holt die Jugendliche ab. Weil sie mit den von ihnen selbst rezipierten Musikstilen arbeiten können (bevor sie dann freilich die Schubert-Version ganz anders und spannungsvoll erlebend kennenlernen können).

Vorbereitung und konkrete Arbeitsweise

Die Lehrkraft verteilt einzelne Liedtexte (es können auch die jeweils gruppenweise gleichen genommen werden) an die Gruppen. Diese Gruppen können sich jeweils nach Musikvorlieben bilden. Die Schüler, die also gerne Metal hören (egal ob Death Metal, Nu Metal oder was auch immer), können eine Gruppe bilden, die Gangsta-Deutsch-Rap-Schülerinnen sammeln sich zu einer eigenen Arbeitsgemeinschaft und so weiter. Es kann aber sein, dass im Diskussionsprozess herauskommt, dass eine ganz andere Stilrichtung als »angepeilt« viel besser zu dem neuen Text passt.

In gemeinsamer Arbeit wird nun versucht, den vorliegenden Text zunächst einmal in den Grundsätzen zu verstehen. Dabei kann die Lehrkraft helfen. Im zweiten Schritt geht es darum, dem Text Innewohnendes, dort subkutan Mitschwingendes zu entdecken: Sind beispielsweise die im Text genannten Phänomene (Wegweiser, Krähen, Hunde, Flüsse) tatsächlich »nur« das, was sie auf dem »Papier« zu sein scheinen? Wofür könnten sie noch stehen? Oder wie wäre es, wenn wir einen Wegweiser tatsächlich nur als das verstehen, was ein Wegweiser beim Wandern bedeutet? Was aber, wenn der schiefsteht/nicht mehr lesbar ist/uns vielleicht zu deutschealpenvereinsmäßig erscheint? Und wie könnte man im Rahmen einer Neuvertonung (sei es Trash Metal, Grunge oder Singer-Songwriter-Pop) diese hermeneutischen Tiefeninterpretationspotentiale musikalisch geradezu »aufdecken«?

Seitens eines Dozenten (beispielsweise meiner Wenigkeit oder anderer Musik-KI-Expertinnen) oder der eingearbeiteten Lehrkraft erfolgt nun eine Einführung in den Gebrauch von Suno AI. Wichtig dabei ist: Es geht nicht darum, mit Stichworten der KI alles selbst zu überlassen. Es geht um den »Custom Mode«, bei dem eigene Lyrics von der KI vertont werden.

Zunächst soll unter Gebrauch möglichst vieler Teile des Ursprungstextes ein eigener Refrain textlich erstellt werden. Leitend ist dabei die Frage: Wie können wir die Essenz des Liedes lustig/böse/emotional/tiefgründig im Rahmen eines neuen Refrains herausschälen? Wie können wir gemeinschaftlich einen sich gut reimenden oder sonstwie rhythmisch gut »aufgehenden« Songtext erstellen? Und was sagt vielleicht das musikalische Ergebnis von Suno über die Klischees aus, die mit der entsprechend gewählten Stilistik einhergehen? (Beispiel: Das obligatorische Gitarrensolo irgendwo in der Nähe der Bridge innerhalb eines Rocksongs).

Ich selbst habe das anhand von meiner kompletten »Suno-AI-Winterreise« (vor)gemacht. (Meine Version kann zum Vergleich herangezogen werden; muss aber nicht.)

Nachdem der neue Text (der häufig noch im Prozess angeglichen werden muss) erstellt worden ist, geht es nun konkret an die Musik …

Auf der Suno-Webseite aktivieren wir den »Custom Mode«. Dort geben wir bei »Lyrics« unseren Text (beispieslweise im Verbund mit den alten Lyrics von Wilhelm Müller) ein. Wichtig dabei ist (auch dazu sollte jede hochschulausgebildete Lehrkraft fähig sein …), zwischen Verse und Chorus (Refrain) zu unterscheiden. Konkret geht es dann darum, den bestmöglichen Song aus der KI herauszuholen. Und dabei muss natürlich strukturiert vorgegangen werden! (Denn jedes Lied hat mehr oder minder eine Struktur; auch das lässt sich pädagogisch im Rahmen dieser Lehreinheiten/dieses Workshops vermitteln; dabei ist es egal, ob es sich um ein gendernormatives Kunstlied des 19. Jahrhundert handelt oder um einen im Grunde ebenso gendernormativen Taylor-Swift-Song).

Wichtig: Suno AI ist selbst kreativ! Nicht alle Vorgaben werden immer so umgesetzt, wie man sie »programmiert« hat. Will man also etwa in einem Techno-Track ein Klarinettensolo einbinden, so wird die KI das sehr wahrscheinlich nicht umsetzen, da Klarinetten-Soli in Techno-Brettern selten sind. Will man allerdings einen Klezmer-Song erstellen, dann hat man gute Chancen, dass die Aufforderung ‚intro with clarinet‘ zum klarinettösen Ziel führt.

Grundstruktur-Befehle, die man bei »Lyrics« einträgt sind:

[Verse1], [Verse2], wichtig aber auch [Chorus] (man kann es auch mit [hook] versuchen).

Auf den [Chorus] wird das Lied also immer wieder abzielen. Zusätzlich kann man es mit [spoken words] (einer gesprochenen Einleitung) oder einem [outro] versuchen.

