Das Ende der Neuen Musik

Vielleicht wird man einmal sagen, dass das Ende der Neuen Musik im November 2022 eingeleitet wurde. Oder zumindest das Ende der „Neuen Musik“ (ich schreibe hier bewusst mit großem „N“), wie wir sie kennen.

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In einer viel publizierten „privaten“ Rede in Hamburg hat WDR-Intendant Tom Buhrow einen „runden Tisch“ für eine grundlegende Rundfunkreform gefordert. Hierbei sollen alle möglichen Modelle diskutiert werden, ohne dass es „Denkverbote“ geben soll. Thematisiert wurden unter anderem eine Reduktion des Rundfunkbeitrags, eine mögliche Zusammenlegung von ARD und ZDF und eine massive Reform (Konzentrierung) des „linearen“ Programmangebots, die auch die Existenz der Rundfunkorchester in Frage stellen würde („warum brauchen wir eigentlich mehrere?“).

Das Bemerkenswerte ist gar nicht die Rede selbst – Buhrow macht sich hier zum Sprecher für Gedanken, die ohnehin schon lange die Runde machen, und zwar leider sehr oft von der falschen Seite vorgetragen (wofür diverse interne Skandale der Öffentlich-Rechtlichen auch immer wieder Futter geben). Ich habe schon an anderer Stelle geschrieben, dass alles, was einen unabhängigen öffentlich-rechtlichen Rundfunk einschränkt oder diesen sogar abschafft, den bewusst gesellschaftlich spaltenden Kräften in die Hände spielt und unbedingt zu verhindern ist, wenn wir nicht morgen in einem ganz anderen Land aufwachen wollen.

Ohne Herrn Buhrow zu nahe treten zu wollen – einen gewissen Hauch des Populismus hat es schon, wenn ein Intendant des WDR sich vorauseilend die Kritik von außen zu eigen macht,denn das garantiert natürlich besondere Aufmerksamkeit. Und die Formulierung „keine Denkverbote“ kann aus der Perspektive der Orchester auch als – please pardon my french – „ihr seid gef****, aber wir sagen euch noch nicht genau wie“ bedeuten.

Aber Buhrow wird sicherlich nicht der letzte sein, der diese Ideen ausspricht. Und er bekommt viel Applaus, wie man sehen kann. Der Gedanke, z.B. die Rundfunkorchester massiv auf ein einziges zu reduzieren, macht schon länger hinter vorgehaltener Hand die Runde. Dass sich Buhrow erst letztes Jahr zum hauseigenen WDR-Orchester bekannt hat, heißt entweder, dass er auf dieses Orchester setzt, wenn es Hunger-Games-Style um das irgendwann einzig Überlebende geht, oder dass bei ihm ein dramatischer Paradigmenwechsel stattfand.

In Krisenzeiten wie im Moment werden sich Prozesse beschleunigen, die schon lange in Gang sind, so viel ist sicher. Und auch wenn der Aufschrei sicherlich groß wäre, wenn tatsächlich beschlossen würde, die öffentlich-rechtlichen Klangkörper größtenteils dicht zu machen, so muss man im Moment dennoch realistisch davon ausgehen, dass dies passieren könnte.

