Nicht müssen, sondern können – eine Petition für Ö1 und eine Lobrede

Nicht müssen, sondern können – eine Petition und eine Lobrede

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Wieder einmal muss ich auf eine Petition hinweisen, die diesmal zwar unser liebes Nachbarland Österreich betrifft, aber dennoch thematisch uns alle angeht. Wieder einmal geht es um Kürzungen die direkt die Musikkultur betreffen, diesmal um „mindestens 575 Stunden zeitgenössischen, größtenteils österreichischen Musikschaffens, die aus dem öffentlichen Raum verschwinden sollen.“ Das ORF Radio schickt sich an, „Inhalte und ganze Sendereihen aus dem Programm von Ö1 zu streichen oder bis zur Unkenntlichkeit zu kürzen: ZEIT-TON, die Ö1 JAZZ Nacht, die Lange Nacht der Neuen Musik, Kunstradio und weitere Formate sind davon betroffen.“

Und weiter heißt es: „Es droht ein Kahlschlag mit einem nie dagewesenen Schaden für die heimische Musikszene und der damit verbundenen wirtschaftlichen Wertschöpfungskette, welche Komponist:innen, Verlage, Labels, Festivals, Konzerthäuser, Jazzclubs, Interpret:innen, Ensembles, Orchester aber auch Universitäten und Konservatorien sowie freischaffende Künstler:innen gleichermaßen betrifft.“.

Natürlich kennen wir diese Diskussion in Deutschland auch, sie kehrt so regelmäßig wieder wie das gefühlte Oberwasser der Populisten und rechten Schranzen, das bei jeder wie auch immer gearteten Krise entsteht. Der Öffentlich-rechtliche Rundfunk (ÖRR) ist hierbei ein beliebter Prügelknabe, denn man muss ja schluck dafür etwas zahlen, nämlich Rundfunkgebühr! Skandal!

Im Phrasenwunderland der ÖRR-Feinde finden sich immer wieder dieselben Argumente, warum man ihn nicht braucht. Die AfD würde ihn daher auch am liebsten komplett abschaffen. Dass es sich beim ÖRR um einen „Staatsfunk“ handle, der im Dienst einer „bösen Diktatur“ (angeblich unserer Regierung) handelt, ist dabei ein wiederkehrendes Mantra. In diesem Weltbild dient der ÖRR angeblich auch bösen Corona-Agenden und bestimmt auch noch irgendeiner „jüdischen Weltverschwörung“. Unsere Kinder werden mit „LGBT-Themen indoktriniert“ und natürlich sind auch sämtliche Mitarbeiter:innen des ÖRR auf der Gehaltliste irgendwelcher Weltverschwörungen und des „Great Reset“.

Ach, wie golden waren die Zeiten, als mutige Programmmacher:innen nicht ständig nach Quote produzieren mussten und die Möglichkeiten des ÖRR voll ausgeschöpft wurden. Als man Ihnen nicht misstraute, als sie respektiert wurden. Aber diese Tage sind vorbei, inzwischen befindet sich der ÖRR in einer ständigen Rechtfertigungsspirale, endlos referiert man über „Zielgruppen“ oder „Programmangebote“, als müsse man die Regale leerverkaufen. Und wenn dann noch Korruptionsskandale wie beim RBB hinzukommen (die natürlich zu Recht verfolgt werden müssen), wird das Geschrei nach Abschaffung doppelt so laut.

Korruptionsskandale und Vetternwirtschaft gibt es übrigens auch in Krankenhäusern, bisher hat aber noch niemand argumentiert, dass man alle Krankenhäuser deswegen abschaffen sollte. Und genauso gilt es, dem ÖRR natürlich nicht unkritisch gegenüber zu sein, aber gerade jetzt alles dafür zu tun, ihn als Institution grundsätzlich zu erhalten. Denn die Feinde der Demokratie wissen leider sehr genau, warum sie keinen freien Rundfunk wollen: in den Diktaturen und Kleptokratien dieser Welt gibt es eines ganz sicher nicht, nämlich freie öffentliche Sender, in denen Meinungsvielfalt herrscht.

