Die wunderbare Welt des Robert Graettinger

Es gibt eine seltsame Verbindung zwischen E-Musik und dem Jazz, die man im Grunde so zusammenfassen kann: Komponisten beider Genres sind neidisch auf das, was das andere Genre hat. Die meisten Jazz-Musiker, die ich kenne, sind von endlosen Fuddel-Soli und den üblichen standardisierten „Changes“ gelangweilt und würden gerne symphonisch seriös komponieren. Die E-Musiker wiederum sehnen sich nach Swing und Groove und Musikern, die tatsächlich gut improvisieren können und nicht nur anhand einer Grafik von John Cage so tun, als ob sie es könnten.

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Dass es in der Vergangenheit aber tatsächlich möglich gewesen wäre, beide Stile auf ganz überzeugende Weise zu vereinen, und zwar auf eine Weise, die man weder als modisch „crossover“ noch als anbiedernd bezeichnen kann (die meisten heutigen Versuche enden in der einen oder anderen Falle), beweist ein Komponist, den hierzulande kaum jemand kennt: Robert Graettinger.

Zumindest würde er es sicherlich auch heute noch beweisen…wenn er denn noch leben würde. Leider starb er schon 1957, mit nur 33 Jahren. Im Grunde kennt man ihn nur durch einen glücklichen Zufall. Noch als jungen Mann entdeckte ihn nämlich der große Stan Kenton, der ihn prompt wiederholt erst als Arrangeur, dann als Komponist verpflichtete. Nach einigen ersten Arbeiten für Kentons Orchester entstand dann eine der außergewöhnlichsten Platten der Jazz-Geschichte, nämlich „City of Glass“ (nicht zu verwechseln mit dem guten Buch von Paul Auster, das erst viel später entstand). Ohne zu viel vorwegzunehmen, bitte ich die geneigten Leser, sich unvoreingenommen erst einmal diesen Song anzuhören, der zu den „zugänglichsten“ Stücken auf der Platte gehört:

(„Everything happens to me“)
Natürlich handelt es sich hier um einen Standard, dessen Melodie man quasi im Ohr hat. Aber was der an Schönberg und Kompositionstheorie geschulte Graettinger hier macht, ist nichts anderes als eine Neueerfindung des Jazz. Mit diesem Arrangement, über das die unverwüstliche June Christy hier („unperturbed“ wie man auf Englisch sagen würde) singt, betreibt Graettinger geradezu eine Schumannsche Tiefenanalyse des Songtextes, in dem psychologische Tiefen ausgelotet werden, die man diesen Zeilen kaum zugetraut hätte.  Daraus entsteht eine Melange, die ich nach wie vor unglaublich erfrischend finde; kein simples Crossover sondern ein konsequentes Weiterdenken von Big-Band-Musik, das nach wie vor (auch heute, 70 Jahre später) seinesgleichen sucht.

Im namensgebenden Stück des Albums, „City of Glass“, ist Graettinger dann in seinem Element, da er nicht mehr an eine vorgegebene Melodie gebunden ist.

(David Kweksilber Big Band plays Robert Graettinger – City of Glass)
Das ist kein Jazz mehr, sondern etwas anderes, vollkommen Neues. Eine unerbittliche „Wall of Sound“ aus ineinander verschobenen Klängen, die einem unerbittlichen Ordnungsprinzip folgen, unterbrochen von jazzoiden Fragmenten, die in ihrer aprubten Isolation fast wie ein non sequitur wirken. Auf Zeitgenossen wirkte diese abwechselnd schroffe, stets von Dissonanz zu Konsonanz changierende Musik zutiefst verstörend, da man sie nicht einordnen konnte. Es handelt sich nicht um typische Big-Band-Musik, es gibt keine traditionellen Soli, der Beat verändert sich, alles ist durchkomponiert und extrem kontrapunktisch gedacht. Gleichzeitig ist es aber eben auch keine symphonische Musik im traditionellen Sinne, Graettinger bewegt sich in einem faszinierenden Zwischenreich fern von sowohl Adorno als auch Duke Ellington, er ist quasi sein eigener musikalischer Planet, der vollkommen losgelöst von irgendwelchen Konventionen oder Zwängen seine eigene Laufbahn gefunden hat. Wohin sie führt, wohin sie geführt hätte, kann man nur erahnen, denn Graettinger starb als Suchender. „City of Glass“ verkaufte sich nicht gut und galt lange Zeit als Geheimtipp. Aber Ensembles wie die David Kweksilber Big Band halten sein Erbe auch heute noch wach.

Dass Graettinger ganz anders vorging als andere Jazz-Komponisten, beweist das folgende Video:

Zu hören ist dasselbe Stück („City of Glass“, hier in der Originalversion mit dem Stan Kenton – Orchestra), zu sehen sind aber diesmal abgefilmte Skizzenblättern Graettingers, die aussehen wie musikalische Planskizzen von später Stockhausen oder Bernd Alois Zimmermann. Nicht mehr alle von Graettingers faszinierenden Kompositionssystemen können heute nachvollzogen werden, aber das Video gibt einen Einblick in die unglaublich strukturierte und durchdachte Arbeitsweise des Komponisten.

Wenn Graettinger noch weiter komponiert hätte, wäre es sicherlich unglaublich spannend gewesen, seine weitere Entwicklung zu erleben. Doch trotz seiner zu kurzen Karriere bleibt er bis heute als eine singuläre musikalische Persönlichkeit im Gedächtnis, die einen Weg beschritt, der bisher leider wenig Nachahmer gefunden hat.

Moritz Eggert

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