Die akademische Blase

Die akademische Blase

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Was ist nur los mit der Neuen Musik, dass sie so viel mehr als andere Kunstrichtungen institutionalisiert ist?
Die großen Schriftsteller der Literaturgeschichte waren größtenteils vollkommen unabhängig von Institutionen und nur selten Professoren oder Akademiker.
Bildende Künstler werden wegen der handwerklichen Anforderungen meist an Akademien ausgebildet, der Kunstmarkt selber ist davon aber größtenteils unabhängig und funktioniert nach eigenen Regeln, die auch ohne Anbindung an einen Universitätsbetrieb funktionieren. Ähnlich ist es in der Architektur, beim Film, beim Tanz.
Allein die zeitgenössische Musik kommt und kommt nicht aus dem akademischen Gefüge heraus. Sie klebt daran wie eine Fliege an einer Windschutzscheibe (was die Größenverhältnisse akkurat wiedergibt).

Fast ausnahmslos alle aktuell bekannten Komponistennamen der zeitgenössischen Musikszene sind oder waren dauerhaft an einen akademischen Betrieb gebunden. Sie sind oder waren Dozenten und Professoren, manchmal aus finanzieller Notwendigkeit (zeitgenössische Musik kann nur wenige Familien ernähren), teils aber auch aus einer Art natürlichen Magnetismus heraus. Denn ein Großteil der Neuen Musik ist hochspezialisiert, verlangt eine extensive Ausbildung sowohl der Interpreten als auch der Komponisten. Neue Musik-Ensembles entstehen nicht in Garagen, sondern weil gleichgesinnte Studenten sich zusammentun, natürlich während des Studiums. Immer wieder tendiert man also zu den Akademien. Auch nach dem Studium ist das so – kaum ist man draußen aus der Hochschule wird man zu Meisterkursen, Symposien und Workshops eingeladen und ist sofort wieder Teil des Systems. Man muss sich darum nicht im Geringsten bemühen, es geschieht quasi von selber. Auch der Kontakt mit den Kollegen – der für das Überleben in „Neue Musik-Netzwerken“ entscheidend ist – findet meist in akademischen Bahnen statt. Und in den Jurys sitzen Professoren die – natürlich – ihre Studenten fördern wollen. Und sitzen diese Studenten wiederum später in Jurys, fördern sie natürlich auch…weitere Studenten. 1)

Sind Komponisten und Interpreten erst einmal ausgebildet, ist dieses Wissen so spezialisiert, dass der logische Weg darin besteht, eine akademische Anstellung zu suchen, die aus der Weitergabe dieses Wissens besteht. Tatsächlich liegt dieser Weg am meisten auf der Hand, denn von der alleinigen Ausübung dieses Spezialwissens zu leben, ist den wenigsten gegeben, vom Unterrichten dagegen kann man zumindest leben.

Dies erzeugt das wenig ermutigende Bild einer „ewigen Institution“, einer Ouroboros-artigen Akademie die nichts weiter tut als weitere Akademiker auszubilden, die dann wiederum weitere Akademiker ausbilden, bis in alle Ewigkeit.
Bei Wissenschaft und Forschung ergibt dies einen Sinn, denn mit jeder neuen Akademikergeneration wird auch das Wissen erweitert. Musik dagegen ist eine künstlerische Ausbildung – es geht nicht um die Anhäufung von Wissen (darum geht es nur in der Musikwissenschaft) sondern um die kreative Anwendung von Wissen. Und das ist ein Riesenunterschied.

Je älter ich werde, je mehr ich mit frustrierten Studenten spreche, die ihr Studium abbrechen wollen, da die akademischen Umstände ihnen unvereinbar mit einer freien Kunst zu sein scheinen, desto mehr bin ich überzeugt davon, dass der akademische „Bunker“ auch ein „Gedankenbunker“ ist, der Innovationen unterdrückt, der den Status Quo bestätigt anstatt Neues zu wagen.
Wir kommen nicht aus diesem Bunker heraus, weil es uns in ihm sehr gut geht, das ist das Problem.

