Cooles, zu Vieles, Dekolonisiertes – Donaueschinger Musiktage 2022

Auf den Musiktagen 2022 in Donaueschingen

Donaueschingen 2022. War diese Stadt 2000 für alle und für mich 2021 krankheitsbedingt nur ein Traumbild seit 2019, so wurde es dieses Jahr Realität. Am gewöhnungsbedürftigsten die Momente, wo man tatsächlich Personen nicht nur mehr via Zoom, Instagram oder Facebook vor sich hat, sondern in echter Gestalt und Größe. Manchmal irritierend, denn social media Einzelbilder vermitteln oft die Idee, alle Menschen seien gleichartig in ihrer Körperhöhe. Für mich begannen dies Musiktage 2022 mit der Verleihung der FEM-Nadel an „jugend komponiert“ im Art.Plus Museum. Philipp Vandré und der Jeunesses Musicales Präsident Johannes Freyer bedankten sich nach der klaren, erhellenden und die Leistungen des Projektes herausarbeitenden Rede von Orm Finnendahl, der nach vielen Jahren dadurch auch einmal wieder nach Donaueschingen kam. Kurz danach das erste Konzert mit den Stuttgarter Vokalsolisten, eingeleitet durch die Stellvertreterin für Lydia Rilling als offizielle neue Leitung der Musiktage, Eva Maria Müller. Kuratiert ist das Programm allerdings noch durch Björn Gottstein worden. So werden wir 2023 zum ersten Mal die Akzente der neuen weiblichen Leitung sehen, nicht nur ihre Begrüßungen hören, was dennoch schon einmal gut tat, endlich einmal die Leitung in Frauenhand zu erleben.

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Im Konzert der Vocalsolisten mit dem Bassklarinettisten Gareth Davis gab es Werke von Iris ter Schiphorst, Nikolaus Brass und Evis Sammoutis zur Uraufführung, „die allesamt Phänomene beleuchten, mit denen Parkinson-Patienten konfrontiert sind. Es geht um Kontrolle und Kontrollverlust, um Vergänglichkeit und Widerstand und die erstaunliche Fähigkeit des Menschen, sich neuen Situationen anzupassen“, so die Ankündigung. Also ein Statement gegen gesundheitliche Diskriminierung und Ageism. „heliotrop – Sequenzen für Bassklarinette“, an dieser Gareth Davis, und Vokalsextett von Niolaus Brass war fast schon eine spektralistische Musik für das Vokalensemble, mit leuchtenden Momenten und in mancher Sekunde des auf die Backen- und Brustklopfen der Musiker von elysischen Frohsinn wie man ihn mit älteren oder von Krankheit gezeichneten Menschen eben bei allem Leiden auch erleben kann. „Ordnung und Struktur“ von Iris ter Schiphorst verschwand etwas hinter den Lautsprecher-Boxen vor dem hier solistisch auftretenden Andreas Fischer, der auch Gongs zu den Zuspielungen spielte, die man kaum hörte im Kontrast zu eben diesen Zuspielungen, zusammen wieder mit Davis . Ohne Fischer dann auch mit Davis und den fünf anderen Vocalsolisten zuletzt „In Darkness“ von Eva Sammoutis als John Dowland-Dekonstruktion. Letztlich nicht wichtig, ob dekonstruiert oder nicht, eine stimmungsvolle Bogenform, nie skurril, oft erfrischend.

