Poesie und Schwanengesänge – Jake Bellissimo und sein neues Album „Swansongs“
Manchmal kann ich der Versuchung nicht widerstehen, in diesem Blog kleine musikalische Empfehlungen auszusprechen. Und wenn ich dies hier nun (was selten genug ist) tue, muss ich auch gleich offenlegen, dass der von mir empfohlene Künstler – der junge amerikanische Musiker und Komponist Jake Bellissimo – mein Student war und auf gewisse Weise auch noch ist, da er mich bis heute immer wieder um meinen musikalischen Rat fragt. Aus Gründen der Fairness möchte ich auch hervorheben, dass ich ganz viele tolle Studentinnen und Studenten habe, und ich hier Jake daher nicht besonders herausstellen oder promoten möchte, denn das hat er nicht im geringsten nötig.
Aber: wenn ihr einen Computer habt (was – ich nehme es an – der Fall sein wird), würde ich mich sehr freuen, wenn ihr auf diese Adresse geht (Bandcamp) und das Album „Swansongs“ von Jake mit einer frei zu wählenden Summe unterstützt und erwerbt. Ihr werdet es – das verspreche ich – nicht bereuen.
Es ist im Moment selten genug, dass unser Alltag kleine, besondere Trosterlebnisse kennt – Streaming-Events sind keine Konzerte und auch das wohlfeilste Internet – „Spektakel“ kann uns wahrscheinlich nicht das geben, was wir im Moment ersehnen, diese bestimmte Form von Zärtlichkeit und Innigkeit, wie sie vielleicht einem Schubert-Lied oder eben auch einem wirklich guten Popsong gelingt (dass Schubert und Pop eng verwandt sind, weiß ohnehin jede/r mit ein bisschen musikalischem Gespür).
Wir alle erinnern uns daran, wie wir vielleicht zum ersten Mal das „Weiße Album“ der Beatles gehört haben, und wie uns z.B. diese Musik zu einem bestimmten Zeitpunkt unseres Lebens zu trösten, erstaunen und überwältigen vermochte. Wer dies so wie ich erlebt hat, wird es nie wieder vergessen, es begleitet einen ein Leben lang. Diese Urerfahrung „guter und wahrer“ Popmusik, die eben noch nicht durch die kommerzielle Mangel gedreht war, die authentisch und neugierig und verstörend und albern und erhaben sein konnte, und das alles manchmal gleichzeitig…wir haben sie alle irgendwann einmal gemacht, und das müssen natürlich auch nicht nur die Beatles gewesen sein.
Immer wieder stelle ich mir und meinen StudentInnen die Frage: warum dümpelt die Neue Musik immer so seltsam lebensfern in ihrem kleinen akademischen Biotop vor sich hin und überlässt die Popmusik den lärmenden Dilettanten, die uns mit „Wiesn“- und „Sommerhits“ quälen und martern, oder mit unerträglichem, gleichgeschalteten Mainstream, der immer gleich vermarktet wird und ungefähr so viel Wahrheit enthält wie ein Tweet von Donald Trump? Warum greifen wir nicht beherzt ein, so wie es zum Beispiel früher einem Kurt Weill gelang? Je mehr die heutigen KomponistInnengenerationen sich rein zeitlich von den bestimmten Vorurteilen („ästhetische Grausamkeiten„) eines bestimmten und dennoch hochverdienten Herrn Theodor Wiesengrund entfernen, desto mehr spüre ich, dass das, was Schubert oder Schumann oder Brahms oder Wolf gelang, auch heute wieder möglich sein könnte.
Die echten Poetinnen und Poeten sind selten in der heutigen Popmusik. Aber es gibt sie. Die gute Popmusik zeichnet aus, dass sie – genau wie gute Lyrik – nicht alles erklärt, sondern auch Andeutungen und Subtilitäten kennt. Gerade weil wir so viel in den Text von z.B. „All Along The Watchtower“ (Dylan, aber von Hendrix ureigentlich und unvergesslich interpretiert) hineinlesen können, bleibt er faszinierend und bis heute „wahr“. Die dumme Popmusik kommt stattdessen immer mit dem Holzhammer und ist sofort wieder vergessen. Die poetische Popmusik weiß, dass ihr Hörer, ihre Hörerin nicht so simpel gestrickt ist, wie es die Produzenten der Massenware stets unterstellen. Die poetische Popmusik ist verspielt und uneitel, sie ist Ideen, nicht Trends verpflichtet.