Das Problem, dass die meisten Menschen mit Neuer Musik haben ist nicht, dass sie für sie zu „dissonant“ oder „schräg“ ist. Das sind nur Hilfsbegriffe, die eigentlich etwas anderes beschreiben, nämlich dass sie sich ausgeschlossen fühlen.

Einem Juristen kann die Kenntnis von Paragraphen und komplexen Rechtsfällen Freude bereiten, der Laie fühlt sich hier ausgechlossen und fremd. Das heißt aber nicht, dass der Laie dumm ist (ich nehme an, dass die meisten die dies lesen, keine Juristen und dennoch nicht dumm sind). Man ist ausgeschlossen, weil es hier eine Art Spezialistensprache gibt, die in einem geschlossenen Raum – unserem Rechtssystem – funktionieren muss und hier auch eine Funktion erfüllt.

Musik und Kunst dagegen erfüllen keine praktische Funktion, nur eine ideelle. Sie sind Visionen des „Anderen“, von Möglichkeiten. Wenn also eine Kunstsprache eine solche Raffinesse und Sprachkodierung erreicht, dass sie nur innerhalb eines geschlossenen Systems (den Akademien) verstanden werden kann, haben wir ein großes Problem.

Musikhistorisch war das dezidiert nicht immer so. Bis zum 19. Jahrhundert wurde Komposition – wenn überhaupt – ausschließlich privat gelehrt, zwar durchaus als eine Art „Geheimwissenschaft“ (der Großteil der Bevölkerung konnte – anders als heute vielleicht – mit Notenschrift wenig anfangen), aber eben ohne permanente Anbindung an eine Ausbildungsstätte. Die Komponisten waren also gezwungen, in irgendeiner Form am täglichen Musikleben teilzunehmen, das sich im Spannungsfeld von weltlicher, höfischer oder kirchlicher Musik bewegte. Allein das Jonglieren zwischen diesen vollkommen unterschiedlichen Ansprüchen bereicherte die Musik z.B. eines Mozart oder Haydn ungemein, machte sie wendig, flexibel und vor allem welthaltig. Diese Komponisten mussten sich nicht „verbiegen“, wenn sie für Laien anstatt anspruchsvolle Kenner schrieben, da ihre Musiksprache stets authentisch und inklusiv, nie spezialisiert oder exklusiv war.

Mit dem Schwinden des kirchlichen Einflusses und dem Verschwinden der „höfischen Musik“ durch die Abschaffung der alten adeligen Hierarchien haben wir heute einen Zustand, der eher eine große Dominanz „weltlicher Musik“ gegenüber einem sehr geringen Prozentsatz „Expertenmusik“ kennt, wobei letztere wiederum fast ausschließlich an Institutionen gebunden ist.
Die weltliche Musik ist durch den schneckenhausartigen Rückzug der „gebildeten“ Musik deutlich künstlerisch verarmt („Mainstream-Pop“, „Durchschnitts-Schlager“), die kommerziell unabhängigen aber ambitionierten Kräfte (z.B. „Independent-Musik“) wiederum meiden oft die Universitäten wie der Teufel das Weihwasser, da sie Angst haben, sich durch zuviel Wissen zu „verbiegen“ oder von vornherein gar nicht auf diesem Weg zur Musik kommen (wie die Kinder aus wohlhabenden und gebildeten Schichten), was aber ihrer Kunst ebenfalls Grenzen setzt.

Was wir also dringend bräuchten, wäre eine neue „weltliche“ Musik, die sowohl anspruchsvoll, wild und verrückt als auch besser ausgebildet ist, aber auch keine Geheimkodierung verwendet, die einen Großteil der potentiellen Hörer ausschließt.