Dies hätte massive Konsequenzen für nicht nur die klassische Musikszene, sondern vor allem für die zeitgenössische Musik, die zu einem großen Teil von der Kooperation mit zum Beispiel den Rundfunkstationen abhängig ist. Was wäre die Neue Musik ohne Donaueschingen, ohne die Wittener Tage für Neuer Kammermusik, ohne musica viva, ohne das Eclat-Festival (um nur wenige Beispiele zu nennen)? All diese Veranstaltungen sind eng verbunden mit den Klangkörpern oder Förderkapazitäten unserer Sender und stünden bei einer Programmreform definitiv auf dem Spiel. Mit einem Schlag würde gut die Hälfte der Auftrags- und Aufführungsmöglichkeiten im Bereich zeitgenössischer Musik komplett verschwinden, mit dramatischen Auswirkungen auf die Lebensmodelle zahlreicher Komponistinnen und Komponisten. Es wäre sogar unsicher, ob es dann überhaupt noch eine „Szene“ gäbe, wie wir sie kennen, und ob dann Kulturreferate und Kulturmittel des Bundes und der Länder diese Lücke schließen können, ist angesichts der momentanen unsicheren Zeiten mehr als fraglich. Drumherum gäbe es einen Rattenschwanz von weiteren dramatischen Auswirkungen – mit dem Wegfall eines bedeutenden Teils attraktiver und niveauvoller Orchesterstellen müssten sich die Musikhochschulen fragen, wie viele Studierende sie eigentlich noch verantwortlich ausbilden können. Als weitere Konsequenz dieses Schrittes würden ganze Regionen Deutschlands kulturell verarmen, wenn die Rundfunkorchester sie nicht mehr regelmäßig bespielen. Ebenso würden zahllose Jugend-und Kinderprojekte würden wegfallen, was wiederum dramatische Konsequenzen beim Musikunterricht in den Schulen hätte, der dann noch mehr an Bedeutung verlieren würde. Nicht zuletzt würde Deutschland eine massive Einbuße an internationalem Ansehen als reichhaltigem Kulturland erleben – in unseren Rundfunkorchestern spielen Musikerinnen und Musiker aus aller Welt, die hohe Qualität ihres bisherigen Programmangebots beruht auch darauf, dass es sich einer internationalen Konkurrenz stellt und sich darin auch behaupten kann.

Man will sich das alles gar nicht ausmalen. Es wäre aber mehr als dumm, die Zeichen komplett zu ignorieren, wenn die „Denkverbote“ fallen.

Das Schlimmste dabei ist: die Orchester sind vermutlich die, die am wenigsten an der ganzen momentanen Misere schuld sind. Denn wenn jemand konkret den „Kulturauftrag“ erfüllt – also Musik ins Land und an die Leute bringt – dann sind sie es. Ob das alle Mitarbeiter:innen in den zum Teil über die Jahrzehnte immer mehr aufgeblasenen Verwaltungsapparaten der Sender tun, ist vermutlich mehr als fraglich. Oder anders gesagt: am Ende zahlen vielleicht die Orchester den Preis für die Massagesitze von Frau Schlesinger.

Nun haben „satte“ Zeiten leider immer die Tendenz einer beständigen Ausdehnung existierender Institutionen. Solange es Geld gibt, werden ständig neue Stellen geschaffen und Apparate vergrößert. Wo dies passiert häufen sich naturgemäß Pensionen und Ansprüche von immer mehr Mitarbeiter:innen, natürlich häuft sich auch Vetternwirtschaft und und Korruption. Mit immer größeren Apparaten wird immer mehr Programm produziert, das durch immer weniger Bedarf gedeckt ist. In mageren Zeiten ist dann leider genau dies der Grund dafür, dass das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird, denn dann wird genau das gekürzt, weswegen die ganzen Anstrengungen ursprünglich unternommen wurden: das qualitativ hochwertige Programm zieht nun den Kürzeren gegenüber dem „massentauglichen“ Programm, das schnell eine größtmögliche Menge von Hörern und Zuschauern erreichen will. Dieser Prozess läuft wellenförmig ab (es gab schon mehrere solcher Kürzungswellen in der Vergangenheit) und jedes Mal verliert das Gesamtprogramm ein bisschen Qualität, das dann wiederum als Grund für weitere Kürzungen hergenommen wird.

Wenn man all dies konsequent weiterdenkt, wird sich der öffentlich-rechtliche Rundfundk irgendwann selbst abschaffen, und zwar dann, wenn ein Tom Buhrow der Zukunft den letzten radikalen Schritt fordert und das letzte „Denkverbot“ fällt. Das kann nur dann verhindert werden, wenn wir uns mit großer Klarheit darauf besinnen, was ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk eigentlich will und wie ein „Kulturauftrag“ eigentlich aussehen soll.

