55 Jahre Good Vibrations – und jetzt SMiLE!

55 Jahre Good Vibrations – und jetzt SMiLE!

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ein Kalenderblatt von Jobst Liebrecht

( Folge 1 )

 

Es war in diesen Februartagen des Jahres 1966, als in Kalifornien Brian Wilson, das komponierende Bandmitglied der Beach Boys, die Tür für die Zukunft der Popmusik weit aufstieß. In vier Studios stückelte und schichtete er das Material für seine pocket symphony „Good Vibrations“ übereinander. Was seine Bandkollegen zum Teil verständnislos als „Brians Ego-Musik“ abtaten, sprengte als erstes die 3-Minuten-Grenze eines Popsongs und wurde doch ein Millionen-Hit, den auch heute noch jede/r irgendwie im Ohr hat.

Auch ich habe als Jugendlicher nicht nur die charmant umwerfenden und fröhlichen Songs der Beach Boys mit ihren gloriosen, glockenklaren Chorharmonien geliebt, sondern hatte bereits  ein Ohr auch für die umfassenden musikalischen Visionen, die Stücke wie „Good Vibrations“ oder „Heroes and Villains“ bedeuteten. Ja, gemeinsam mit den Alben der Beatles gaben sie mir persönlich viel mehr als Mozart und Beethoven ein erstes Bild davon, was Komposition vermag:

Sie kann jederzeit  fasslich und zugleich inkommensurabel sein.

Sie kann gleichzeitig simpel/einfach und verschlungen sein.

Sie kann uns bei der Hand nehmen mit zum Beispiel einem Thema oder auch einer wunderbaren Melodie , und dann ins Offene führen, auch in die Verlorenheit.

Sie wird das Schöne lieben, immer und immer, auch in tiefster Dunkelheit und Leid.

Und sie darf bei allem nicht den Humor verlieren.

Und nun kommst du! – wie der Hamburger sagt.

Ich komme gerade jetzt in der Corona-Zeit auf Brian Wilson und die Beach Boys zurück,

„If I had to select one single living genius in popmusic I would choose Brian Wilson“

( George Martin, Produzent der Beatles )

 

denn ich hatte Zeit für  eine für mich atemberaubende Entdeckung :

Die Popsong-Meilensteine „ Good vibrations“ und „ Heroes and Villains“ waren nicht nur in sich bereits kleine Miniatur-Sinfonien, sondern sie waren immer als Teil eines größeren Ganzen geplant, des legendären „SMiLE“-Projekts von Brian Wilson.

 

Aber stopp mal, das war doch immer bekannt. Ja und nein. Es war immer bekannt, dass Brian Wilson 1966 mit 24 Jahren, überwältigt durch die neuen Möglichkeiten der Studiotechnik, angespornt durch die Anwesenheit der besten  Studiomusiker von Los Angeles und angestachelt von dem Wettstreit mit den Beatles, ansetzte zu der ultimativen Steigerung seiner „ Beach Boys-Popsong-Sprengung“. Es war immer bekannt, dass dieses Großprojekt, das er gemeinsam mit dem Textdichter Van Dyke Parks erfand und „ SMiLE“ betitelte, grandios scheiterte. Denn es war bekannt, dass Brian Wilson 1967 einen von Depressionen, Drogen und Tabletten verursachten/verstärkten kompletten  Zusammenbruch erlitt und sich vor Beendigung von „ SMiLE“ für Jahrzehnte in sich zurückzog.

We all were waiting for SMiLE, but it didn´t come. We were waiting in vain.“  ( George Martin)

„Die Welt war nicht reif dafür“ stammelte Brian Wilson immer wieder hilflos in hingehaltene Mikrofone.

Vielleicht ist sie es jetzt?

Schon in den 90er Jahren, ungefähr 30 Jahre nach seinem Zusammenbruch, kam Brian Wilson durch glückliche Lebensumstände wieder auf die Füße, nachzuerleben in dem anrührenden und authentischen Hollywood-Film „ Love and Mercy“ von 2005.

Trailer:

Etwa weitere zehn Jahre später, am Anfang dieses neuen Jahrtausends konnte er seinem gescheiterten Projekt „ SMiLE“ wieder in die Augen sehen. Getragen von einer Welle der Anhänglichkeit , Begeisterung und Unterstützung in der Generation jüngerer Musiker              ( hervorzuheben ist hier besonders Darian Sahanaja von den Wondermints  ) ging er Stück für Stück an die Wiederaufnahme. Als ein Perfektionist mache er eben alles zweimal, versuchte er die Sensation herunterzuspielen.

Bemerkenswerterweise näherte er sich diesem seinem Schmerzensprojekt zuerst, indem er es mit jungen Musikern live ab 2004 auf der Bühne spielte

Unter dem  youtube-Link „Brian Wilson plays SMiLE“

kann man diese Live-Fassung von 2004 ansehen  –

und unter dem Link

gibt es eine fesselnde Dokumentation „ Beautiful dreamer“  über Brian Wilson und den Enstehungsprozess von SMiLE zu verfolgen.