Dass dies eine Möglichkeit ist, scheint die junge Komponistengeneration zunehmend zu erkennen. Sie brechen aus dem akademischen Rahmen aus, auf verschiedenste Weise. All dies heißt nicht, dass die Akademien sinnlos geworden sind, aber wie sie sich dieser Herausforderung stellen werden, wird die Zukunft zeigen.

Ich denke wir brauchen neue Schwerpunkte an Musikhochschulen, weg von der Vorbereitung auf Orchesterprobespiele oder meist nicht stattfindende Solokarrieren als „Klassikstar“; weg von extrem konservativ geprägten Hochschulwettbewerben und akademischen Karrieren. Brauchen wir wirklich eine Doktor- oder Mastertitel, um großartige, tiefgründige und bewegende Musik schreiben zu dürfen? Wer an die Bedetung dieser Titel glaubt, ist ein Narr.

Musikhochschulen sollten Wissen im Übermaß zur Verfügung stellen, keineswegs aber die perfekte Beherrschung und Replikation dieses Wissens bewerten, sondern allein Möglichkeiten zur Verfügung stellen und die Studenten ermutigen, ganz eigene Wege zu gehen. Wir müssen weg von dämlichen und vollkommen überflüssigen ECTS-Punkten, von Doktorarbeiten, vom Denken in „Studienfächern“ und Spezialausbildungen. Stattdessen sollte es eine größere Praxisnähe geben, ein größerer Schwerpunkt auf die Frage nach der Rolle von Musik in einer zunehmend komplexeren Gesellschaft gelegt werden. Wir brauchen keine Beamten und keine Professorentitel sondern schlicht und einfach nur leidenschaftlich Lehrende, die ein Wissen nicht weitergeben, weil es ihnen die Pension sichert oder es ihnen das Machtpotential gibt, sich an junge Studenten heranzumachen, sondern weil es ihnen wichtig ist.

Wir müssen inklusiver werden. Ist musikalisches Talent an den Besuch eines Gymnasiums gebunden, daran, dass man aus „gutem Hause“ stammt? Wenn wir die „weltliche“ Musik erfrischen und bereichern wollen, brauchen wir Talente aus aller Herren Länder, aus allen sozialen Schichten. Wir müssen uns für diese Talente interessieren und sich für ihre unterschiedlichen musikalischen Ansätze interessieren, anstatt sie in eine westlich geprägte universitäre Backform zu pressen, die wir für das einzig wahre halten.

Ich schreibe dies als jemand, der Teil des alten Systems ist, der einen typischen „Neue Musik“-Werdegang mit langem Studium hinter sich gebracht hat, der an einer Hochschule unterrichtet.

Aber ganz ehrlich – ich glaube immer weniger an dieses System.
Möge es sich erneuern.

Moritz Eggert

1) Eine tiefgründige Analyse der Gründe für die Institutionalisierung der Musik ist in Harry Lehmanns sehr empfehlenswerten „Die digitale Revolution der Musik: Eine Musikphilosophie“ zu finden. Dort wird auch beschrieben wie sich dieses System zunehmend auflösen könnte

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8 Antworten

  1. Ein paar Beobachtungen:
    – Gesamtgesellschaftlich: Spezialisierung, Ausdifferenzierung von Abschlüssen ist ein allgemeines Phänomen des europäischen Bildungswesens. Selbst die einfachsten Berufsausbildungsgänge sind heute ausdifferenzierter als Promotionsstudiengänge vor 20-30 Jahren.

    – Wertigkeit von Abschlüssen: Grob betrachtet war der Regelabschluss an Hochschulen und Universitäten vor Bologna Diplom/Magister, heute nach 2-3 Jahren Bachelor, nach wieder 2 Jahren Master – wie gesagt grob betrachtet. Musikhochschulen haben mit Bologna ihre Studieninhalte aufgeladen, ja, überfrachtet, dafür gibt’s dann nach 4 Jahren nur den Bachelor. Irgendwie ungerecht.

