Oh, Kay! Say Insel!

„Stellen Sie sich vor, wir haben am Samstag die Uraufführung einer vierzigminütigen Sinfonie – und wir sind ausverkauft. Wo gibt’s denn so etwas, dass ein zeitgenössischer Komponist das Haus füllt.“ Mit diesen Worten schloss der Intendant des Dortmunder Konzerthauses, Benedikt Stampa, die Einführungsveranstaltung zur „Zeitinsel Fazil Say“, die von Donnerstag bis Samstag im Dortmunder Konzerthaus das Schaffen des Tastenlöwen Fazil Say in allen Facetten beleuchtet – und ihn auch als Komponist ins Rampenlicht rückt. Neben der deutschen Erstaufführung seines Violinkonzerts mit dem Untertitel „1001 Nacht im Harem“, hat er im Reisegepäck für die „Zeitinsel“ ein brandneues Streichquartett, einige ältere Klavierpetitessen und – für den krönenden Abschluss – eine große „Istanbul-Sinfonie“, die in sieben Sätzen Geschichten aus der Stadt mit den sieben Hügeln erzählt.

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Fazil Say fotografiert von Marco Borggreve

Fazil Say fotografiert von Marco Borggreve

Man ist ein wenig betroffen, dass ein Intendant den Wert seiner Allzweckwaffe coram publico an den Zuschauerzahlen bemisst. Zumal er sich zuvor öffentlich über das „ausbaufähige“ Repertoire des Pianisten beklagt hat, unter dem er in den vergangenen Jahren zu leiden hatte. Armer Intendant: hatte er doch selbst Fazil Say eingeladen, auf die Dauer von fünf Jahren ein „artist in residence“ und „Exklusivkünstler“ zu sein. (Der nächste ist nun offiziell bekannt, wie ich hier lese.) Man begrüßt zunächst, dass hier, wie es scheint, offenbar Kontinuität ein Wert in der künstlerischen Planung des Hauses ist und nicht am üblichen Künstlerverschleiss – artists in absence mit fünf Konzerten „vor Ort“ – mitgewirkt wird. (Auch junge Künstler werden als „junge Wilde“ weiterhin aufgebaut.) Aber dann beginnt man, darüber nachzudenken, ob das ausverkaufte Haus nicht vielleicht doch mit Bernstein und Gershwin zu erklären ist, die vor der Pause – dann kann man ja vielleicht gehen! – die befürchteten Qualen durch eine Uraufführung mildern werden. Der Komponist der nachfolgenden Sinfonie spielt natürlich höchstselbst.

Doch hat die Paarung von Fazil Say mit George Gershwin ihren Sinn – denn vieles kann man dem Komponisten Fazil Say vorwerfen. Doch nicht Einfallslosigkeit, wie sein 2008 in Luzern aus der Taufe gehobenes Violinkonzert beweist. Er schrieb es für Patricia Kopatchinskaja, die es barfuss – war da nicht neulich schon was? – mit tänzerischem Elan und Spielwitz zu einem Erlebnis machte. Als Melodiker ist Say einfallsreich oder einfach gut im Aufschreiben – als armer Mitteleuropäer kennt man die anatolischen Quellen nicht, aus denen er mutmaßlich schöpft. Gershwin hat das mit „amerikanischer Folklore“ nicht anders gemacht. Allein im Verarbeiten von Ideen war ihm Gershwin um einiges voraus – oder vielleicht schlichtweg „europäischer“. Denn der sprichwörtliche orientalische Reichtum, den gießt Fazil Say unbekümmert über das Orchester aus. Und wenn er vergossen ist, dann greift er eben zum nächsten Gefäß.

Es mag sein, dass dies tatsächlich etwas Orientalisches ist – ein andalusischer Komponist erzählte neulich viel von der Kalligraphie auf einer Wand der Alhambra und dass er versuche, ebenso zu komponieren. Ohne Durchführung einer „großen Idee“, in stetem Fortschreiben und Verwandeln der leeren Fläche durch die Zeichen. Halten wir dies zugute, handelt es sich bei den formal recht durchschaubaren Strategien einfach um ein anderes musikalisches Modell, das nicht an den europäischen zu messen ist.

Es wäre leicht, diese Musik mit den Kriterien der „neuen Musik“ – was ist das, was ist das – zu diskreditieren, abzuurteilen. Und man wäre versucht, das zu tun, schließlich hat Schott nun einen Exklusivvertrag mit Fazil Say geschlossen – ich wette, irgendjemand nimmt gerade Wetten auf den nächsten Schönberg-Preisträger an – und er nimmt die Bastionen der europäischen Hochkultur wie im Flug. Aber das ginge wohl mal wieder am Phänomen vorbei.

Dortmund liebt seinen Fazil. Schon bei der Einführung fliegen ihm die Herzen entgegen, nach seinem Violinkonzert: Standing ovations. (Für den Komponisten, nicht das geigende Teufelchen!) Say ließ die drei Sätze seines Violinkonzerts wohlweislich ineinander übergehen. Nach der Pause, als das Urbild zu „1001 Nacht im Harem“ gespielt wurde – Rimsky-Korsakows „Scheherazade“ – da wollte das Dortmunder Publikum nach dem ersten Satz schon klatschen. (Man bedenke: das Konzerthaus steht erst seit 2002.)