Wilson dockte an die ganz elementaren Vorgänge an, wenn eine Band oder in diesem Fall eher ein Orchester live auf der Bühne auftritt. Er sammelte andere helfende Stimmen um sich, um die fatale, tödliche Aura des Scheiterns, die sich für ihn auf dieses Stück gelegt hatte, zu brechen. Was gelang. Aufsehen, Erfolg und emotionale Freude warenriesig, als der „ heilige Gral der Popgeschichte“ in der Royal Festival Hall in London feierlich an das Licht der Öffentlichkeit gehoben wurde.

Davon ermutigt gab Brian Wilson vor zehn Jahren in 2011 die fertig gemischten Originalbänder von „ SMiLE“ von 1966/67 mit den Beach Boys heraus – 44 Jahre nach ihrer Entstehung!

 (Mir fällt spontan Schönbergs zweite Kammersinfonie ein, die ebenso ein Scheitern, einen Abbruch um fast 30 Jahre als Torso verlassen überdauerte, um dann endlich fertiggestellt zu werden – mit allen Brüchen, die das bedeutet.)

Die Originalbänder von SMiLE  waren nicht immer bekannt. Nur in Bootlegs oder Schnipseln von einzelnen Aufnahmen  kursierten Teile unter Sammlern. Einige fertige Songs und Teile waren auf anderen Platten bereits veröffentlicht. Es existierte ein Konvolut aus zum Teil noch unfertigen Montageschnipseln. Deren Reihenfolge in der Gesamtkomposition jedoch gab es nur in Brian Wilsons Kopf. Jetzt aber ist „ SMiLE“ , so wie Brian Wilson es sich vorgestellt hat, seit 2011 als CD zu hören.

Es wird sofort klar, warum Wilson „ SMiLE“  immer als „ teenage symphony to God“ bezeichnet hat, denn alles daran hat den Atem einer Sinfonie. Und ich sage ganz bewusst: das ist das, was es auch von „ Stg. Pepper“ noch unterscheidet. Alle musikalischen Teile von „ SMiLE“ tragen sofort das nächste Teil als Fortsetzung und/oder Gegensatz in sich. Alle Episoden entfalten sich als eine fortlaufende Erzählung. Alle skurrilen Details wie etwa das knackende Gemüseessen  in „ Vege-Tables“, an dem der Geschichte nach auch Paul McCartney als Gast teilnahm, und zwar sämtlich alle skurrilen Details, es sind sehr viele,  sind aufgehoben in einem epischen Ablauf der Musik, einem Gefühlssog, der an Franz Schubert erinnert. Dann aber nicht zu vergessen, ist es völlig Musik des 20. Jahrhunderts. Das bedeutet, dass wie schon bei Mahler immer wieder das Einzelmoment wie ein nicht zu verlassener Rettungsfleck festgeklammert wird. Hier ist Wilson beinahe im Vorteil, denn er hat den Popsong als diesen Anker, zu dem er sich flüchten kann.

Warum ist das für mich als Komponist von Sinfonien von Aktualität?  Ich finde hier eine Musik, die sich von ihrer Herkunft her an alle Menschen wenden will, von allen verstanden werden will. Sie benutzt dafür auch immer wiederkehrend einfache Mittel. Gleichzeitig ist sie von einer Vision getragen, die die Welt in ihrer völligen, uns überfordernden Komplexität  darstellen möchte. Sie thematisiert eine Reise durch die musikalischen Momente und Augenblicke ( für deren Inspiration Wilson und Van Dyke Parks nach eigenen Aussagen sich einen Roadtrip durch ganz Amerika vorstellten ). Sie schafft es auf rätselhafte Weise, von der der damals 24jährige Komponist  womöglich selbst nicht Rechenschaft ablegen konnte, Zusammenhang im disparatesten Material zu kreieren. Und nicht zuletzt ist sie in jeder Faser von Ausdruck Persönlichkeit und Stimme getragen.

Die Pop-Sinfonie, die in „ SMiLE“ entsteht, unterscheidet sich fundamental von vielen Versuchen gleichen Namens. Nicht wird versucht, auf quasi seichtere Weise die klassische Tradition zu beerben, indem die Mittel der Popmusik in das Raster eines traditionellen Formaufbaus gegossen werden. Nicht werden Versatzformen klassischer Musik wie Oboensoli oder Geigenmelodien in die Popsprache einmontiert. Nein, der geniale Vorgang bei Brian Wilson und „ SMiLE“ funktioniert genau umgekehrt – in gottvoller Naivität, fern jeden Schwulstes, ganz aus dem inneren Gehör.  In der Musiksprache der Popmusik, und ausgehend von dem Formaufbau der Popmusik entsteht etwas Neues, das SINFONIE genannt werden sollte.

Was ist das?  Wie lässt es sich beschreiben und was  kann daran heute fesseln?

( folgt Folge 2 )

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