    – Kunsthochschulen haben z.T. bis heute das wahrlich nicht ideale System aus Diplom und Meisterklasse nicht aufgegeben.

    Warum waren da Musikhochschulen nicht beharrlicher? Oder haben sich mit der Bologna Reform Lehrende und Leitende in den Vordergrund geschoben, die nicht so sehr praktische als v.a. theoretische Fächer unterrichten und die oftmals einen Komplex vor sich hertrugen/tragen, dass sie „nur“ an einer Musikhochschule lehren, wo man bis vor kurzer Zeit nicht einmal in Kooperation mit Unis promovieren konnte?

    Will sagen: da dominieren die verkehrten persönlichen Erwartungen einiger zu kurz gekommener akademischer Karrieristen das ganze System? Oder glaubte man besonders international zu werden, wenn eine norwegische Doppelfuge zu einer baden-württembergischen passt, obwohl Doppelfugen immer welche sind?

    Ich denke, es ist nicht nur ein „Neue Musik“-Problem. Es ist ein allgemeines Bildungsproblem im Musikleben, das sich im Bereich der Neuen Musik nur extrem verstärkt.

    Um noch eines drauf zu setzen: in Deutschland hält man sich immer für den Nabel der klassischen Musikausbildung. Da Studiengebühren fehlen oder sehr gering sind, lockt das nach wie vor Leute aus dem Ausland, ist für Hiesige zugänglicher als Musikausbildung im Ausland. Da klagt man oft, dass ausländische hiesigen Dank besserer Vorbildung die Plätze wegschnappen.

    Im Bereich all der Ausdifferenzierung auch von Studiengängen „Neue Musik“ scheint dann aber auch noch eines im internationalen Vergleich klar zu sein, wie mir Mitglieder eines kürzlich hier gewesenen israelisch-schweizerischen hochkompetenten Neue Musik Ensembles neulich versicherten, die selbst Meisterkurse geben: in Deutschland in Neuer Musik ausgebildete Musiker sind schlichtweg im Praktischen schlecht ausgebildet, vom virtuosen Spiel, über das schnelle Erfassen und Lernen bis hin zur Breite der Spieltechniken. Rein praktisch: setzt man diesem Ensemble ein neues Stück vor, ist das in 2 oder 3 Proben im Kasten. Setzt man hiesigen das gleiche Stück vor, dauert es mind. 6 Proben.

    Fazit: Stampft den Laden ein und ersetzt die akademischen Ego-Shooter durch wirkliche Könner!

  2. Die meisten meiner musikal. „Gurus“ haben nie in akadem. Einrichtungen unterrichtet oder sich mit unzähligen Stipendien aufgehalten. Sie sind Taxi gefahren, haben ihre eigenen Labels und Ensembles gegründet, Filme vertont, als Djs, Barpianist, Theatermusiker oder als Versicherungsvertreter gearbeitet. Es mag nicht überraschen, dass die meisten dieser „Gurus“ auch nicht aus Europa kommen. Es ist sicherlich das akademische europäische Förder- und Ausbildungsystem, das die „Neue“ Musik kränkeln lässt.
    Wir bleiben auch in den Konzerten unter uns. Jedes mal wenn ich das kritisiere, bemerke ich sogar Reaktionen der Gleichgültigkeit. Jede andere Musiksparte könnte so nicht überleben.
    Natürlich können/müssen wir dankbar sein für Fördermittel aller Art. Wir müssen uns aber auch im klaren sein, dass diese Abhängigkeit uns in der Kunstausübung unterbewusst zu einem großen Teil beeinflusst.
    Wo bleiben Studiengänge, die Performance-Kunst lehrt? Komposition mit anderen medialen Künsten verbindet?