Dann ging es schnell in die Baarsporthalle zum ersten Orchesterkonzert des SWR-Symphonieorchesters mit Pascal Rophé als Dirigenten. Clara Ianottas Orchesterwerk fiel aus, ihre Posaunen-Solisten, besser Thormbones-Solisten, spielten dafür „Zero analog voice“, was wohl der Solistenpart des geplanten Werkes ohne Orchester war. Der Bogen von knatternden tiefen Frequenztönen der elektronisch abgenommenen Posaunen hin zu Geräuschen von Metall-Flex-Geräten begann etwas zäh, dafür umso gigantischer lautstark am Ende und vielleicht aufgrund der Gradlinigkeit, Kürze und wahnsinnigen Zirkularatmungsleistung an Sportitivität unübertroffen das Werk mit der klarsten Zustimmung. Es folgte Martin Schüttlers Uraufführung „I wd leave leaf & dance“ für Orchester und Live-Elektronik. Im Programmheft wurde dieses Werk mit viel Worten angekündigt, die sich mit Dekolonisierung des Komponierens und Musikprodizierens befassen. Oder besser mit der Protokollierung eines Prozesses der Befreiung von sich auch selbst vorgegebenen Erwartungen beim schöpferischen Schreiben durch den Komponisten selbst. Ehrlich gemeint. Doch es kommt selbst eben doch auch „old-white-man“-artig in Duktus und Länge wie Fachbegrifflichkeit im Ausdruck herüber wie die Schriften aus „good old“ Darmstadt der 70er bis 90er Jahre. Programmhefttexte sich selbst dekolonisierender Komponisten sollten nochmals ebenfalls dekolonisiert werden.

Heraus kam dabei ein klanglich sehr anspruchsvolles Werk, das den Orchesterklang mit Samplings und ähnlichen elektronischen Verfremdungen verquickte, so dass sich die Personalität des traditionellen Klangbildes fast aufhob. Zum Tanzen kam es aufgrund des Dauer-Moderatos allerdings nicht wie im Titel und Text suggeriert. Ich dachte sogar eher an Debussy, nicht in Sound und Material, sondern im Zwiefachen der Erscheinung jeden Klanges, der fast immer als ein A und dann sofort als sein nur leicht variiertes A’ erschien, durch Harmonik oder Elektronik oder Instrumentation je verändertt, in chromatischen Bögen nach oben und unten, in Dauer und Geschwindigkeit je anders ausgerichtet, am krassesten die Sampleschleuder im letzten Drittel. Man erwartete durchaus Samples oder deutliche Reminiszenzen an andere Musikgenres. Das war aber so sublimiert, dass es vielleicht eine Materialfrage war, aber auf atomarer Hörerfahrung, also eigentlich im Erleben keine Rolle spielte. Daher kann man vielleicht diese Referenzen an andere Geners auch weglassen, wenn dann doch Musik eher in Tradition von Spahlinger „passage/paysage“ dabei entsteht, wenn auch sehr schön in dieser Hinsicht. Es bleibt Neue Musik trotz aller Dissoziierungsansätze.

Am Radio, sonntags war ich wieder daheim, hörte ich Hannah Kendalls „shouting forever into the reciever“ mit dem Ensemble Modern unter Vimbayi Kaziboni. Mit der Mundharmonikaklangfläche in der Mitte und den Spieluhren dazu mit Zitaten wie Beethovens wundersam geleierten „Ode an die Freude“ und ähnlichen „Klassikern“ aus der Epoche, als zeitgleich Kendalls Vorfahren auf Plantagen litten und für Weisse Geld erwirtschafteten, konnte man viel eindrücklicher das Dekolonisieren erleben, das andere zwar ankündigen, hier aber richtig ehrlich und richtig betreffend und betroffen durchschlägt. Georg Friedrich Haas’ „weiter und weiter und weiter…“ mit abgehendem Ensemble am Ende als Referenz an Haydns Abschiedssymphonie und dem Hinweis, immer im Leben zu gehen statt zu Verharren, wenn es Zeit dafür ist, quirlte fantastisch aus dem langsamen Abfolgen formaler Richtungsmomenten hinüber in irrsinniges Flirren und Auflösen, mal wieder eine eindrucksvolle Komposition wie ein Teilchenplasma in hunderten mikrotonalen Beleuchtungen ewiger Dominantseptgelegenheiten. Die Frage an die Programmmacher:innen wäre hier dennoch, inwiefern man doch auch mal ganz andere Namen auch noch zum Erklingen bringen könnte, die noch nie hier waren, als mehrfach, wenn auch sehr, sehr wichtige und sehr gute Komponist:innen öfters zu bringen wie auch in Teilen im Schlusskonzert, auch wenn ich riesigen Respekt vor deren Musik habe, aber leiernde Schallplatten-Werke oder schöne Violinkonzerte hat man aus den Federn der Betreffenden schon sehr oft prominentest vernommen.

