70 Jahre 4′33″

Am 29. August 1952 – also fast auf den Tag genau vor 70 Jahren – wurde John Cages 4′33″ in New York von David Tudor (1926–1996) uraufgeführt.

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Es ist das legendärste avantgardistische Musikstück aller Zeiten. Das Stück, über das jede:r klassisch ausgebildete Musiker:in mindestens einmal im Leben bereits einen Scherz gemacht oder zumindest gehört hat (sprich: ertragen musste). Unzählige Musikstudierende haben schon darüber nachgedacht, ob die Wahl dieses berühmtesten Werkes von Cage als „zeitgenössisches Werk“ beispielsweise bei einer Abschlussprüfung, innerhalb derer eine Komposition aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Pflicht sein kann, zulässig ist.

Denn die Interpretin oder der Interpret – die Besetzung ist frei wählbar – spielt während der Dauer von vier Minuten und 33 Sekunden (das Werk wird meist mit einer Stoppuhr aufgeführt) keinen einzigen Ton. Für die drei Sätze – die Form dieses 1952 notierten Stückes ist also im Grunde sehr traditionell und keineswegs „avantgardistisch“ – hat der Komponist „Tacet“ vorgeschrieben. Die Anweisung „Tacet“ (lateinisch für: er/sie/es schweigt) erscheint sonst meist in den Noten von Orchestermusiker:innen, die beispielsweise während eines ganzen Sinfoniesatzes nichts zu spielen haben (die Harfe ist dabei ein relativ beliebtes Tacet-Opfer).

Zu der Komposition des Stückes wurde Cage durch den Besuch eines schalltoten Raumes angeregt, dessen Nicht-Widerhall von eigenen und fremden Geräuschen ihn nachhaltig beeindruckte. Bei der Uraufführung durch den Pianisten David Tudor im Spätsommer 1952 in New York gab es den erwarteten Skandal, dessen Restwind noch heute dann und wann zu spüren ist, wenn das Werk vor einem Publikum zur Aufführung kommt, das von diesem Stück Stille noch nichts wusste.

Über das Werk von Cage lässt sich trefflich philosophieren. Doch durch eh nur rhetorische Fragen wie „Ist das noch Musik?“ – ein enger Verwandter des eigentlich unwitzigen und ultrakonservativen „Ist das Kunst – oder kann das weg?“ – wird die Diskussion oft verdeckt; ja, die Rezeption von Cages bekanntestem Werk scheint in den letzten Jahren im reinen Slapstick angekommen zu sein. Denn die wirklich interessanten Fragen sind doch: Warum provoziert dieses Stück noch heute? Beziehungsweise: Tut es das denn überhaupt noch? Oder: Haben wir das gemeinsame Genießen von Stille verlernt? Wird uns als Musikliebhaber:in im Konzertsaal klar, wie laut – und wirklich störend, ja, in der Tat kein bisschen komisch – Husten während eines zerbrechlichen Stücks Musik wirken kann? Ist die scheinbare Unmöglichkeit wirklich gemeinsamen Schweigens im Konzertsaal denn tatsächlich ein gesellschaftliches Phänomen? Oder hängt diese Unmöglichkeit mit der Situation zusammen, in der wir uns mit anderen, nämlich fremden Konzertbesucher:innen befinden, so dass wir uns auf die fast erotische Intimität des Nicht-Erklingens jeglicher Geräusche nicht einlassen wollen? Schließlich sagt man doch, dass menschliche Beziehungen dann besonders glücksverheißend seien, wenn beide Partner:innen auch mal gemeinsam schweigen können. Aber warum nutzen wir nicht diese oft verlachte – in Wirklichkeit ernste, ja: existenzialistische – Komposition von Cage, um eine ganz besondere Erfahrung zu machen?

Es macht mich einfach immer mal wieder etwas sauer, wenn nur die Erwähnung dieses Cage-Stückes dazu genutzt wird, ein gewisses Insider:innentum zu bedienen. Man kennt etwas, was noch nicht alle kennen. Hahahaha, ist das lustig! Und hier: Kennste noch den Sketch mit der Nudel von Loriot? (Im nächsten Moment wird dann gemeinsam Helge Schneiders „Katzeklo“ gesungen.)

Die wirklichen Fragen, die Cages berühmtestes Werk (er dreht sich im Grabe um; vielleicht auch ganz fröhlich dabei) stellt, stellen könnte, versickern im Schlamm doofer Pseudobildungsäußerungen, die ich unfassbar langweilig finde. „Hahahaha, ist das witzig, wenn da vorne am Steinway jemand gar nicht spielt.“ „Boah, ist das existenziell gerade!“ Aber: „Hahahahaha, der hat echt keinen einzigen Ton gespielt!“

Und nun stimmen wir alle gemeinsam das (zunehmend verstummende) Lied von der Krise der Bildung, der Kultur an.

Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.

Eine Antwort

  1. Ja, das Menschen mit solchen abstrakten und ästhetisch anspruchsvollen Werken mit Ignoranz und hilfloser Ironie begegnen … das ist ja nicht neu oder verwunderlich.

    Ich finde übrigens nicht, das es bei dem Stück um Stille geht. sondern um das Verharren in einer Pose oder Geste. Das halten einer Spannung. Stille gibt es ja eigentlich nicht, schon garnicht in einem Konzertraum voller Menschen. Es gibt nur eine Geräuschverschiebung. Nicht mehr das Instrument erzeugt Geräusche, sondern die Menschen. Sie Atmen, ruckeln auf ihren Stühlen, husten, die Kleidung erzeugt Geräusch, die Schuhe. Im Grunde gibt der Künstler das Geräusch ans Publikum ab, der Saal wird zum gemeinschaftlichen Klangkörper.
    Der Musiker hält ja die Spannung aufrecht, wenn denn das Stück angemessen dargeboten wird. Er verharrt in der Geste des Nichtspielens, die ja eine andere ist als die Geste des „fertig gespielt habens“.
    Das ist für mich 4:33. Eine lange, abstrakte, spannungsvolle Geste.
    Deswegen finde ich die Interpretation der Metalband auch so stark. Denn sie verharren ja wirklich genau so, die Verstärker rauschen, der Verzerrer sogar ungleichmäßig. Es ist nicht Stille, es ist Anspannung. Lange vierminutenunddreiunddreissigsekunden.