  3. @ Markus: Sehr sympathische Gurus! Allerdings findest Du selbst bei akademiefernen KomponistInnen in Deutschland kaum den/die KollegIn, der/die wirklich musikfern ihr Geld verdienen. D.h., man weiß es hierzulande eben nicht. Es könnte dem Renommee schaden. Taxi zu fahren, Versicherungen zu verkaufen, Regale einzuräumen. Selbst das Erwähnen von Tätigkeiten für Film, Theater, das Wirken nicht als Klavierlehrer, sd. Barpianist, wird im Klassikleben eher negativ als positiv ausgelegt. Im Literatur-, Theater- oder Kunstbetrieb würde man das als erhöhte Authentizität auslegen. Im Bereich der klassischen Musik und zum Teil der sehr hochkulturell geprägten zeitgenössischen Musik schaut man Dich immer noch schräg an, wenn Dein Nebenberuf nicht Pianist, Musikwissenschaftler, Musiktheoretiker oder Dirigent ist. Da kann professionelle, betriebstaugliche Musik nur authentisch sein, wenn Du das hochkulturelle Musikleben nicht verlässt. Vielleicht ist das auch ein sehr süddeutsches oder hanseatisches Problem. Bei Berlinern ist davon auszugehen, dass sie buntere Biografien haben und die auch schadlos benennen können. Letztlich aber gelten Biografien wie die Oehrings (im DDR-System Autodidakt), Spahlingers (anfangs Schriftsetzer) und Ammanns (anfangs Jazzer) immer noch als exotisch. Dass mancher z.B. musikfern als Sprachlehrer, als Verwalter, als Sozialpädagoge, als Archivar, etc. arbeiten und gute, wichtige Musik schreiben, eben auch das Akademieferne als Tankstelle des Lebendigen ausleben, das findest Du nie in deren CV. Selbst die nmz titelte mal über einen heutigen Autor „Komponist ohne Nebenberuf“, der es sich aktuell leisten kann, Maler und Filmemacher sowie Firmengründer zu sein und kaum noch als Komponist in Erscheinung tritt. Soviel zur Wahrnehmung was nicht ins enge Bild „Musikhochschule“ und „klassisch tätiger Musiker“ passt: man kann es sich nicht leisten, das Gegenteil davon zu repräsentieren. Oder man ist eben dann Subkultur…

  4. Im Russland des 19. Jahrhunderts war es üblich, dass die Komponisten „normale“ Berufe hatten. Sie waren Ärzte, Advokaten oder Offiziere. Kafka arbeitete bei einer Feuerversicherung und dem literarischen Werk hat es – glaube ich – nicht geschadet. Die Schattenseiten der akademischen Blase findet man hier im Text/Video: http://www.br-klassik.de/aktuell/news-kritik/billigdozenten-an-deutschen-musikhochschulen-104.html

  5. Inzest oder: warum ich nie Komposition studieren wollte

    (Entschuldigung, es ist sehr lang geworden. Ich scheisse aber auf Sachen wie: „verwende nur kurze Sätze im Netz“ oder „maximal 0,5 Lesekunden einplanen“)

    Lieber Moritz,

    danke für diesen Blogeintrag und Deinen, wenn auch subjektiven, Einblick in die akademische Welt, die einem außenstehenden Komponisten wie mir meist verwehrt bleibt. Ich möchte hier einfach mal berichten, warum ich mich als Komponist immer wieder bewusst gegen ein Kompositionsstudium entschieden habe und warum der institutionalisierte Betrieb mich klar davon abgehalten hat es zu tun.

