Mainstream
Tagebuch der Wörter (27)
Mainstream
„Mainstream“, oh Du schönes Wort…mit so vielen Bedeutungen. Für die einen negativ, für die anderen positiv. Und die, die es negativ empfinden, tun dies aus ganz verschiedenen Gründen!
Aus der Perspektive der Neuen Musik ist „Mainstream“ sogar beides, positiv UND negativ!
Verwirrend? Ich kann es gerne erklären…
Musikalischer Mainstream? Da denkt jeder sofort an Pop und an die offiziellen Top 10. Die Chance, dass die Top 10 Mainstream repräsentieren, ist ziemlich hoch. Was haben wir diese Woche im Angebot? Justin Bieber (gibt’s den echt noch?), klar. Ed Sheeran, nicht anders zu erwarten. Dann lauter Namen, von denen die meisten noch nie gehört haben dürften, weil die Halbwertzeit der jeweiligen Bands inzwischen manchmal nur wenige Stunden beträgt. Auf Platz Nummer 1? „Pussy Power“ von Katja Krasavice mit dem Refrain „Ich fick mit wem ich will, Pussy Power“. Ob das 1970 auch „Mainstream“ gewesen und bei Dieter Thomas Heck in der Hitparade aufgeführt worden wäre? Wahrscheinlich nicht, obwohl da immerhin auch „Trio“ und „Ideal“ auftraten. „Mainstream“-Pop verändert sich also.
Aus der Perspektive der Produzenten ist „Mainstream“ Publikumsgeschmack und damit wichtiger Gradmesser. Man will für den „Mainstream“ produzieren, da dies die höchsten Gewinnaussichten bringt. Aus der Perspektive so gut wie jeder anderen Musik ist „Mainstream“ eher das Feindbild. Ob das dann immer so stimmt? Natürlich finden auch richtig gute Songs Einzug in die Charts, aber es ist eher selten, dass ein Song sowohl einem anspruchsvollen als auch einem eher konsumorientierten Publikum gefällt.
Die Neue Musik schaut also eher verächtlich auf diese Art von Mainstream (und er schaut ebenso verächtlich zurück, oder eher…komplett desinteressiert). Innerhalb eines Genres wie der Neuen Musik gibt es aber auch einen Mainstream, und der ist dann wieder eher erstrebenswert für Neue-Musik-Komponisten. Wenn man wie ich öfter in Kompositionswettbewerbsjurys sitzt, kann man diesen Neue Musik-Mainstream immer wieder erleben, da er jeweils ein bestimmtes Partiturbild und eine bestimmte Machart evoziert. Innerhalb des Nicht-Mainstream gibt es also auch einen Mainstream…kompliziert, kompliziert. Und auch dieser Mainstream verändert sich – was gerade „in“ ist, war es vor 20 Jahren nicht, soviel ist sicher.
Dann gibt es aus der Perspektive von zum Beispiel Coronaleugnern und AFD-Anhängern auch einen „Mainstream“, nämlich die angeblich bösen „Mainstreammedien“, die uns mit wesentlich seriöserer wissenschaftlicher Diskussion und ausgewogenerer Berichterstattung konfrontieren, als es irgendeinem Querdenker-Channel jemals gelingen wird. Aber gerade dies ist aus der Querdenkerperspektive unerwünscht, man bleibt lieber in verschworenem Kreis unter sich und blendet bestimmte Fakten komplett aus. Falschmeldungen werden nie hinterfragt und auch nie dementiert, und man sammelt sich alles selektiv alles zurecht, was in das eigene Weltbild passt, wirft aber genau dies den „Mainstreammedien“ vor, obwohl die sich wesentlich uneinheitlicher und unterschiedlich ausgerichtet präsentieren als zum Beispiel ein Verschwörungskanal wie auf1.tv.
