Sichtbarkeit

Tagebuch der Wörter (28)

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Sichtbarkeit

 

Die menschliche Psychologie ist vielfach untersucht und dokumentiert, birgt aber dennoch immer wieder interessante Erkenntnisse. Ein ewiger Streit herrscht darüber, inwieweit wir Herr/in unserer eigenen Entscheidungen sind oder von äußeren Faktoren beeinflusst werden. Tatsächlich gibt es für letzteres zahlreiche spektakuläre Beispiele, besonders einflussreich wurde Daniel Kahnemann’s Buch „Thinking, Fast and Slow“, in dem er mehrere Beispiele dafür gibt, wie unser Denken von zwei Systemen (System 1: vereinfacht das stets verfügbare „Unterbewusste“, System 2: vereinfacht das anstrengendere „logische Denken“) kontrolliert wird, die wir nicht komplett unter Kontrolle haben, was manchmal von Vorteil, manchmal von Nachteil ist. Einen dieser Effekte nennt er „Priming“, der dadurch entsteht, dass unser Gehirn es vorzieht, bestimmte Dinge miteinander zu assoziieren, um sie einfacher einordnen zu können.

Dieses „Priming“ kann uns nützlich sein, es kann uns aber auch hindern. Ein kleines Beispiel: als ich in Schweden im Gelände unterwegs war, bewunderte ich die viele erfahrenen Geländeläufer um mich herum, die behende und scheinbar angstfrei von Stein zu Stein sprangen, dabei großes Geschick an den Tag legend, das nur mit jahrelanger Naturerfahrung entsteht. Anders als ich hatten diese Läufer bestimmte Bewegungsabläufe unterbewusst abgespeichert und konnten sie ohne Anstrengung abrufen, während ich selbst bei jedem Moos darüber nachdenken musste, ob sich darunter nun ein Stolperstein verbirgt oder nicht, d.h. System 2 stand in ständiger Konkurrenz zu System 1, während die anderen nur System 1 abriefen. Jede wahrgenommene Landschaftskonstellation „primete“ sie unbewusst zu den richtigen Bewegungen, während ich zu viel nachdachte.

Die Gruppe von Läufern in der ich mich befand stieß aber nun plötzlich auf eine Läuferin, die hingefallen war und sich verletzt hatte. Sie wurde von zwei Freundinnen gestützt, während sie aus dem Knie blutete und auf medizinische Versorgung wartete. Es war interessant zu sehen, wie die so Geschickten um mich herum plötzlich ohne es zu wollen ihr Tempo drosselten – System 2 hatte sich in ihrem Kopf eingeschaltet und eine direkte Verbindung von der Tätigkeit des Laufens zu der Möglichkeit einer Verletzung geschaffen. In diesem Moment wurden einige Ressourcen im Gehirn abgeleitet und sie wurden spürbar langsamer (ich auch), denn der Anblick einer Verletzten hatte sie „geprimet“, aber im negativen Sinne.

Ein weiteres eindrucksvolles Beispiel für „priming“ ist meiner Ansicht nach das Ergebnis der jüngsten Wahl in München. Wenn man München ein bisschen kennt und sich die Stadtviertel anschaut, fällt auf, dass es sich bei den Stadtvierteln, in denen besonders stark Grün gewählt wurde, um Gebiete handelt, die direkt an die Isar und im Norden an den Englischen Garten grenzen, wo man also dank der Renaturierung der Isarauen direkt in der Stadt ganz besonders viel grün sieht und Schönheit der Natur erlebt.

Ich will jetzt hier keine einfache Theorie aufstellen, dass wer grün sieht auch grün wählt – zu viele Faktoren beeinflussen eine solche Wahl – aber ich bin sicher, dass die tägliche Erinnerung daran, um was es einem grünen Wähler geht, nämlich Natur-und Klimaschutz, einen täglich ein bisschen mit-„primet“, diese Thematik mehr in den eigenen Gedanken zu haben. Daher überrascht es nicht, dass in Berlin zum Beispiel die geringste Wählerschaft der Grünen dort zu finden ist, wo es fast gar kein Grün gibt: in Marzahn-Hellersdorf.

Das Primen funktioniert auch umgekehrt – wer zum Beispiel sehr viel Misstrauen gegenüber Ausländern und Fremden hat, wird seltene Begegnungen mit ihnen eher als Schock empfinden. Wenn es ganz normal ist, andere Nationen, Sprachen und Gebräuche im Alltag zu erleben – wie quasi in jeder deutschen Großstadt – sinkt eher die Furcht und der Hass, denn die positiven „Priming“-Erfahrungen überwiegen die negativen. Daher ist die AFD traditionell in Großstädten sehr schwach.