    Ich liebte das Klavier schon in früher Kindheit und hatte das Glück in einem gut-bürgerlichem Haushalt groß zu werden, der mir Klavierunterricht ermöglichte. Mein Interesse in meiner Jugend war nie Pop/Rock oder Boogies oder irgendeiner Art von sog. „U-Musik“, ich wollte früh in die Welt der Klassik eintauchen. Auch Mozart und Bach haben mich nur sekundär interessiert: es musste schon eher Debussy, Reger oder Catchaturian sein. Im Laufe meiner Jugend entstand der Wunsch, Komponist zu werden. Und so sehr meine gut-bürgerlichen Eltern mir den Klavierunterricht ermöglicht haben, so sehr haben sie mich abgehalten das Komponistendasein als berufliche Laufbahn einzuschlagen. „Damit kann man nichts werden. Da kann man kein Geld mit verdienen. Du hast einen Vogel, Deine Intelligenz und Deine Fähigkeiten so wegzuwerfen und nicht zu Geld zu machen“. Der Klassiker in gut-bürgerlichen Familien! Ich will nicht jammern, ich will mich nicht beschweren, meine Eltern haben nichts falsch gemacht – ich will nur berichten, wie es war.

    In der Schulzeit hatte ich das Glück wenigstens zum Teil sehr guten Musikunterricht zu genießen. Wir haben unter anderem die 10. Sinfonie von Schostakowitsch werkanalysiert – bis heute meine Lieblingssinfonie! Wir haben da auch mal in 12-Tonmusik reingeschaut, serielle Musik und alles, was so vor und nach Schönberg lief. Und obwohl ich diese Musik verstanden habe, konnte ich Sie nicht als Musik in mich hineinlassen. Nur die Analyse und das Verstehen der Musik konnte bereichern oder inspirieren, und das meine ich wörtlich! Doch wenn Musik auf so etwas reduziert ist verkommt Sie für mein Verständnis all zu schnell zu einem Sandkastenspiel. Macht Spaß, ist aber nur halbe Musik. Sorry, das reicht mir nicht. Sorry, da geht viel mehr!

    Mit jedem Neue-Musik-Konzert, das ich früher besuchte oder im Radio hörte wurde mir immer klarer, wie sehr diese Musik Inzest betreibt. Von der Hochschule in die Hochschule für die Hochschule und sonst niemand anderen. Irgendwie egoistisch. Mir stellte sich immer wieder die Frage: liegt das an der Institutionalisierung an sich? Ich denke mittlerweile: nein (dachte allerdings eine lange Zeit lang „ja“). Es ist die Frage, wie an den Institutionen gelehrt wird. Worum soll es gehen? Um die Erfindung des „Immerneuen“? Ist das nicht eher die berühmte Schraube, die schon längst am Durchdrehen ist? Oder geht es um die Bildung eines Handwerkskastens für die Studierenden, mit dessen sie sich kompositorisch präzise mitteilen und entfalten können? Die soviel mit Ihrer Musik zu sagen haben, dass Sie Gehör finden? Nicht nur im kleinen Kreis? Wäre das nicht ein guter Ansatz? Wäre es nicht gut, so zu komponieren, dass nicht nur höchst studierte Menschen die jeweiligen Komponisten verstehen können? Frei von Verboten aller Art? Wäre das nicht zeitgemäß? Findet das in dieser Form statt? Wenn ich mir die vielen Neue-Musik-Kompositionen anhöre denke ich vom Ergebnis her leider sehr oft „nein“. Als ernster Komponist muss man sich dafür fast entschuldigen, tonal zu komponieren. Es scheint verboten, etwas zu schreiben, was es schon einmal gegeben hat. Da frage ich mich manchmal: wie hat das Mozart eigentlich nach seiner ersten Sonate gemacht? Warum hat er eine zweite geschrieben? Das geht doch nicht, das ist verboten, das hat es doch schon gegeben! Und Beethoven danach? Nur „kleine“ Weiterentwicklungen der Sonatenform? Geht aus heutiger Sicht auch gar nicht! Das ist mal krasse Scheisse!!!!

    Es scheint die immer gleich-durchdrehende Schraube zu sein, die ich in der Neuen Musik höre. Und das, was interessant sein könnte, bleibt verschlossen. Nicht immer, aber sehr oft – selbst für viele gebildete Musiker. Die immergleichdurchdrehende Schraube ist quasi das Pendant zu nichtssagender tonaler Musik. Diese kann „man“ zwar verstehen, bleibt aber genau so langweilig und nichtssagend wie „Durchdrehende Neue Musik Schrauben“. Nun denn, ich komme vom Thema ab.