Diese Meinungsvielfalt ist auch in Demokratien gefährdet, die keine ÖRR haben. Einer der Gründe, warum die USA zunehmend gespalten sind und sich immer größere Abgründe zwischen Demokraten und Republikanern auftun (was ihre politische Bildung angeht), ist, dass es in den USA keinen ÖRR gibt. In einem kommerziellen Umfeld braucht jeder Sender ein klares Profil, um eine bestimmte Zielgruppe zu erreichen, da genau diese Zielgruppe die Quote bringt. Verwirrt man diese Zielgruppe mit zu vielen unterschiedlichen Meinungen, verliert man sie. Das ist der Grund, warum Fox-News immer fanatisch Pro-Trump und CNN immer fanatisch Contra-Trump ist. Das hat aber den Effekt, dass das Ringen um Marktanteile Menschen voneinander entfremdet.

Interessant ist der Vergleich zu England, das kulturell den USA sehr ähnlich ist, aber mit der BBC eine ähnliche Institution wie bei uns ARD und ZDF besitzt. Wie ganz Europa hat auch England mit Populisten zu kämpfen, aber dass die BBC hier eine ausgleichende Funktion hatte und hat, ist unübersehbar. Und natürlich wollen genau die Populisten des Landes die BBC abschaffen, sie wissen ziemlich genau, warum.

Aber zurück nach Österreich – Was steht jetzt bei der Reform von Ö1 auf dem Spiel? Ein Schwund an Vielfalt. Klar, die betroffenen Jazz-und Neue Musik-Sendungen sind nicht für jedermann, aber das müssen sie gar nicht sein. Denn der ÖRR kann genau das, was ein kommerzieller Sender nicht kann: er kann nicht nur Vielfalt, er MUSS Vielfalt. Denn das ist seine eigentliche Stärke.

Wir schauen alle gerne Serien und Filme auf zum Beispiel Netflix, aber sicherlich ist es jedem schon einmal so gegangen, dass sich eine gewisse Müdigkeit breit macht. Alles ist irgendwie sehr ähnlich: Die „True-Crime“-Serien, die Krimis, die Zombieserien…alles zielt immer auf sehr einfache und sich immer wiederholende Spannungsreize. Ja, bei den guten Streaminganbietern ist das Programm hochwertig und professionell produziert. Auch ich schaue diese Serien gerne und lasse mich zur Unterhaltung darauf ein. Aber irgendwann beginnen sich eben die vielen Serien und Filme, die da im Angebot sind, auch zu ähneln: sie folgen immer ähnlichen narrativen Prinzipien der für die Vermarktung nötigen Suchterzeugung bei den „Usern“. Irgendwann ähneln sich auch die genialsten „Cliffhanger“ und die beste Populärkultur stößt irgendwann an ihre Grenzen, denn sie darf nie „zu speziell“ oder zu abseitig werden und muss immer exakt die anvisierte Zielgruppe ansprechen. Aber das wirklich Kreative und Neue braucht das Abseitige und vielleicht sogar Verrückte, um aufzublühen. Es kann sich nicht immer an etablierten Vorgaben abarbeiten