Ich komme zum Punkt: „Swansongs“, das neue Album von Jake Bellissimo (kein Künstlername) ist kluge, erstaunliche und vor allem authentische (im besten Sinne des Wortes) Popmusik. Es ist endlich wieder ein Album bei dem man wirklich gespannt ist, die nächste Nummer zu hören, weil man schon nach dem Hören von einigen wenigen Songs weiß, dass man eigentlich gar nichts weiß, dass man nicht sicher sein kann, in welche musikalisch unerhörten Gewässer das, was man im Moment hört, jederzeit abdriften kann. Kein Song gleicht dem anderen, nie sagt man „ok, das hatten wir schon, nur in grün“, wie es selbst bei den besten heutigen Popalben manchmal ist, einfach weil der typische Popkünstler von heute einen fucking „style“ hat, und es eben wichtig ist, einen solchen zu haben, da man nur dann die Unzweideutigkeit genauer Verortung erreicht, die einen kommerziellen Erfolg ermöglicht. Aber wenn man große Kunst machen will, darf das eben keine Rolle spielen. Ich bin sehr froh, dass Jake wirklich ein Künstler ist, und dass es sich bei seinem Album „Swansongs“ wirklich um Kunst handelt.
Jake – der alle Songs selbst komponiert und getextet und, zusammen mit vielen Freundinnen und Freunden, eingespielt hat – ist wie ein Fährtensucher, der uns in den Urwald seiner eigenen Imagination mitnimmt, uns aber vorher keineswegs irgendetwas erklärt oder sagt, wo die Reise hingeht. Ein Song wie „Where I’m at, Right Now“ kann harmlos, fast banal als 08/15-Klavierballade beginnen, driftet dann aber in vollkommen unerwartete Gefilde ab. Und wenn ich sage „unerwartete Gefilde“ meine ich tatsächlich auch Gefilde zeitgenössischer Musik: Jake hat richtig Komposition studiert, kennt seinen Ligeti und seinen Feldman, aber eben auch die Jackson 5 und Frank Sinatra, und all dies ergibt durch seine sichere kreative Hand eine überaus faszinierende und berückend unkonventionelle Mischung.
In gewisser Weise ist „Swansongs“ eine Sammlung von „Americana“, ein Sehnsuchtsverzeichnis dessen, was an amerikanischer populärer Musik einmal gut und wahr war und immer noch sein könnte. Schauen wir uns eine zufällig gewählte Abfolge von Songs genauer an: Man könnte zum Beispiel ein Duett wie „You, in New Places“ schnell als sentimentalen Kitsch abtun, wären da nicht die kleinen Seltsamkeiten in den Details der Harmonieführung, die uns aufhorchen lassen. Direkt darauf folgt die schönste Hommage an die kalifornischen Träume der Beach Boys (die ja auch ihre Abgründe hatten), die man sich vorstellen kann: „You Made Me Remember My Dream“, stilecht mit vielstimmigem Chor, der gerade in seiner Ungeschliffenheit abgründig wirkt und blechern verklingt. Direkt danach dann aber „Looking Through A Mirror“ – ein reines Instrumentalstück mit Soloklavier und impressionistisch dissonanten Klängen die an Messiaen und Debussy erinnern und 100% in der Tradition der Musik eines John Cage z.B. stehen, dann „A Maryknoll Bird Flew“ mit seinen karg-spröden repetitiven Gitarrenklängen, vielleicht ein Gegenentwurf zum „Blackbird“ der Beatles, erst alleine, dann von stockenden Streichquartettklängen begleitet, und plötzlich kommt ein Solohorn dazu, wie in einer anderen Tonart und in einem eigenen Rhythmus spielend, aber das stört alles überhaupt nicht und es wird einem plötzlich klar, dass hier ein großer musikalischer Kosmos beschworen wird, der seine uramerikanischen Wurzeln z.B. in der Musik von Charles Ives hat, und ja, wenn Charles Ives (der auch viele schöne Lieder geschrieben hat) Popmusik schreiben würde, dann würde sie vielleicht so klingen – labyrinthisch, absichtslos und verwunschen, wie aus dem Wald in die Stadt hinein komponiert. Kein traditioneller Produzent würde dieses Lied mit einem Stück wie das direkt folgende „Paris Can Wait“ kombinieren, aber Jake tut es, ein Song, der harmlos mit Celesta beginnt und genauso klingt wie das Stück, dessen Name einem auf der Zunge liegt, an das man sich aber nicht erinnert. Und wenn einem beim vollkommen überraschend bombastischen Refrain mit E-Gitarre nicht das Herz aufgeht, dann geht einem gar nichts mehr auf, weil man vermutlich ein Stein oder ein anderes lebloses Objekt ist.