    Ich hätte früher gerne Komposition studiert um meinen Handwerkskasten zu erweitern. Das „Drumherum“ an der Hochschule würde allerdings meine eigene Schaffenskraft nicht anregen sondern einschränken, mich verwirren oder gar abtöten. Ich kann mich sofort in die Studenten hinein versetzen, die das Studium abbrechen wollen. Wird danach gefragt? Warum das so ist? Ich habe mich entschieden, den Weg des Komponisten alleine zu gehen. Es gibt mittlerweile so viel hervorragende und aktuelle Literatur (plus Videos plus Texte plus plus plus im Netz) zu allen wichtigen Handwerksthemen des Komponierens, dass man als Autodidakt gar nicht mehr auf eine Hochschule angewiesen ist. Das Komponieren selbst kann man sowieso nicht erlernen, nur alle Werkzeuge dazu (ich weiß, definiere „Komponieren“ und definiere „Werkzeuge“. Das würde hier den Rahmen sprengen und ich hoffe aus dem Kontext heraus verstanden zu werden). Natürlich kann man das anders sehen, ich will hier nur berichten warum ich niemals Komposition studieren würde.

    Das ist alles sehr traurig für mich. Hätte ich doch lieber in einer Gemeinschaft und einem sehr guten Lehrer meinen Handwerkskoffer gefüllt. Mit Austausch mit anderen Kompositionsstudenten. Mit Instrumentalstudenten, die meine Werke an der Uni aufführen. Was wäre das für eine Inspiration! All das blieb mir verschlossen. So mache ich das nun alleine. Ich will nicht jammern, auch wenn es gerade danach klingt. Eine Institution hätte mir auf meinem Weg mit Sicherheit nicht geholfen, das ist es, was ich sagen will.

    Es gibt viele Wege nach Rom. Ich habe diesen jenen gewählt, wie es schon einige (sogar sehr große) Komponisten getan haben – und er ist gut! Sehr gut sogar! Viva la musica!

  6. @Markus: Harry Lehmann beschreibt ja, wie die Rolle der Institutionen sich in der digitalen Revolution verändert, und dass alternative Wege zum Komponieren neue Möglichkeiten haben (Selbst-Weiterbildung im Netz z.B.). Ebenso sind Komponisten nicht mehr komplett abhängig von den Aufführungs- und Vernetzungsmöglichkeiten, die die Institutionen heute bieten. Das heißt aber nicht, dass diese nicht weiterhin interessant sind und tolle Möglichkeiten bieten. Es hängt auch sehr davon ab, wen man sich als Lehrer aussucht (und da gibt es ja große und eigentlich sehr gute Auswahl) und die Hochschulen bieten weiterhin ungeahnte Möglichkeiten der Entfaltung, einfach weil man täglich mit Instrumentalisten und Sängern zu tun hat und mit diesen musikalische Ideen ausprobieren kann (Probieren geht über Studieren). Gleichzeitig sind viele Paradigmen, die Du beschreibst, heute einfach nicht mehr existent, z.B. gibt es die komplette Ablehnung von Tonalität aus ideologischen Gründen effektiv an den meisten Hochschulen nicht mehr (mit wenigen Ausnahmen). Es lohnt sich also schon, die alte Tante Institution noch nicht komplett aufzugeben – sie ist lernfähig…

    • Hm, das meiste kann ich wohl unterschreiben.