Aus der Perspektive der Hochkultur beklagen wir oft einen generellen Niedergang des öffentlichen Interesses. Das hat nicht nur damit zu tun, dass künstlerische Fächer in der Schule eine zunehmend geringere Rolle spielen, sondern vor allem damit, dass Hochkultur immer unsichtbarer im öffentlichen Leben geworden ist. In der unüberschaubaren Zahl von Fernseh- und Radioprogrammen und Netzangeboten kommt Hochkultur nur noch in einem Bruchteil vor, Theater, Konzerthäuser und Opernhäuser sind nicht mehr Zentren der bürgerlichen Gesellschaft, in denen man sich täglich aufhält und anstatt dass wie früher fast alle Bürgerinnen und Bürger in irgendeiner Form Hausmusik betreiben (die dann von den Nachbarn gehört wird), setzt man sich heute Kopfhörer auf und benutzt Computerprogramme.

Die Hochkultur hat also keineswegs ein Problem der „zu großen Komplexität“ – sie ist schlicht und einfach nicht sichtbar (und damit selbstverständlich) genug. Und das liegt daran, dass sie nicht als kommerziell verwertbare Ware angesehen wird – Kulturbewusstsein ist etwas wesentlich Abstrakteres als ein Adidas-Logo. Unsere öffentliche Wahrnehmung ist auf eine Weise eingenommen von marktschreierischer Werbung wie noch nie in der Geschichte der Menschheit. Seit einigen Generationen machen wir uns sogar freiwillig zum Werbeträger von Marken – 95% der Menschen, die man auf der Straße sieht, tragen Markennamen zur Schau, auf T-Shirts, Schuhen, Taschen und Accessoires. Es mag naiv klingen, aber es würde tatsächlich einen Riesenunterschied machen, wenn sie stattdessen T-Shirts mit den Gesichtern von Sofia Gubaidulina und Beethoven tragen würden, wenn es gang und gäbe wäre, dass Straßenmusiker vor allem klassisches Repertoire spielen, wenn Hochkultur in Werbung und visueller Präsenz selbstverständlich und allgegenwärtig wäre.

Es hatte schon einen Grund, warum die Erbauer der ersten Opernhäuser die Wände mit Statuen, Namen und Gemälden großer Komponisten zierten – sie wollten, dass auch die Schöpfer stets anwesend sind und damit an ihre Schöpfungen erinnert wird. Diese Praxis scheint ausgestorben zu sein. Warum eigentlich?

Selbst in den Tempeln der Hochkultur ist es nicht anders: in der Münchner Musikhochschule hängen zum Beispiel im 2. Stock lauter Gemälde von (allein männlichen) Komponisten, der „modernste“ unter ihnen ist Richard Strauss. Hier wird also selbst Studierenden suggeriert, dass danach nichts mehr kam, nichts lebendig ist – wo sind die Gemälde von zumindest Wilhelm Killmayer, Carl Orff oder Günter Bialas? Oder besser noch: von den Lebendigen – Isabel Mundry z.B.?

Vielleicht ist dies der Grund, warum diese Institutionen manchmal so merkwürdig starr, rückwärtsgewandt und unbeweglich sind – das Lebendige ist in ihnen nicht präsent genug.

28.9.2021 München

Wieder einmal erinnert mich mein Zahnarzt zum tausendsten Mal daran, mir doch jeden Abend die Zähne mit Zahnseide zu reinigen. Jedes Mal nach der halbjährlichen Zahnreinigung nehme ich es mir vor, um dann wieder zu scheitern. Vielleicht muss ich mich besser „primen“? Ich werde mir jetzt Bilder von verfaulten Zähnen mit Zahnstein aufhängen, die werden mich täglich daran erinnern, wie wichtig mir die Zahnhygiene sein sollte.

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Eine Antwort

  1. Valentine Schneider sagt:

    Bei meinem ersten Aufenthalt in Deutschland 1986, im Schüleraustausch in Flensburg habe ich als Schweizerin erlebt, wie die „Oper“ in Deutschland mitten in der Gesellschaft stand. „Mc Donald’s“ hatte gerade seine „mexikanischen Wochen“ und hatte als Werbung eine Warnung für Opernsänger, dass Sie dieses Essen besser lassen sollten, da es so scharf sei und die Stimme womöglich schaden könnte! An den genauen Wortlaut erinnere ich mich nicht mehr, aber es war mit Humor verpackt und für mich damals der Beweis, dass diese Künstler, und diese Kunst durchaus in der Mitte der Gesellschaft wahrgenommen wurden, was ich aus der Schweiz gar nicht kannte. Heute wird man, wie in der Schweiz damals gefragt, was man denn tagsüber tue…