Und um das zu erreichen, dürfen wir jetzt nicht die Köpfe in den Sand stecken. Wir dürfen nicht zaudern und zagen, sondern wir müssen aktiv in die Diskussion um die Zukunft der Rundfunkorchester einsteigen. Klar – wenn einen die Erfahrung irgendetwas lehrt, dann ist es, dass sich immer alles länger hinzieht, als man es erwartet. Wenn ich also hier vom „Ende der Neuen Musik“ spreche (es ist auch ein Ende der „klassischen Musik“, wie wir sie kennen, das sollte klar sein), so ist das nicht etwas, das von heute auf morgen geschehen wird. Aber es wird geschehen, wenn wir nicht jetzt einschreiten und aktiv an den Prozessen teilnehmen, die rund um uns in Gang sind. Hierzu gehört auch der Dialog mit den Teilen der Gesellschaft, die sich bisher nicht dafür interessiert haben, was ein Rundfunkorchester eigentlich macht. Aber dieser Dialog muss selbstbewusst sein und nicht von Rechtfertigungsorgien begleitet werden. Kultur darf sich nicht als „elitär“ begreifen, aber auch nicht ihr eigentliches Hauptmerkmal verraten, und dazu gehört, dass sie sich nicht wie ein Grashalm im Wind jedem schnellen Zeitgeschmack beugt.

Kurzum: wir müssen mit an den „runden Tisch“, den Buhrow fordert (und dass er ihn fordert, ist nicht falsch). Wir müssen die Zukunft aktiv mitgestalten und uns nicht darauf verlassen, dass alles irgendwie weiterläuft. Gibt es vielleicht Möglichkeiten, die gefährdeten Orchester anders zu finanzieren, ohne sie gleich in die Tonne zu kippen? Zu Staats- oder Landesorchestern umzuwandeln? Oder gar neue Orchester zu gründen, die die zur Verfügung stehenden Medien kreativ nutzen, zum Beispiel als „Internetorchester“?

Ideen gäbe es sicherlich viele, wir können nur hoffen, dass sie auf die richtigen Ohren treffen.

Moritz Eggert

 

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Eine Antwort

  1. Ich bin mir nicht sicher, ob Buhrow in der Position ist, das in die Weg zu leiten. Auf jeden Fall ist das ein Aufschlag, der sicher zuerst in der Politik Wellen schlagen wird.

    Wer ist dieses „Wir“, das an den runden Tisch will, Moritz? Dieses „Wir“ müsste meines Erachtens selbst erst einen „runden Tisch“ zusammensetzen. Theoretisch gibt es da einen, der nennt sich „Deutscher Musikrat“. Ob der in der Lage ist, diese Position auszufüllen?

    Ich finde sehr interessant, was gestern im MDR-Altpapier stand (https://www.mdr.de/altpapier/das-altpapier-2882.html):

    «Und Buhrow erklärt auch die generelle Schwierigkeit dahinter, die man in einem Wort als Föderalismus beschreiben könnte. Buhrow sagt: „Jede einzelne Staatskanzlei findet genau zwei Sender gut.“ Das sei das ZDF, in dessen Aufsichtsgremien man eine Vertreterin oder einen Vertreter entsende. Und es sei die eigene Rundfunkanstalt der ARD. „Jenseits dieser zwei Sender beginnt in der Phantasie das Reich unendlicher Einsparmöglichkeiten.“

    Das Problem zeigt sich schon in Details, deren ursprünglicher Gedanke es war, die Macht der Sender nach den Erfahrungen mit der Propaganda im Nationalsozialismus zu beschränken. Ein einziges bundesweites Klassikradio würde ja vielleicht genügen, aber „ein bundesweites Klassikradio verhindern nicht nur regionale Egoismen. Bundesweite Radiowellen sind der ARD schlicht verboten“, sagt Buhrow.»

    Ich kann das rechtlich nicht beurteilen, aber Tom B. wird das wohl schon wissen.