Lauschen

Tagebuch der Wörter (29)

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Lauschen

Als Kind hielt ich oft mein Ohr an die Scheibe, während meine Mutter mich im Auto irgendwohin fuhr. In dem hörbaren weißen Rauschen – einer Mischung aus Fahrtwind und Fahrgeräusch – lag für mich eine unendliche Faszination, denn ich merkte, dass ich darin Musik hören konnte. Dieses „Hören“ unterschied sich vom inneren Hören von Musik, das ich damals schon kannte und praktizierte, wenn ich mir Musik für die Bücher, die ich las, ausdachte und beim Wiederlesen wieder vorstellte.

Wenn ich lauschte, konnte ich tatsächlich jede Musik, die ich schon kannte, anhören, als liefe sie gerade im Radio. Sie spielte sich dann von selbst ab, ohne dass es dazu einer speziellen Anstrengung bedurfte. Nach einiger Analyse fiel mir auf, dass ich die Musik anscheinend aus dem Unterbewusstsein abrief, dass sich die Stücke besser gemerkt hatte als mein „System 2“ (siehe „Sichtbarkeit“). Alle Details waren präsent, auch kleine Nebenstimmen und Klangnuancen. Je weniger ich das Stück bewusst hören wollte, desto besser war die innere Wiedergabe, wenn ich anfing, darüber nachzudenken, stockte es eher.

Bis heute nehme ich bestimmte Geräusche auf, in denen ich Klänge höre, die mich inspirieren. Dies kann das Geräusch einer Waschmaschine sein, oder auch das geschäftige Knattern auf einer Baustelle. Wenn ich die Aufnahmen dieser Geräusche anhöre, höre ich inzwischen Musik, die ich nicht kenne, und das können z.B. Ideen für neue Stücke sein.

Ähnlich arbeitete ich bei meinem Stück „Counting Dances“, das heute beim Code Modern – Festival in München erstaufgeführt wird (Besetzung ist Cimbalom und Bläserquartett). Im Stücktext schreibe ich darüber, was mich dabei inspirierte:

„Numbers Stations“ (oder auch Zahlensender) sind Radiostationen unbekannten Ursprungs die auf selten benutzten und schwer zu findenden Frequenzen rätselhafte Botschaften senden, die meistens aus beständig wiederholten Zahlensequenzen bestehen, die keinerlei Sinn ergeben, manchmal unterbrochen von rätselhaften elektronischen Geräuschen und unheimlichen Zerrgeräuschen. Immer wieder benutzen diese Zahlensender auch musikalische Signale, die von einfachen Sinustönen bis zu seltsam experimentell anmutenden komplexen Tonfolgen reichen. Einige tarnen sich auch als Musiksender, die allerdings immer nur ein und dasselbe Stück senden, unterbrochen von den omnipräsenten Zahlenfolgen.

Es gibt zahllose Theorien über diese Sender, die es in allen Sprachen dieses Planeten gibt und die zuerst vor allem von Amateurfunkern entdeckt wurden. Sind es geheime Signale zur Gedankenkontrolle oder Botschaften von Außerirdischen? Am wahrscheinlichsten ist, dass es sich um kodierte Botschaften für Geheimagenten handelt, die in anderen Ländern unterwegs sind und auf normalem Wege nicht erreicht werden können.

(…)

Als Komponist finde ich die seltsamen fragmentarischen Musikarrangements sowie die repetitiven Zahlenkolonnen ungemein faszinierend, ebenso wie die immer präsenten Störgeräusche und Frequenzverzerrungen dieser Aufnahmen (…) So entstanden also meine sieben „Counting Dances“, jeweils inspiriert von bestimmten musikalischen Momenten verschiedenster „Numbers Stations“, die mir als eine Art freies Assoziationsmaterial dienten (…)

Findige Kurzwellenenthusiasten nehmen diese Signale schon seit vielen Jahren auf, berühmt geworden ist folgende Sammlung mit zahlreichen Beispielen, auf CD lange vergriffen, aber auf SoundCloud und youtube komplett verfügbar.

Die „Nummern“, die man hier hören kann, sind fast zufällige Ausschnitte, die beim Sendersuchen entstanden sind (manche der „Numbers Stations“ sind sehr schwer zu finden), dennoch entstehen interessante zufällige Dramaturgien, die sogar eine gewisse musikalische Eigenständigkeit erreichen. Das meiste hört man aber zwischen den Klängen, im Leerraum der Frequenzen.

Für Verschwörungsideologen sind dies vielleicht satanische Signale, die uns unter Kontrolle bringen sollen (es hält sich ja hartnäckig der Glaube, dass Musik uns zu Gewalt oder anderen Dingen treiben soll – dass diese Idee keineswegs neu ist, zeigt die Geschichte vom Rattenfänger von Hameln). Oder es sind „glitches“ in der Matrix, die uns einen Blick in die geheime Welt hinter der Welt werfen lassen. Vielleicht steckt auch mein alter Kumpel Bill Gates dahinter.

Oder die Erklärung ist viel banaler als wir alle ahnen…Ich persönlich finde es fast schöner, wenn das Geheimnis bleibt, denn als Komponist kann ich gar nicht anders, als mich für solche seltsamen Dinge zu interessieren, das war schon immer so. Und John Cage habe ich in diesem Punkt immer komplett verstanden – die Welt der ungeordneten und zufälligen Klänge um uns herum ergibt manchmal eine mindestens genau so interessante Musik, wie das, was wir uns mühsam ausdenken. An der Schnittstelle dieser beiden Welten gilt aber das, was auch anderswo gilt: am Ende muss einem etwas Gutes dazu einfallen.

 

München 29.9.2021

Das Tagebuchprojekt neigt sich dem Ende zu – jeden Tag ein Wort, über das ich mir Gedanken machte. Hierfür jeden Tag Zeit zu finden, ist gar nicht so einfach, gleichzeitig diszipliniert es mich, eine gewisse Regelmäßigkeit einzuhalten. Morgen ist die letzte Folge, denn der Monat ist vorbei. Da die Tage so voll mit alltäglichen Aktivitäten sind, die vor allem mit der Familienorganisation zu tun haben, ist nicht immer Spektakuläres zu berichten. Heute war das Ungewöhnlichste der Erhalt dreier Mahnschreiben wegen einer Zahlung für Ebay, die ich selbst gar nicht schuldig bin, da ich nichts auf Ebay gekauft habe. Entweder auch ein „glitch“ in der Matrix, oder ein besonders langweiliger Betrugsversuch. Da gehe ich lieber gleich mal laufen.

Eine Antwort

  1. 29. September 2021

    […] September 28, 2021 September 29, 2021 „Oder es sind „glitches“ in der Matrix, die uns einen Blick in die geheime Welt hinter der Welt werfen lassen. Vielleicht steckt auch mein alter Kumpel Bill Gates dahinter.“ https://blogs.nmz.de/badblog/2021/09/29/lauschen/ […]