Wiederholung
Tagebuch der Wörter (20)
Wiederholung
Musik braucht wie kaum eine andere Kunst die Wiederholung, um eine Eindringlichkeit zu erzeugen, die uns mitreißt. Wir erleben oft, wie ein Stück erst beim zweiten Hören zu leben beginnt und dann an Wirkung zunehmen kann, je öfter man es hört. Natürlich muss man es dann auch nochmal hören wollen.
Eine nerviges Klingeltonmotiv wird einen schon nach wenigen Wiederholungen zum Wahnsinn treiben, wogegen man sich bei Musik, die man liebt, gar nicht satthören kann an den „schönen Stellen“. Wiederholungen innerhalb eines Stückes wollen wohlüberlegt sein. Manchmal ist es einmal zu viel, manchmal zu wenig. Manchmal machen Wiederholungen an sich überhaupt erst die Form aus, so wie bei Minimal Music. Dann gibt es wieder Musik, die ganz bewusst jede Form von Wiederholung meidet – „Structures“ von Boulez wäre hier ein Extrembeispiel der größtmöglichen Vielgestaltigkeit, die (wenn man mal ganz ehrlich ist) beim Hören auch in Eintönigkeit umschlagen kann, weil selbst der genialste Hörer sich irgendwann nirgendwo mehr akustisch festhalten kann. „Structures“ ist wie ein endloser Text ohne Punkt und Komma der allein aus unterschiedlichen Fantasiewörtern besteht – vielleicht faszinierend, aber Hängenbleiben tut wenig, nachdem man es gelesen hat.
Aber genau dieses „Hängenbleiben“ ist für die meisten von uns die Motivation, ein Stück noch einmal hören zu wollen. Da ist irgendetwas, das uns gefallen hat, das uns fasziniert hat, das wir vielleicht noch nicht völlig entschlüsselt haben. Beim zweiten Hören bilden dann genau die Stellen, die wir uns gemerkt haben, eine Art Ankerpunkt für die Wahrnehmung von Dingen, die wir übersehen haben. Hat uns zum Beispiel das Fugenthema einer Bachfuge besonders gefallen, beginnen wir beim erneuten Hören plötzlich die Gegenstimmen wahrzunehmen. Es ist genau wie bei einem Film, den man mehrmals sieht – die Haupthandlung hat man schon verstanden, nun beginnt man auf Details wie Kameraführung, Schnitt und Licht zu achten. Je reichhaltiger und vielschichtiger eine Komposition ist, desto öfter möchten wir sie hören, da sich immer neue Ebenen erschließen – möchte man zumindest meinen aus der Perspektive der „Kunstmusik“. Für die Mehrheit der Hörerinnen und Hörer, die Musik eher als Dienstleistung benutzen (siehe meine Gedanken gestern) ist aber eher die vollkommene Entschlüsselung einer Musik das Hauptargument ihrer Wiederholungsnotwendigkeit. Wenn die Musik perfekt „passt“, dann wird sie so lange „passend“ benutzt, bis sich ein Gewöhnungseffekt eingestellt hat und man etwas Neues braucht. Neues hierbei zu entdecken, würde eher ablenken, wie ein unbekanntes Gewürz in der Lieblingsspeise.
Die Möglichkeit der endlosen Reproduktion von Musik, sowie ihre universelle Verfügbarkeit zu jedem Moment haben den Umgang mit Musik dramatisch verändert. Früher standen den Menschen nicht immer dieselben Musikstücke ständig zur Verfügung, man wusste also nie, ob man ein Stück vielleicht nur dieses eine Mal in seinem Leben hörte. Jeder Konzertbesuch stand unter der Möglichkeit der absoluten Einmaligkeit – wollte man Musik noch einmal hören, musste man sie sich als Noten nach Hause holen und selbst spielen. Daher ist ein Großteil der klassischen Musik sehr auf dieses erste Hören hin „optimiert“, es hat schon einen Grund, warum es so viele Wiederholungen in den Sonaten und Symphonien gibt: damit das „zweite Hören“ schon beim ersten Mal erlebt werden und eine gewisse Eingängigkeit sofort erreicht werden kann.