Ich könnte hier endlos weiterschreiben – jeder Song ist ein Unikat, nichts ist, wie es erst scheint, und dennoch wirkt alles wie aus einem Guss, verbunden durch Jakes‘ ungekünstelte und dennoch erstaunlich wandelbare Gesangsstimme, die einen durch immer wieder neue Parallelwelten führt, Welten, in denen sich vielleicht ein Cole Porter entschlossen hat, zusammen mit Terry Riley und Frank Zappa ein Liebeslied zu schreiben, und wer, verdammt nochmal, wollte nicht genau jetzt beim Lesen genau dieses Lied hören. Also, ich will es. Und zwischendrin kommt einfach Mal ein reines Klangstück für Kammerorchester, „My Eyes at the Moment“, komplett mit knisternden Aufnahmegeräuschen wie aus einem Probenraum der Eastman School of Music (wo Jake studiert hat), und es kommt da einfach an dieser Stelle, weil es kommen muss, und weil Musik eben gottseidank keine Regeln kennt, die eine solche Abfolge nach einem einschmeichelnd eingängigen Gitarrensong wie „Angels“ verbieten würde.
Und es ist eigentlich ganz einfach: Denn „Swansongs“ von Jake Bellissimo ist die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Musikmachens. Wir machen Musik, weil wir fühlen, und weil wir fühlen, müssen wir darüber Musik machen. Oder – wie Jake es selbst schreibt: „My name is Jake, I’m 25, and I write music about feelings“. Schöner könnte man dieses Album – von dem wir erst jetzt wissen, dass wir es das gesamte Jahr 2020 so dringend gebraucht haben, nicht ankündigen.
Dringende Hörempfehlung. Und: bitte Zeit nehmen! Gerade in der Abfolge offenbart sich die ganz spezielle Dramaturgie dieser ganz außergewöhnlichen Musik.
Moritz Eggert
Komponist
Lieber Herr Eggert,
ich habe mir ein paar der Lieder angehört und finde sie ansprechend, aber eines verstehe ich nicht: Wo ist der Gewinn, wenn eine Stimme, wie Sie es nennen „ungekünstelt“ ist? Ich bezweifle, dass die Platte schlechter wäre, wenn Bellissimo singen könnte. Gesang kann reduziert sein und so unpathetisch wie möglich, dagegen ist nichts zu sagen. Aber sein Gesang ist qualitativ etwa so als hätten die Amigos oder Hansi Hinterseer sich an einem Indie-Pop-Album versucht. Zudem ist sie auch noch – wofür er sicher nichts kann, das hat wahrscheinlich finanzielle Gründe – semi-professionell aufgenommen und hat nichts Eigenständiges.
Liebe Grüße
„Zudem ist sie auch noch – wofür er sicher nichts kann, das hat wahrscheinlich finanzielle Gründe – semi-professionell aufgenommen und hat nichts Eigenständiges.“ (Mit „sie“ ist die Stimme gemeint)