Sklaven der Quote

Sklaven der Quote

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In der Diskussion um den Stellenwert von Kultur im Öffentlich-Rechtlichen-Rundfunk taucht eine Frage ganz besonders häufig auf: warum sind Quoten für den ÖRR so wichtig? Warum schielt man ständig nach Zielgruppen, wenn es doch einen Kultur- und Bildungsauftrag gibt, für den Quoten doch eigentlich keine Rolle spielen sollten?

Dieselbe Frage stellt sich beim Betrieb unserer Theater- und Opernhäuser. Zuschauerzahlen werden als wichtiges Kriterium benutzt, um den Erfolg einer Intendanz zu definieren. Sinken sie, werden sofort Schuldige gesucht, was meistens in einem Intendantenwechsel resultiert. Nur selten bekommen Teams die Gelegenheit, über lange Zeit einen eigenen Stil und eine eigene Reputation aufzubauen (wie es einst z.B. Pina Bausch gelang), viele interessante Experimente und neue Ansätze werden also oft schon im Keim erstickt, bevor sie sich entfalten können. Denn nicht jeder neue Ansatz zündet innerhalb von einer Spielzeit sofort, nicht jedes Experiment begeistert sofort die Massen.

Ich habe oft über diesen seltsamen Widerspruch gerätselt und natürlich auch das Argument von der Unabhängigkeit von Quoten benutzt, da es ja beim ÖRR wie auch bei Theatern um Inhalte, nicht um Kommerz gehen sollte.

Aber die Lage ist leider komplexer.

Tatsächlich würde ich behaupten, dass die Art, wie die ÖRR wie auch die Theater momentan in unserer Gesellschaft betrieben werden, sie wahrscheinlich abhängiger von Quoten machen als zum Beispiel eine kommerzielle Unternehmung. Sie sind willfährigere Sklaven der Quote als es manche Privatsender sind.

Man muss verstehen, woran das liegt. Ein Privatsender z.B. ist natürlich direkt abhängig von Quoten, denn daran misst sich das Geld, das er für Werbeblöcke verlangen kann, was wiederum diesen Sender finanziert. Ein Privatsender agiert aber im Kapitalismus in Konkurrenz zu anderen Privatsendern, was einen gewissen Innovationsdruck erzeugt. Wer nämlich immer dasselbe Programm liefert, erzeugt irgendwann Eintönigkeit – die Zuschauer bleiben weg und die Quote sinkt. Daher ringen Privatsender stets um „neue Formate“ und neue Ideen. Sie suchen gezielt nach Neuem und verlassen sich nicht auf das Althergebrachte.

Es wird also einerseits Bewährtes präsentiert, das nachweislich gute Quoten erzeugt, man lässt aber auch Raum für neue Formate, denn nur wenn man etwas tatsächlich ausprobiert (also sendet), kann man erkennen, ob es Quotenpotenzial hat. Ständig ist man auf der Suche nach dem nächsten „Hit“, und der Druck, einen solchen „Hit“ zu finden, ist sehr groß. Und da niemand 100% voraussehen kann, was der nächste „Hit“ sein wird, probiert man sehr viel aus, um die Chancen zu erhöhen.

Daher geben Privatsender wie auch Streaming-Anbieter (die nicht unähnlich funktionieren im Ringen um Abonnenten) immer wieder Ideen eine Chance, die man als „riskant“ bezeichnen könnte, nach dem Motto: „schauen wir mal, ob es das nächste Breaking Bad/Game of Thrones etc. wird“ (alles Shows, die keineswegs von Anfang an einschlugen wie eine Bombe, sondern erst einmal ein Wagnis darstellten und Geduld erforderten). Stimmt die Quote, ist alles gut, stimmt sie nicht, ist der eine oder die andere Entscheidungsträgerin gewogen, dennoch erst einmal abzuwarten, ob es nicht vielleicht ein „sleeper hit“ wird. Anlaufschwierigkeiten sind also durchaus Teil einer solchen Begutachtung. Auch auf dem freien Markt muss sich manches Produkt erst einmal mühsam etablieren, bevor es sich plötzlich rasend verkauft. Man investiert und setzt bewusst auf mehrere Pferde, keineswegs erwartend, dass alle ankommen werden. Mut zum Risiko ist teil jedes Geschäfts und zeichnet Unternehmer aus.

Bei den ÖRR funktioniert das alles vollkommen anders. Wir haben es hier mit festangestellten Entscheidungsträgern zu tun, deren Karrieren hierarchisch und nicht dynamisch verlaufen und die sich nicht über möglichst große Werbeeinnahmen des Senders definieren, sondern eher über eine nebulös definierte „Zuschauerzufriedenheit“, die in endlosen Befragungen und Studien immer wieder neu untersucht wird, ohne dass je jemand je wirklich versteht, was die Zuschauer „wollen“ (obwohl es viele behaupten).