Die unendliche Verfügbarkeit von Musik heutzutage hat unser Musik-Erleben langweiliger gemacht – beim ersten Hören (das bei den meisten Menschen ohnehin während anderer Beschäftigungen stattfindet) hört man noch kaum hin, wenn dann irgendwas hängen blieb, das gefiel, wird das Stück immer wieder gespielt, manchmal sogar dutzende Male direkt hintereinander, wie es halt gerades passt. Wie Opiumabhängige an der Pfeife geben wir uns immer denselben Kick mit immer denselben „passenden“ Klängen im „richtigen“ Moment, sodass unsere Wahrnehmung von uns unbekannter und vielleicht auch überraschender Musik zunehmend verkümmert, da die Konzentrationsfähigkeit nachgelassen hat.
Wir alle kennen die Experimente, bei denen Ratten sich selbst mittels Elektroden im Hirn „belohnen“ können und dann irgendwann anfangen zu verhungern, weil sie diese Belohnung allen anderen Dingen vorziehen. Menschen sind gar nicht so anders – manche Extremcomputerspieler müssen gezwungen werden, auch einmal eine Essenspause zu machen, andere bekommen sogar Thrombosen, weil sie tagelang im Stuhl hocken. Mit der „Belohnung“ durch die immer verfügbare „Lieblings“-Musik, mit der wir uns jeden Moment berieseln lassen können, stumpfen wir mehr ab, als die meisten ahnen.
Die Taliban z.B. fürchten gesellschaftliche Veränderungen durch zum Beispiel Kultur und Musik, weil ihre Macht auf sehr rigiden fundamentalistischen Glaubenssätzen aufgebaut ist. Für uns Europäer ist das eine schreckliche Vorstellung, da die Idee des „Neuen“ und der ständigen gesellschaftlichen Veränderung Teil unserer europäischen Identität ist. Obwohl wir das Neue viel weniger fürchten, verhindern wir es aber zumindest in der Musik oft genauso effizient mittels unserer zunehmend begrenzten Wahrnehmung, die auf einem ständig aktivierten Belohnungssystem basiert: der richtige Song zur richtigen Zeit, instant gratification. Wenn wir aber zu faul für das Neue werden, hat es genauso wenig Chancen wie dort, wo es verboten ist.
München, 20.9.2021
Wie sehr Erwartungshaltung und tatsächliches Erlebnis zusammenhängen, konnte man gestern wieder beim Rum-Tasting des genialen Pit Krause erleben. Wieder einmal schmuggelte er uns nämlich unter lauter Rums einen Whisky unter – und niemand merkte es. Rum und Whisky schmecken vollkommen verschieden, wenn das Gehirn aber einen Rum erwartet, schmeckt es sich einfach den Whisky „zurecht“ (in diesem Fall ein irischer Jameson).
„Dune“ war tatsächlich sehr gut – Dennis Villeneuve ist wahrscheinlich gar nicht in der Lage, einen schlechten Film zu machen, das war auch hier der Fall. Abschreckend könnte man allein die wieder einmal bombastisch-einfallslose Musik von Hans Zimmer empfinden, der schwächste Teil des Films, alles andere – schauspielerische Leistungen, visuelle Effekte, Regie, Drehbuch, Kamera -waren vom Feinsten und der Vorlage absolut würdig. Das Ganze kann man nur nicht bewundern, wenn man weder die Vorlage kennt noch etwas für diese Art von Genre übrighat. Erstaunlich übrigens, wie viel George R.R. Martin (Erfinder von „Game of Thrones“) von „Dune“ (erfunden von Frank Herbert) geklaut hat – ganze Figuren- und Handlungskonstellationen ähneln „Dune“ sehr: da ist das adelige Haus, das einen Job annehmen muss, den es eigentlich nicht will (weil es zu mächtig wird) und dann in einer Intrige verraten wird, der Baron muss sich opfern, die Baronin kann fliehen, es gibt einen sympathischen Schwertmeister, der die Kinder unterrichtet (in „Dune“ ist es Duncan Idaho, in „Game of Thrones“ Syrio Forel) usw. Aber vielleicht hat Frank Herbert das Ganze schon von den alten Griechen geklaut, denn seine Familie „Atreides“ soll ja aus Nachkömmlingen der hellenischen Atriden bestehen. Die im Film übrigens erstaunlich nazimäßig gekleidet, aber die „Guten“ sind.
Komponist
Eine Antwort
[…] September 19, 2021 September 20, 2021 Mit der „Belohnung“ durch die immer verfügbare „Lieblings“-Musik, mit der wir uns jeden Moment berieseln lassen können, stumpfen wir mehr ab, als die meisten ahnen. https://blogs.nmz.de/badblog/2021/09/20/wiederholung/ […]