Zur Relevanz klassischer Musik in der (breiten, sehr breiten) Öffentlichkeit

Kennt ihr das? Dieses (vielleicht ja berechtigte) Jammern über die „Oberflächlichkeit“ unserer Zeit? Und das Jammern darüber, dass wahrscheinlich jede (irgendwie kunstschaffende) Generation schon immer über die „Oberflächlichkeit ihrer Zeit“ gejammert hat?

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Tatsächlich scheint mir aber, dass nach der Pandemie die Lage tatsächlich verschärfter geworden ist. Ich sollte das für ein anderes Magazin noch im März 2020 mal „prophezeien“: „Wie wird sich Corona Ihrer Meinung nach auf die Kulturlandschaft, genauer: auf die (E-)Musikszene auswirken?“ Ich antwortete damals sinngemäß: Die E-Musikszene wird sich negativ anpassen, will heißen: Die Programme werden (noch) konservativer, die Wahl der Komponistinnen und (wenn überhaupt!) Komponistinnen noch eindimensionaler, die Auswahl der Solistinnen und Solisten noch unspannender und vorausschaubarer (woraus übrigens ein im Grunde doppelt negativer Effekt entsteht: Die eh immer gleichen Solistinnen und Solisten sind noch mehr überlastet als vorher, weil „Nein“ sagen in unserem „Betrieb“ häufig als Schwäche und – seitens der Programmdirektoren und Intendanten – als Kränkung verstanden wird.)

Hinzu kommt, dass wir kollektiv halt schon komplett hinterrücks verdummt sind. Wo bleibt das neue große Standardwerk (außer Hartmut Rosa bitteschön!), das uns auch einerseits philosophisch andererseits rein naturwissenschaftlich aufzeigt, dass die ständige Glückshormon-Zufuhr durch zehnsekündige Videos und „Likes“ uns zu Junkies macht, die sich nach jedem Griff zum Smartphone (noch) dümmer und (noch) depressiver fühlen als zuvor? Wann sind wir so weit, dass der Griff zum Smartphone zumindest in Anwesenheit anderer Menschen zum absoluten No-Go wird?

Selbst in meiner (wunderbaren) Social-Media-Filterbubble sehe ich da gewisse Trends … Das „erfolgreichste“ Bild, das ich mal gepostet habe, ist ein Foto, auf dem ich so tue, als würde ich mit einer Beethoven-Büste rumknutschen. Bildunterschrift (ernsthaft), wenn ich mich recht erinnere: „Ich liebe Bach!“ Der Witz ist so alt, so mittelmäßig…

Alles andere (meine längeren Artikel, differenzierte Betrachtungen von Werken und so weiter …) werden viel weniger rezipiert. Und ich will überhaupt nicht jammern – und meine eigene krisenhafte („Welt“-)Sicht (die eine total elitäre, beschränkte und old-white-man-geschwängerte ist) auf alles übertragen. Aber das Gefühl, dass wir (als Protagonistinnen, Protagonisten oder „zumindest“ Rezipientinnen und Rezipienten) des musikalischen Kulturbetriebs noch weiter an Relevanz verloren haben, hat sich deutlich verstärkt, ja, gräbt sich als Faktum gefühlt von Tag zu Tag häufiger zwischen meine (alt werdenden) Gehirnwindungen: Wir waren doch wohl nie „outer“ als heute. Oder?

Zuletzt ein kurzes Beispiel, dafür, dass „Klassik“ – was überhaupt nicht unsympathisch sein muss! – nie „unangesagter“ war als heute. (Und in diesem Moment erinnere ich mich daran, dass ich hier an Ort und Stelle vor ziemlich genau neun Jahren mal etwas zum folgenden Phänomen geschrieben hatte). Nun, vor ein paar Wochen haben die beiden Pro7-Moderatoren Joko und Klaas ihre Instragram-Kanäle an zwei iranische Frauenrechtlerinnen verschenkt. Und zwar für immer! Eine großartige Sache. Durch die vielen Leute, die den beiden auf dem Kanal folgen, ist es so nun möglich, die Sichtbarkeit der kämpfenden Frauen im Iran zu erhöhen.

Neulich war ich kurz auf Instagram unterwegs. Und man bekommt ja eine Benachrichtigung, wenn ein Kanal, den man abonniert hat (wie ich die von Joko und Klaas beziehungsweise, seit Ende November: von Sarah Ramani und Azam Jangravi), live sendet. So geschah es – und man sah auf Jokos (ehemaligen) Kanal offenbar eine Benefizveranstaltung für die Frauen im Iran. Im Hintergrund konnte man ein paar Streichinstrumente sehen. Und normalerweise erhöht sich Viewer-Zahl (die man oben rechts bei Instagram jeweils sehen kann) bei solchen Influencer-Kanälen in den ersten Minuten einer Live-Übertragung signifkant. Jetzt war es aber so: Die Leute, die den Kanal noch abonniert haben (was ja auch eine Art ungefährliche Solidaritätserklärung bedeuten kann), sahen die klassischen Instrumente im Hintergrund, erinnerten sich daran, dass der Joko-Kanal gar nicht mehr vom lustigen Joko bespielt wird – und schalteten sofort wieder ab. Klassik ist so „out“, dass sich hier fast alle verdünnisierten. Und das habe ich spaßeshalber einfach mal im Bild festgehalten …

Link zum Joko-Video

Was sagt das jetzt aus? (Gar nichts.) War Klassik jemals „angesagt“? (Nein.) Muss man jetzt traurig sein? (Nein.) Hat dich, lieber Arno, das halt nur etwas erstaunt? (Ja.) Willst du sonst noch etwas sagen? (Nein.) Warum „sprichst“ du mit dir jetzt hier eigentlich selber? (Weiß nicht.)

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Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.

Eine Antwort

  1. „…Die E-Musikszene wird sich negativ anpassen, will heißen: Die Programme werden (noch) konservativer, die Wahl der Komponistinnen und (wenn überhaupt!) Komponistinnen noch eindimensionaler, die Auswahl der Solistinnen und Solisten noch unspannender und vorausschaubarer…“
    Das mag auf den großen Bühnen der groß(städtisch)en Konzertveranstalter vielleicht (aus kommerziellen Gründen) so sein.
    Für den semiprofessionellen Low-budget-Bereich und kleinere Spielstätten sehe ich im Gegenteil eine starke Wiederbelebung und wachsendes Interesse an Neuem, Ungewöhnlichem: Ich hatte noch nie so viele Anfragen und Aufträge in der Region (Nürnberg) wie während Corona („für nachher“…), die jetzt auch alle aufgeführt wurden und werden. Man darf halt nicht nur nach Berlin, Hamburg, München und sonstigen Top-Adressen schauen; manchmal läuft „in der Provinz“ mehr (und besser) als man denkt!