Die Zuschauerzufriedenheit spielt keine kommerzielle, aber dafür eine politische Rolle: sinkt sie zu sehr, sind die ohnehin stets gefährdeten Rundfunkgebühren sofort Thema Nummer 1, denn diese müssen immer wieder von politischen Entscheidungsträgern legitimiert werden, die dann auch wiedergewählt werden wollen. Dies übt einen nicht unwesentlichen Druck auf die ÖRR aus – von der Idee her sollten sie eigentlich unabhängig sein, aber der Legitimationsdruck schafft tatsächlich einen Rechtfertigungszwang, der bei einem privaten Sender keine Rolle spielt. Niemand fragt danach, wie viel die Büroeinrichtung des Intendanten bei einem Privatsender gekostet hat, denn man geht davon aus, dass sie ihr eigenes Geld verdienen müssen, und wissen, was sie tun (oder auch nicht). Geht es um die Büroeinrichtung bei Frau Schlesinger, ist es aber verständlicherweise ein öffentliches Thema.

Ähnlich ist es bei einem staatlichen oder städtischen Theater. Das Feuilleton und das Publikum diskutiert vor allem die Qualität der Produktionen, oder man begeistert sich einfach grundsätzlich für Theater oder Ballett und freut sich daran, dass man dieses Kulturangebot bekommt. Den Entscheidungsträgern für die Finanzierung dieser Institutionen geht es aber meistens gar nicht so sehr um die Inhalte oder wie hochwertig und nachhaltig diese sind, sondern eher darum, dass der Laden möglichst unauffällig läuft, es keine Skandale gibt und man keinen Ärger damit hat. Daher will man das Experiment oder das Wagnis eher nicht – es gibt keine Konkurrenz (die meisten Städte haben nur ein einziges Theater) und keinen Innovationsdruck, man kann keinen Blumentopf gewinnen und auch nichts daran verdienen, aber man möchte Ärger und Skandale vermeiden, das Publikum soll „zufrieden“ sein und natürlich in solchen Zahlen erscheinen, dass man die nächste Budgetdiskussion argumentativ gut absichern kann.

Die Karrieren der Intendante definieren sich also oft nicht darüber, wie künstlerisch wertvoll ihre Arbeit war, sondern wie viel Zufriedenheit beim Publikum sie erzeugten, und darüber, wie viel Glamour und Zauber sie an ihr Haus brachten für die Politikere, die sich bei den Premierenfeiern fotografieren lassen. Dabei schielt man stets auf das nächst „bessere“ Haus in der Karriereleiter, darf also nicht zu riskant agieren. Gleichzeitig muss man vor Ort möglichst alle Interessengruppen irgendwie zufriedenstellen, was oft Kompromisse erzeugt.

Wir sehen also, wo das Problem liegt – was eigentlich Innovation und Freiheit ermöglichen soll, endet in Unfreiheit und übergroßer Vorsicht, beides sehr schlechte Ausgangskriterien für große Kunst.

Und dennoch soll dieser Artikel keineswegs eine Argumentation für den „subventionslosen“ Markt in der Kultur sein, denn das wird besonders von den kulturfeindlichsten Gruppen immer wieder vehement gefordert. Trotz der genannten Probleme sind Innovation und Qualität in einem Kulturförderungs- oder ÖRR-Kontext sehr wohl möglich. Sie haben es nur unnötig schwer, und das ist leider systemimmanent. Es ist daher faszinierend zu sehen, wie ausgerechnet die von vielen Theaterleuten als künstlerisch rückständig empfundene New York Metropolitan Opera im Moment das Opernhaus mit der größten Hinwendung zu zeitgenössischem Repertoire ist, mehr als es in den letzten Jahrzehnten irgendeinem deutschen Stadt- oder Staatstheater gelungen ist. Kein Wunder – die Met ist mehr oder weniger eine kommerzielle Unternehmung mit einem nicht geringen Innovationsdruck. Daher versuchen sie so etwas einmal.

Ich bin sicher, dass es auch Intendante in Deutschland gibt, die das gerne tun würden. Nur müssten diese sich erst einmal endlos dafür rechtfertigen und ein unglaubliches Misstrauen überwinden, das in einem überalterten Publikum nur deswegen so gewachsen ist, weil man ihm das Neue so lange beharrlich vorenthalten hat, bis es zum Unbekannten geworden ist.

Ich glaube zutiefst an den „Bildungsauftrag“, und daran, dass wir mit der Förderung von sowohl Wissenschaft als auch den Künsten einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung der Demokratie leisten. Ein Staat, der seinen Bürgere eine freie und unzensierte Kultur schenkt und sie bildet, ermächtigt sein Volk, und gibt ihm einen Spielraum für eigene Gedanken. Diktaturen dagegen benutzen Kultur allein für Demagogie oder repräsentative Zwecke. Sie wollen einlullen und manipulieren, keineswegs ermächtigen.