Wie gelingt Fazil Say das? Durch einen recht unbekümmerten Mix. Es existiert ein Video, das Say gemeinsam mit Freunden in Istanbul nach der Fertigstellung seiner „Istanbul-Sinfonie“ aufgenommen hat. Seine Nachbarin hat ihm ihr Klavier und ihr Wohnzimmer zur Verfügung gestellt, um das neue Werk den Freunden vorzustellen. Es ist faszinierend, ihm zuzuhören, welche konkreten Geschichten er sich ausmalt: historische Einnahme Istanbuls, religiöser Fanatismus, Mädchen in Miniröcken auf einem Bosporusschiff (und einem jungen Mann, der sie „angräbt“, was zu Zank führt), einsame Zugreisende mit unterschiedlichen Zielen im Zugrestaurant. Und dann kann man Staunen wie er sie unbekümmert mit ganz konventionellen Mitteln erzählt. Hier und da ein bisschen Ligeti-Andeutung, eine Penderecki-Ahnung, in den – nach herkömmlichen Maßstäben – besten Momenten ein Hauch Bartók. (Ein bisschen raffinierter waren die zwar schon, aber woher sollte Say das wissen, er schreibt auf, was ihm in den Sinn kommt.) Sein Erfolg hat vor allem auch mit Energie zu tun. Mit Tanz, mit Lebensfreude, mit lustvoller Gewalt. Er schreibt Musik die groovt und pulsiert, schlägt und verführt. Er macht all das, was sich ein „deutscher Komponist“ wohl höchstens unter dem Vorwand der Darstellung eines vollkommenen Bewusstseinsverlusts erlauben würde. Und das wirkt.

Auf dem erwähnten Video, das schon alleine aufgrund der umblätternden Nachbarin sehenswert ist, gibt Fazil Say zunächst eine kleine Einführung in den Unterschied zwischen europäischer und türkischer Rhythmik. Als Assistenten für diesen Vortrag wählt er sich seinen Hund „Pascha“, der – mit einem Stück Brot vor der Nase – bereitwillig nicht nur einen wiegenden 6/8tel, sondern auch einen tückischen 13/8tel-Takt mitwedelt. Nach der Übung gibt’s die Belohnung.

Manchmal glaube ich, ich bin ein Hund. Ich will nur Brot. (Zuckerbrot. Keine Peitsche.)

Oder anders gesagt: Lang Lang auf anatolisch. Da kommt einer und simuliert große Gefühle und das Publikum macht Männchen.

Fazil Say fügte den Worten von Benedikt Stampa übrigens doch noch etwas hinzu: „Ich will in Zukunft noch mehr komponieren. Zweite Sinfonie, Dritte Sinfonie usw.“ Es wird Intendanten geben, die sich darum reissen.

Wie nun umgehen mit diesem „Phänomen“? Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass eine Gesellschaft, die sich „multikulturell“ versteht, eine Durchlässigkeit aufweisen muss, eine Offenheit für neue Formen, neue Ansätze. Dass sie sich nicht auf die Durchsetzung ihrer über Jahrhunderte entwickelter Modelle stützen kann. Das wäre ja dann: Kulturkampf.

Es ist sicher, dass Menschen wie Fazil Say eine Brücke schlagen über Kulturgrenzen hinweg: Er nutzt das durchweg europäische Medium „Sinfonierchester“, um mit ihm und durch es seine anatolisch geprägte Stimme erklingen zu lassen. Wenn er kammermusikalisch mit Musikern wie Kopatchinskaja oder Demenga aufspielt, dann ist das sicher für alle Beteiligten ein Genuss. Im Publikum des heutigen Konzerts habe ich zum ersten Mal zahlreiche „Menschen mit Migrationshintergrund“ gesehen, die wohl kaum bei Herrn Thielemanns Bruckner in der ersten Reihe sitzen. Wenn der Konzertsaal weiterhin ein Abbild der Gesellschaft sein möchte, dann muss er auch ihren Wandlungen Rechnung tragen. Und das kann sich nicht nur in der Platzkartenverteilung ausdrücken, es führt zwangsläufig zu einer Veränderung der Musik.

Aber steht nicht auch eine Aufforderung hinter dem Erfolg solcher Musik? Verlangt nicht ihre Selbstgewissheit, sich noch einmal über die eigenen Motivationen klar zu werden? Sich selbst noch einmal die Frage zu stellen: Was wollen wir eigentlich sagen?

Gerswhin malt Schönberg oder: Ein reicher und ein armer Poet

Gerswhin malt Schönberg oder: Ein reicher und ein armer Poet

Man wünscht sich von Musik wie der von Fazil Say, dass sie sich der Tradition, in der sie steht, bewusster wäre. Vielleicht wünscht sie sich das selbst auch irgendwann. George Gershwin war bekanntlich sein ganzes Leben darauf aus, von berühmten „klassischen“ Komponisten zu lernen. (Auch wenn er mit Schönberg übers Tennis spielen und Porträt Malen nicht hinaus gekommen ist.) Als er beispielsweise Ravel fragte, ob er Unterricht bei ihm bekommen könne, fragte der kühl nach Gershwins Einkünften. Daraufhin soll Ravel kopfschüttelnd beschieden haben: „Dann mein Herr, sollte wohl ich bei Ihnen in den Unterricht gehen.“ Ob Ravel jemals „Artist in residence“ oder gar „Exklusivkünstler“ geworden wäre?

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Musikjournalist, Dramaturg