op. 111 – Eine Analyse in 335 Teilen – Takt 18
Jeder einzelne Takt von Ludwig van Beethovens Sonate für Klavier c-Moll op. 111 aus dem Jahr 1822 wird an dieser Stelle von Bad-Blogger Arno Lücker unter die Lupe genommen. Ein Versuch, dieser Musik irgendwie „gerecht“ zu werden, was natürlich, dafür aber fröhlich, scheitern muss.
Die bisherigen Folgen:
Takt 1 Takt 2 Takt 3 Takt 4 Takt 5 Takt 6 Takt 7 Takt 8 Takt 9 Takt 10 Takt 11 Takt 12 Takt 13 Takt 14 Takt 15 Takt 16 Takt 17
Der ausnotierte Triller im neuen Tempo (Allegro con brio ed appassionato) setzt sich also fort. Der G-Dur-Quartsextakkord vom Vortakt wird noch einmal höher gestuft und erklingt jetzt in Grundstellung als erstes Glied der in der rechten Hand zu spielenden 16tel-Kette, die nun unisono mit der Bassstimme das Ganze grollig verstärkt.
Am Ende des Taktes tauchen zwei 32stel-Noten auf (a und h), die die ausnotierte as-g-Trillerkette zu sprengen scheinen… Das Ganze wird gewaltsam nach oben abgerissen.
Die tiefe Trillerpassage ist also offenbar vorbei.
Überhaupt: Tiefe Triller (wenn auch hier ausnotiert) – eine Erfindung Beethovens? Nein, natürlich nicht. Trotzdem denke ich häufig, wie die tiefen Triller in Beethovens Klavierwerken auf den – vermutlich häufig verstimmten – Hammerflügeln und so weiter der damaligen Zeit wohl in den Ohren der konservativen Hörer*innen geklungen haben müssen…
Ein Triller, eine Verzierung… Das Ganze soll also vom Namen her eine „Zierde“ sein. Eine kurze Ausschmückung, ein Ornament. Bei Tasteninstrumenten, die keine Töne halten können, ist dabei der Triller nicht immer nur Verzierung, sondern auch dazu da, eine Note zu verlängern, länger hörbar zu machen, um beispielsweise kontrapunktische Linien nicht aus den Ohren zu verlieren.
Und ein Triller kommt meistens in den höheren Tongefilden vor. Da also, wo er hübsch klingt, wie ein Vögelchen des Frühlings gar.
Triller in der Tiefe… Sicher keine „Erfindung“ Beethovens, aber doch etwas, was er liebte und häufiger als alle anderen vor ihm einsetzte. Ja, ja, ja, „Tiefe“ wäre erst einmal zu definieren. Klar kommen in barocken Gamben- und Cellosonaten tiefe Triller vor. Nee, ich meine so richtig tiefe Triller. Wo gibt es die in Beethovens Klaviersonaten und was „heißt“ es, wenn Beethoven tief trillern lässt?
Die ersten tiefen und etwas längeren Triller in einer Klaviersonate Beethovens tauchen in der sechsten Sonate F-Dur op. 10 Nr. 2 aus dem Jahr 1798 auf – und zwar immer in der Schlußgruppe des ersten Satzes. Eine sehr vergnügliche Stelle mit trockenem Humor…
Und, lassen wir den folgenden ausnotierten Triller aus dem ersten Satz von Beethovens ebenfalls 1798 komponierter Sonate Nr. 7 D-Dur op. 10 Nr. 3 gelten…?
Nö. Solche „Triller“ gibt es schon bei Beethovens Lehrer Haydn genug.
In Beethovens B-Dur-Sonate Nr. 11 op. 22 (1800) gibt es ähnliche Stellen, wie diese hier…
Wohl eher eine figurative 16tel-Kette. Trotzdem ist das Ganze natürlich trillerartig angelegt – und vom musikalischen Ausdruck innerhalb dieser ohnehin für mich paradigmatischen „con brio“-Beethoven-Sonate humorvoll, beschwingt, heiter.