Wie können wir dieses Dilemma lösen? Wir sehnen uns nach der Innovationskraft des freien Marktes, wollen aber eine Kunst, die frei von kommerziellen Zwängen ist. Was in der Wissenschaft selbstverständlich ist, nämlich der Wunsch nach irgendeiner Form von Erkenntnis als Selbstwert, ist in der Kultur zunehmend gefährdet. Je mehr sie sich den Quoten beugt, desto schwächer wird sie. Desto mehr das Programm der ÖRR eine Zielgruppe „anspricht“, desto uninteressanter ist es. Denn bei der Suche nach Erkenntnis (und damit auch Qualität des Inhalts) hilft es nicht, wenn ich immer ständig eine Zielgruppe befrage, ob ihr diese neue Erkenntnis auch Recht ist.

Erkenntnisse sind nicht dazu da, um uns zufrieden zu stellen oder ein Bedürfnis nach irgendetwas zu erfüllen. Erkenntnisse sind nicht dazu da, möglichst vielen Menschen zu gefallen. Gute Musik zum Beispiel erfüllt nicht nur die Funktion, so zu klingen, wie die Musik, die man bisher schon mag und kannte. Gute Musik muss auch das Wagnis eingehen können, ganz anders zu klingen.

Neue Entwicklungen in der Kunst kündigen sich weder durch große Reden noch durch einen sofortigen großen Publikumserfolg an. Sie entstehen in einem komplexen Diskurs des Alten mit dem Neuen. Nicht alles setzt sich durch, das ist Teil des Prozesses. Auch das Scheitern gehört dazu. Gute Kunst lullt nicht nur ein, sie fordert auch. Stellt Fragen, erfüllt keine Erwartungen.

Daher lässt sich große Kunst weder mit kommerziellen (Privatsender) noch ideellen (ÖRR) Quoten wirklich fassen, das müssen wir uns immer wieder bewusst machen. Die Aufgabe einer öffentlich geförderten Kunst sollte es daher sein, nicht nur Kunst wie es sie schon gibt zu erhalten, sondern auch neue Ideen zu unterstützen, ganz unabhängig davon, ob diese sich gleich in einer guten Quote niederschlagen.

Damit will ich nicht sagen, dass Quoten oder ein Interesse für das Publikum grundsätzlich falsch sind. Es sollte uns sehr wohl interessieren, wen wir wie erreichen. Was mir aber fehlt ist eine dezidierte Hinwendung zu Kriterien jenseits einer Quote. Diese brauchen mehr Platz, als sie bisher bekommen.

Stellen wir uns z.B. einen idealen ÖRR vor, der sowohl Menschen erreicht und diesen auch eine Dienstleistung gibt, der aber gleichzeitig auch bewusst Spielwiesen schafft, in denen Kriterien der Quote keine Rolle spielen, sondern allein Kriterien der Qualität.

„Qualität“ ist ein schwieriger Begriff, da die Empfindung von Qualität in der Kunst bis zu einem gewissen Grad ein subjektives Empfinden ist. In einer pluralistischen Gesellschaft ist es aber sehr wohl möglich, Auswahlinstanzen so zu installieren, dass nicht „ein Geschmack“ dominiert, sondern die Auswahlkriterien immer wieder neu durchlässig sind. Vorstellbar sind zum Beispiel externe und stets wechselnde Jurys von Kunstbegeisterten und Kennern, die immer wieder eine neue Auswahl treffen für Programminhalte, die fern von Quoten entstehen und bei denen alleine eine künstlerische Qualität eine Rolle spielt. Ich bin ziemlich sicher, dass ein solches System bei den ÖRR Schätze und Überraschungen zutage bringen würde, die dann tatsächlich auch mal „Quote“ bringen oder ein größeres Publikum erreichen können.

Nennen wir dieses fiktive Ressort doch einfach ein „Entdeckungsressort“, und schützen dieses Ressort davor, sich durch irgendetwas rechtfertigen zu müssen, außer dem eigenen hohen Anspruch.

Das, was man auf diese Weise finden würde, hätte eine ganz andere Qualität als das, was am Reißbrett für das „Zielpublikum“ entsteht, da bin ich ganz sicher. Wir sollten den Mut dazu aufbringen.

 

Moritz Eggert

Anmerkung: Ich benutze in diesem Artikel experimentell eine von mir hier vorgeschlagene alternative Form von genderneutraler Schreibweise, die deutlich platzsparender ist als die gängigen Sternchen und Doppelpünktchen. Ich unterstütze genderneutrale Schreibweisen, finde sie nur manchmal ziemlich „clunky“ und sperrig. Es ist meine ausdrückliche Hoffnung, das sich irgendwann sprachlich elegante Neuerfindungen durchsetzen.
Wer meine Vorschläge nicht aushält, kann gerne bei mir eine Version mit den gewohnten Doppelpunktkonstruktionen bekommen, die ist nur einfach dann viel länger…

aus „Die letzte Verschwörung“, Operette von Moritz Eggert, UA 25.3. in Wien (Volksoper)

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Eine Antwort

  1. Jochen sagt:

    Noten lesen ist auch sehr schwer;)

    Jochen