Qualitativ hochwertige Serien wie z.B. „Stranger Things“ oder „Game of Thrones“ sind die Schlachtrösser solcher Anbieter, mit denen sie ihr Gesamtprogramm finanzieren müssen. Aber es muss für einen ständigen neuen Nachschub von solchen „Schlachtrössern“ gesorgt werden, daher sieht man nach dem Erfolg einer solchen Serie dutzende weitere Serien, die das Erfolgsrezept zu imitieren versuchen. Netflix kann es sich – solange es erfolgreich ist – leisten, hie und da auch mal ein kleines Experiment zu wagen. Aber auch diese Filme und Serien werden sicher bestimmten Mustern folgen, die der Mainstream des filmischen Erzählungsrepertoires vorgibt, ansonsten kommen sie nie aus der Planungsphase heraus. Jeder, der sich irgendwann einmal für cineastische Kultur interessiert hat, weiß natürlich, dass es unendlich viele andere Arten gibt, bewegte Bilder künstlerisch zu verwenden. Hätte es von Anfang des Fernsehens an nur Netflix gegeben, hätten wir zum Beispiel keinen Rainer Werner Fassbinder gehabt, dessen Karriere maßgeblich durch das Fernsehen ermöglicht wurde. Wir hätten keine Augsburger Puppenkiste, keine „Heimat“ von Edgar Reitz, kein Literarisches Quartett und keinen Loriot. Und ja, damit habe ich jetzt nur sehr populäre Beispiele gegeben, aber sie stehen repräsentativ für die unendlichen Möglichkeiten des ÖRR, die hier von genialen Machern ausgenutzt wurden. Und nur dort ausgenutzt werden konnten.

Ständig wird darüber diskutiert, was der ÖRR soll oder muss, aber nie darüber, was er kann. Und der ÖRR kann eben sehr viel, was andere nicht können. Er kann seine Kraft aus dem gewinnen, was er nicht muss, und sorgt für eine Vielfalt, die es anderswo nicht gibt. Diese Vielfalt ist seine Stärke in einer Welt, in der zunehmend alles den Götzen Clicks, Cookies und Abonnenten geopfert wird. Der Freiraum, den die auf dem Spiel stehenden Ö1-Sendungen darstellen, ist ein Kulturgut, das ebenso geschützt werden muss wie unsere Theater, Museen, Opernhäuser und Bildungseinrichtungen.

Den meisten Menschen ist nicht klar, dass der Großteil dessen, was wir „Kultur“ nennen, in vollkommener Freiheit entstanden ist. Die Dialoge von Sokrates und Platon folgten keiner Quote, der „Urfaust“ Goethes hatte keinerlei Auftraggeber und die „Dichterlieben“ Schumanns waren nicht auf eine „jugendliche Zielgruppe“ zugeschneidert.

Es ist natürlich illusorisch zu glauben, dass Kunst vollkommen gesellschaftlich autark sein könnte und nur für sich selbst entsteht. Aber die Mischung aus Notwendigkeit und Freiheit macht den Unterschied. Natürlich kann kommerziell erfolgreiche Kunst auch hochoriginell und bedeutend sein. Aber richtig gesund ist ein Kulturleben nur dann, wenn es beides gibt: eine Kunst, die direkt auf den Publikumsgeschmack reagiert und eine Kunst, die vollkommen frei davon ist. Denn nur dann entfaltet Kreativität ihr eigentliches Potenzial, wenn sie sowohl funktional als auch frei von Zweck sein kann. Beide Welten befruchten sich. So nimmt die populäre Kunst immer wieder Bezug auf Erzeugnisse der „Hochkultur“ (was eigentlich „freie Kultur“ bedeutet) und umgekehrt.

Jede Kürzung oder Abschaffung von ÖRR bedeutet einen Verlust der Vielfalt, nicht nur in der Musik und der Kultur, sondern auch der Meinung und der Bildung. Ja, der „Bildungsauftrag“ ist eine gute Sache, gerade in diesen Zeiten. Kultur und Bildung gehören unzertrennlich zusammen. Wo Kultur gestrichen wird, schwindet auch Bildung.

In diesem Sinne: bitte unterschreibt die Petition zum Erhalt des österreichischen Musiklebens. Denn die Reichhaltigkeit von Kultur ist eine der wichtigsten Säulen unserer Demokratie.

Und die, die an dieser Säule beständig nagen, haben genau diese Demokratie als eigentliches Ziel.

 

Moritz Eggert

 

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