In der 16. Sonate G-Dur op. 31 Nr. 1 (1801-1802) trifft man im zweiten Satz unter anderem auf diesen tiefen Triller…
Aus irgendeinem mir bis heute nicht bekannten Grund mochte ich diesen Satz immer von allen Beethoven Klaviersonatensätzen am wenigsten. Vielleicht auch deswegen, weil der Satz gleich mit einem Triller beginnt – und mir das immer irgendwie suspekt vorkam. Aber „suspekt“ nicht im Sinne von „interessant“, sondern im Sinne von „einfallslos“ (was es bestimmt nicht ist; gleichwohl: ich mag diesen Satz nicht, haha!).
Und der hier abgebildete Triller auf dem großen Zeh C „steht“ auch nicht für „irgendetwas“. Nein, da wird einfach das Hauptthema des Satzes in den Bass verlagert. Daher trillert es da unten so. Und so tief liegt der Triller ja nun auch nicht…
Interessant dann zu sehen, dass die gefühlte Tief-Lang-Triller-Häufigkeit bei den beiden großen Sonaten Nr. 21 C-Dur op. 53 („Waldstein“) und Nr. 23 f-Moll op. 57 („Appassionata“) quasi den Null tendiert. Natürlich gibt es in beiden Sonaten viele trillerähnliche Stellen, aber halt keinen wirklich längeren Triller in der Tiefe.
Erst in der Schlussfuge von Beethovens 29. Sonate B-Dur op. 106 – der sogenannten Hammerklavier-Sonate (1818) – kommt es zu furchterregenden tiefen T(h)riller-Szenen wie dieser hier…
Ja, und da stellt sich für mich eine grundsätzliche Frage. Nämlich die, welchen „Charakter“ eigentlich der letzte Satz von Beethovens „Hammerklavier-Sonate“ hat… Drängend, wütend, rasend, jäh – aus allen Stimmen trillert es den Hörer*innen irgendwann gewaltig um die Ohren. Diese tiefen Triller sind kaum noch „lustig“ zu nennen. Überhaupt ist das eine Fuge eines zutiefst unzufriedenen, wütenden Menschen. Und so sind auch die tiefen Triller dieses letzten Satzes grollig, motzig und schimpfig.
Das Ganze kann man auch ganz anders sehen. Einfach als Kunstwerk. Als ein kreativer Kampf mit der Fugen-Form. Überhaupt haben viele Fugen gar nicht unbedingt einen „Charakter“. Natürlich gibt es bei Bach sehr lustige Fugen mit hüpfenden Themen. Und auch getragene Moll-Fugen mit langen Notenwerten. Aber manche Fugen sind einfach nur Fugen. Herme(neu)tisch abgeriegelte Kunstwerke, die einfach für sich stehen, ihren eigenen Verlauf haben, ein Anfang und ein Ende und ein kontrapunktisches Geschehen. Und das ist auch sehr schön so.
Der längste Tief-Triller-Abschnitt in Beethovens gesamten Klaviersonaten-Schaffen taucht dann kurz vor Ende der ansonsten sanften Sonate Nr. 30 E-Dur op. 109 auf…
Kein wirkliches Grollen, sondern ein mächtiger Orgelpunkt in den Untiefen des Klaviers.
Folgende Passage gibt es dann in der schon mehrfach erwähnten Sonate Nr. 31 As-Dur op. 110 (1822)…
Eine nicht ganz so tiefe Trillerkette, aber dafür sehr schön. Ich weiß gar nicht, was das ist, was das sein soll. Eine Steigerung in einem späten Werk Beethovens. Hat Ähnlichkeit mit manchen Stellen aus dem Hammerklavier-Sonaten-Finale. Aber kein Grollen, sondern eher ein kleiner großer Augenblick des sich Aufbäumens, des sich selbst Erhebens – ein letzter glühender Moment, ein Rückblick auf die Jugend im Alter?
Mein Fazit angesichts dieser kleinen Suche nach tiefen Trillern in den Klaviersonaten Beethovens: Die Tief-Triller-Häufigkeit bei Beethoven ist viel geringer als „gefühlt“. Und „tiefer Triller“ heißt hier längst nicht immer „Grollen“. Im Gegenteil. Tiefe Triller sind für Beethoven nicht selten schwarzhumorige Mittel.
Als hätten wir es nicht gewusst!
Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.