Agata Zubels „Outside the Realm of Time“ war leider weniger als behauptet eine Musik mit Hologramm-Sängerin. In 3D in einem Wolkendunst erlebte man keine Projektion, um wieder zum ersten Konzert zurückzukehren. Sondern hinter dem Orchester hing eine lieblos an den Rändern ausrundende statt gerade enge Leinwand, worauf ein und dieselbe Sängerin und Komponistin in beeindruckend vielen Kostümen und Gesangsstilen projiziert wurde. Aber schon am Anfang, als sie Loop-Verzerrung eines hängenden Videos schauspielerte statt dies visuell elektronisch darzustellen, zerstäubte jegliches Hologrammatisches. Simon Steen-Andersen und andere wie Beil und Prins haben in den letzten 10 Jahren da vor Ort extrem überzeugenderes gezeigt. Thomas Meadowcrofts „Forever Turnaround“ war zwar smoother und kürzer als seine letzte Hollywood- und Musical-Sound-Provokation Jahre zuvor. Aber richtig provovierend war es nicht. Es gab nicht einmal richtige Buhs, die Leute gingen einfach. Das war natürlich nur dem Kontext und den Neue Musik Erwartungen von Donaueschingen als Topos der Neuen Musik „leur meme“ geschuldet. Hätte man die Stühle beiseite geschoben, hätte man schön Schmusedisko spielen können. Fiel aber aufgrund des Ortes aus. Danach ging ich ins Bett, loop- und wiederholungsscheu in Sachen Bernhard Lang. Denn Schlaf ist wichtiger als Musik und im Bett bequemer als im Konzertsaal.

Am Samstag ging es mit dem Ensemble Ascolta los. Christian Winther Christensens „Children’s Songs“ waren eine schöne erweiterte Spieltechniken-Instrumentierung von Kinderliedern. Der sonst dekonstruierende Ansatz mit Lego-Haus-Bauen war zwar gut gemeint, doch im Jahre xxx nach Kreidler auch überflüssig. Dennoch sehr geliebt. „artemis“ von Rozalie Hirs dagegen zeigte, wie dröge geführte Singstimme syllabisch im spektralen Umfeld trotz programmierter grün-rot Lichtshow wirkt. Den Damen im Saal gefiel es vielleicht. Den Herren mit Imitations-Erfahrungen aus dem Kontrapunkt-Unterricht ödete das Oberton-Imitieren von Cello und Posaune irgendwann buhreif ziemlich an. Ein Grund, dezidiert im Programmheft angekündigte Spektralmusik demnächst zu meiden.

Das Ensemble Kwadrofonik machte Spass mit Malte Giesens „stock footage piece 2: type beats“. Rap-Background-Kaufmusik in Neue Musik Virtuosität und Elektronik übersetzt, konzis durchgeformt und im richtigen Moment durchbrochen wie beendet. Erfrischend.

Artur Zagajewski bezog sich in „Danses Polonaises“ auf die polnischen Anti-LGBT-Demos und Gewaltakte. Mit einer Musik, die aber ähnlich Gewaltakt-artig aufwartete, auch wenn sie coolen Dancefloor verbreitete. Doch gerade die schwule Clubkultur steht ja auch für Easy Listening und alles, was eben nicht Gewalt der Heterowelt ist. Dennoch wollte man hier abfeiern – kann man das nächste Mal mal Stühle wegschieben und einfach auch Dancen erlauben? Sasha J. Blondeau und Nigel Osborne waren dann leider nicht mehr der Rede wert. Zu viel Worte, zu lang, zu bedeutungsschwanger, zu schlechtes gesprochenes Sängerinnenenglisch. Gähn.

Dann durch die Schwäbsiche Alb und das Donautal wieder heimgefahren.

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