All das gibt man also in die »Lyrics«-Spalte ein. Bevor man auf »Create« drückt, muss allerdings die Spalte »Style of Music« noch gefüttert werden. Hier sollte man nur zu Beginn (zum Austesten) schlicht »Punk« oder »Rock« eingeben – dann aber immer weiter ausdifferenzieren, um nicht alles dem Zufall zu überlassen, sondern dahin zu kommen, wo man sich (ohne schon Komponistin oder Komponist zu sein) hingeträumt hat … So habe ich beispielsweise angesichts dieses dann durch KI entstandenen (schon fast an Copland erinnernden) Disney-Musical-Woman-Power-Songs Folgendes als »Quellcode« in die »Lyrics«-Spalte eingetragen:

[instrumental intro]

[Verse]
Fliegt der Schnee mir ins Gesicht/
Schütt ich ihn herrunter/
Wenn mein Herz im Busen spricht/
Sing’ ich hell und munter.

[Chorus]
Hell und Munter
Froh und Hell
Die Welt wird bunter
Fast schon grell
Ich bin mutig
Ich bin stark
Alles wirkt nicht mehr so karg!

[Verse]
Höre nicht, was es mir sagt,
Habe keine Ohren.
Fühle nicht, was es mir klagt,
Klagen ist für Thoren.

[Chorus]
Hell und Munter
Froh und Hell
Die Welt wird bunter
Fast schon grell
Ich bin mutig
Ich bin stark
Alles wirkt nicht mehr so karg!

[Bridge]
Lustig in die Welt hinein
Gegen Wind und Wetter!
Will kein Gott auf Erden sein,
Sind wir selber Götter.

[Chorus]
Hell und Munter
Froh und Hell
Die Welt wird bunter
Fast schon grell
Ich bin mutig
Ich bin stark
Alles wirkt nicht mehr so karg!

In die »Style of Music«-Spalte habe ich das hier geschrieben: ‚instrumental intro‘ princess disney musical ‚female voice‘ ‚intro with string orchestra‘. Da habe ich aber viel herumexperimentiert und ich rufe auf, mir das nachzutun!

Ich wollte also ein Disney-Musical-Powerfrauen-Song (textlich habe ich da klischeemäßig aber als Fan unter anderem fabriziert: »Ich bin mutig, ich bin stark!«)! Und ich wollte eine Streichorchestereinleitung. Letztlich ist daraus ein herrlich trashiger Musical-Song geworden, bei dem der »Mut!«-Aspekt des Textes von Wilhelm Müller ganz toll rabulistisch-aufrührerisch musikalisch zum Tragen kommt. Das hat allerdings mehr als eine Stunde bei mir gedauert. Viele Versuche waren dazu nötig.

Weitere Suno-AI-»Quellcode«-Empfehlungen gibt es beispielsweise hier hier und hier.

Häufig reicht die Standard-Dauer des von Suno erstellten Songs nicht aus, um zu einem richtigen Abschluss zu kommen (wobei man natürlich versuchen kann, mit dem Befehl [slow fade out] oder Ähnlichem zu arbeiten). Braucht man schlichtweg mehr Material aus dem einmal erstellten (und im Rahmen der Suno-Webseite nicht mehr zu bearbeitenden!) Song, so muss man auf der Zeile in der Library auf »Extend« klicken und die zwei neu erstellten Fortsetzungsteile mit einem schlichten (kostenfreien) Audio-Schnittprogramm (auch da könnte eine kurze Einführung nötig sein …) zusammenschneiden. Dazu muss man den ersten längeren Teil des Songs zunächst downloaden (auf die drei Punkte auf der jeweiligen Zeile klicken). (Zeitgleich werden übrigens sehr hübsche und den Liedinhalt bildlich oft wirklich witzig und spannend umsetzende »Plattencover« mitgestaltet, die Premium-Usern, wenn ich das richtig verstanden habe, ebenso gehören wie die zu einem Teil von KI gestalteten Songs!)

Das Ganze macht jedenfalls viel Spaß und fördert immer wieder erschreckend gute/schlechte, frappierende und textlich völlig unrhythmisch umgesetzte Lieder zutage! Natürlich darf es bei bloßem Trash nicht bleiben. Wir wollen einen guten Song (wenn auch von der AI-Stange)!

Präsentation und Auswertung der Ergebnisse
Am Ende des Arbeitsprozesses haben alle Gruppen mindestens ein für sie zufriedenstellendes Lied erstellt und können es den anderen Gruppen und der Lehrerin präsentieren. Dazu kann eine ironisch-liebevolle »Einführung« seitens des jeweils verantwortlichen Teams erfolgen, etwa in der Weise übertriebener, fremdwörtgeschmückter Rezensionen oder Wein-Verkostungs-Sessions.

Ich bin mir sicher, dass aus diesem Unterrichtskonzept hervorgehen wird, wie viel Spaß es macht, selber zu texten. Die Musik-KI hilft dabei den Schülerinnen und Schülern, eigene Texte musikalisch schnell »aufblühen« zu lassen. Außerdem ergeben sich Andockpunkte der Lebenswelt des 19. Jahrhunderts an die der heute lebenden Jugendlichen. Sind einzelne Schüler besonders motiviert und möglicherweise schon kompositorisch vorgeschult, dann können natürlich KI-Ergebnisse eigenkompositorisch erweitert und beispielsweise mit dem Schulorchester oder der Schul-Big-Band auf Schuljahresendveranstaltungen und so weiter aufgeführt werden.

Viel Spaß!

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Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.

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