Allein schon der Begriff „Mainstreammedien“ ist vollkommen absurd, weil er suggeriert, dass alle staatlichen und freien populären Medien gemeinsam unter derselben Decke stecken und nur irgendwelche obskuren Telegram-Channels, die nie auch nur den Hauch eines Faktenchecks durchlaufen, die Weisheit mit den Löffeln gefressen haben. Und wo steht dann die inzwischen immer querdenkerfreundliche BILD-Zeitung? Mehr „Mainstream“ als BILD geht doch gar nicht, ist es doch die (auflagenstärkste!) Zeitung, zu der die meisten beim Bäcker greifen, wenn sie gerade keine Lust auf einen Botho-Strauß-Artikel in der FAZ haben. Sie ist also einerseits „Mainstream“, vertritt aber keine „Mainstream“-Meinung, sondern eher die persönliche (und hoch umstrittene) Meinung ihres Chefredakteurs Julian Reichelt. Und die kann man nun mögen oder auch nicht, aber sie ist Teil einer freien Presselandschaft, deren Existenz ständig bestritten wird. Wie nun also?
„Mainstream“ aus der Perspektive der Querdenker bedeutet hier also keineswegs dasselbe wie aus der Perspektive der Musik, sondern eher das, was normale Meinungsvielfalt darstellt, wozu auch ein grundsätzlicher Konsens der Bevölkerung in bestimmten Fragen zur Pandemie gehört. Wenn man selbst ein großes Problem mit diesen Maßnahmen hat, sind diese plötzlich böser „Mainstream“, in Wirklichkeit sind sie gelebte Demokratie.
Und dann gibt es noch das Phänomen, das etwas Obskures das nur wenigen Nerds gefällt, plötzlich Mainstream wird. Wenn man wie ich in den 80er Jahren „Star Trek“ oder „Doctor Who“-Fan war oder sich für Fantasy und „Herr der Ringe“ interessierte, galt man definitiv als Nerd und frönte einem sehr seltenen Hobby. Das war auch gerade der Reiz daran, denn man wollte ja eben gerade NICHT Mainstream sein (und der war damals „Eis am Stiel“ oder „Rocky“). Eine Generation später ist genau das, was nur eine kleine verschworene Gemeinde gut fand, unglaublicher Mainstream – „Herr der Ringe“ füllte weltweit die Kinosäle, „Doctor Who“ ist zumindest im englischsprachigen Raum so populär wie noch nie, und man hat aktuell die Wahl zwischen gleich drei verschiedenen „Star-Trek“-Serien. Wenn sich sogar ein Markus Söder als Star-Trek-Fan bekennt, weiß man, dass die Zeiten des Nerd-seins endgültig vorbei sind, und man im Mainstream angekommen ist. Das ist auch ein bisschen traurig.
Man darf sich unsere Kulturlandschaft nicht als einen wohlgeordneten Garten vorstellen, in dem immer alles ordentlich an seinem Platz ist und auch bleibt – nein, es sprießt wild und durcheinander, und das kleine Pflänzchen am Rande des Blumenbeets wird plötzlich zum Star des Gartens, während andere Pflanzen wieder verkümmern. Wer grundsätzlich neugierig ist, wird immer nach dem Besonderen Ausschau halten. In der Kunst ist diese Suche nach dem Esoterischen und Eigenartigen etwas sehr Kreatives, wenn es aber um den Markt der Informationen geht, führt eine solche Suche meistens in Sackgassen der Pseudowissenschaft.
„Always stay on the main road“, das wusste schon Morton Feldman. Und was er damit meinte ist: wer auf der Hauptstraße fährt, sieht alle Abzweigungen und bekommt alles mit. Wer eine kleine Nebenstraße nimmt, sieht irgendwann nur noch diese Nebenstraße, die vielleicht in irgendeine Einöde führt.
Und aus der kommt man vielleicht nicht mehr heraus.
27.9.2021
Drei Coronafälle in der Schulklasse meiner Tochter verhindern ihren Schlagzeugunterricht. Ich bin ganz froh, wenn ich heute – am „Rest Day“ nach dem Marathon – nicht raus muss, und stattdessen Zemlinsky und Schönberg üben kann. Die sowohl Mainstream als auch nicht Mainstream sind, je nach Ausgangspunkt. Dabei erinnere ich mich immer an ein Gespräch mit einem englischen Pianisten, der Ferneyhough zu „tonal“ und damit zu sehr als „Mainstream“ empfand. Das sollte er vielleicht mal Katja Krasavice erzählen.
Komponist