      Jedoch sticht mich eine Frage immer wieder: ist das wirklich so, dass die Tonalität nicht mehr komplett abgelehnt wird? So ganz praktisch? Wieviel tonale, zeitgenössische Kompositionen laufen denn in Neue-Musik-Radiosendungen? Oder Neue-Musik-Veranstaltungen? Warum entschuldigt sich eine Unsuk Chin, die in Köln letztens viel aufgeführt wurde, bei einem Einführungsgespräch vor eines Ihrer Konzerte fast dafür, dass Ihre Oper tonal ist? Warum musste diese hervorragende Komponistin von Ihrem Lehrer Ligeti in eine tiefe Krise gestürzt werden weil angemahnt wurde, dass das, was Sie da gerade (in Ihrem Kompositionsstudium) komponiert, es schon gegeben habe und damit uninteressant ist? Von-wegen-„immerneu“? Von wegen Mozart-hat-auch-nicht-dauernd-die-Sonate-neu-erfunden?

      Das geht alles nicht gegen die Institution Musikhochschule „an sich“ sondern stellt Fragen, die meiner Meinung nach von jedem einzelnen Akteur in der Musikhochschule gestellt und beantwortet werden sollte. Und da habe ich eher das Gefühl, dass da etwas sehr „closed source“ und „vorbeantwortet“ ist – ein Widerspruch in sich, was den Kontext Hochschule angeht, sollte es zumindest teilweise wahr sein. Zu oft unoffen (oder gar abwertend) für das, was über die Hochschule hinaus stattfindet. Wer ist denn so offen wie Du, lieber Moritz, und schreibt offen in einem eigenen Blog? Der als Akademiker den Mut hat voll für sein Denken und seine Musik einzustehen – im vollen Bewusstsein darüber, im eigenen Betrieb immer wieder anzuecken? Schelten von eigenen Kollegen ein zu stecken? Das Beamtentum des Professors im kreativen Sinne voll auszuschöpfen und in die Welt zu gehen statt es sich in der „closed source Welt“ der Musikhochschule unkündbar bequem zu machen? Ich kenne nicht viele und das finde ich sehr traurig. Aber vielleicht kenne ich nur deshalb nicht viele, weil ich Sie nicht sehe bzw. nicht kenne – das ist gut möglich. Ich würde Sie aber gerne kennen.

      Geht es doch um die Musik und dessen Entfaltung und nicht um ein Amt. Um was sonst! Es heisst schließlich Musikhochschule und nicht Amthochschule oder Beamtenhochschule.

      Ich empfehle hierzu einen Text von Prof. Franz-Kaspar Krönig (die Prinzipien von „Verwaltung“ im Text wird man zum Teil übertragen können, von daher die Empfehlung): „Inklusive Musikpädagogik in der verwalteten Welt […]“ – und zwar den Abschnitt „Die Verwaltung des Inklusionsbegriffs in der Musikpädagogik“.

      https://www.researchgate.net/publication/317605528_Inklusive_Musikpadagogik_in_der_verwalteten_Welt_Vom_Umgang_mit_Vielfalt

  7. @Alexander: deutscher Quereinsteiger ist z.B. auch Heiner Goebbels (der sich nicht als reinen Komponisten bezeichnen will). Schulmusikstudium, dann linksradikales Blasorchester, Theatermusiken, Hörspiele und warscheinlich als reiner Glücksfall Auftragswerke vom Ensemble Modern, die damals (Ende 80er/Anfang 90er) nach neuen Möglichkeiten suchten (so auch Zusammenarbeit mit Zappa). Im normalen „Neuen Musik“ -Betrieb hätte Heiner keine Chancen gehabt. Trotzem hatte Heiner 1 Jahr W. Rihm in Karlsuhe vertreten. Auch hier war er aber nicht glücklich und beklagte sich über die Ideenlosigkeit der Studenten. Ich dachte, dass sich zu dieser Zeit Zeit einiges verändert hatte in der Sichweise auf die Neue Musik. Leider hat sich das aber nicht bewiesen. Ich sehe heute 3 große Lager: die Post-Lachenmanns (immer gleiche Geräusche aus alten Instrumenten), Post-Ferneyhoughs (Hyper-Complexity) oder die radikale Ablehnung durch Post- seichte Filmadaptionen.