Filterblasenpingpong
Tagebuch der Wörter (15)
Filterblasenpingpong
Ein lustiges Spiel für die ganze Familie von Social Media Incorporated
Sie fühlen sich manchmal einsam, unverstanden oder ausgegrenzt? Oder erhaben, unbesiegbar und überlegen? Unfrei und unterdrückt? Alles besser als sich zu langweilen, denn dann sind sie ganz sicher ein Spieler von „Filterblasenpingpong“, dem großen Social Media – Spiel mit Milliarden von Mitspielern. Machen Sie mit!
Die Regeln sind einfach: Sie müssen dazu nur Ihren Computer einschalten. Oder Ihr Handy oder was auch immer. Wahrscheinlich ist es sowieso ständig eingeschaltet.
Scrollen Sie ein bisschen durch den Feed. So viele Nachrichten! So viele Meinungen! So viel Schlimmes auf der Welt! Sieh da, süße Kinder und Tiere. Ein interessantes Konzert. Lustige Cartoons. Hassreden und Fakenews. Werbung.
Sie können alles anklicken oder auch nicht. Es ist für das Spiel tatsächlich vollkommen egal, was Sie anklicken. Kommentieren Sie! Liken Sie! Spotten Sie! Kritisieren Sie! Teilen Sie! Der Algorithmus von „Filterblasenpingpong“, dem wunderbaren Spiel für die ganze Familie, merkt sich alles zu jeder Zeit und speichert es praktischerweise mittels Cookies (denen Sie irgendwann mal in einem schwachen Moment zugestimmt haben) in Ihrer Browserhistorie.
Unglaublich, aber wahr: Unsere patentierten Bots sorgen dafür, dass Sie schon beim nächsten Öffnen Ihres Feeds mehr von den Sachen zu sehen bekommen, mit denen Sie interagiert haben. Wenn Sie die Babyfotos Ihrer Freunde liken, bekommen Sie (kleiner Trommelwirbel)…MEHR Babyfotos, die Sie liken können! Wenn Sie die Werbung für irgendein nutzloses Produkt länger als eine Sekunde angeschaut haben, bekommen Sie (kleiner Trommelwirbel)…MEHR nutzlose Werbung, die Sie sich NOCH LÄNGER anschauen können. Ist das nicht toll?
Sie müssen das noch nicht einmal gut finden. Denn für das Spiel ist es völlig egal, ob Sie ein Herzchen-Emoji senden oder sich in einem Kommentar über etwas aufregen…Hauptsache, Sie interagieren! Je mehr Sie interagieren, desto länger bleiben Sie auf unseren Seiten und desto mehr Geld verdienen wir, so einfach ist das.
Gleichzeitig sorgen wir für eine natürliche Hygiene Ihrer sozialen Kontakte, deswegen auch der markengeschützte Name „Filterblasenpingpong“! Warum wir das so nennen? Ganz einfach.
Wir sind sicher, dass Sie eine bestimmte Meinung zu den Dingen haben. Wie genau diese Meinung aussieht, ist dabei eigentlich unwesentlich. Vielleicht sind Sie Argumenten zugänglich oder auch nicht? Das tut nichts zur Sache. Irgendwann wird Sie ein Post ärgern oder aufregen, und Sie werden einen zornigen Kommentar hinterlassen. Oder Sie posten etwas, und jemand anderes hinterlässt einen zornigen Kommentar. Sie denken, damit hat es sich, aber nein: genau jetzt merken wir uns diese Interaktion und sorgen geschickt dafür, dass sie immer wieder zustande kommt. Denn nun kommt genau die Person, die Sie mit ihrem Post geärgert hat (oder umgekehrt) etwas höher in der Liste, die unser Algorithmus für Sie auswählt.
Das Resultat? Sie sehen MEHR Posts, die Sie ärgen, oder die Personen, die sich über Sie ärgern sehen ebenfalls MEHR Ihrer Posts. Mehr Ärgern bedeutet mehr Interaktion, und mehr Interaktion bedeutet mehr Geld für uns. Wir verdienen an Ihrem Ärger, das ist das Schöne am „Filterblasenpingpong“.
Was als nächstes passiert? Irgendwann sind Sie so genervt, dass Sie die Person blocken, die Sie ärgert. Entfreunden geht schnell – es gibt immer irgendeinen Vorwand, der Ihnen den Eindruck gibt, sich im Recht zu fühlen. Von nun an sehen Sie das also nicht mehr.
Das passiert nicht nur einmal sondern mehrmals – jeden Tag führen Sie eine zunehmend perfektere Auslese durch, um die Personen zu blocken, die Sie ärgern. Zum Beispiel wenn diese die Pandemie viel ernster nehmen als Sie. Oder sie Trump nicht mögen, obwohl das doch der fähigste und ehrlichste Präsident war, den es jemals gab.
Weg mit denen. Stattdessen klicken Sie mehr und mehr auf die Dinge, die Ihnen gefallen und die Sie bestätigen. Den anderen – nämlich denen, die Sie wegklicken – geht es in gewisser Weise genauso. Alle klicken sich gegenseitig weg und zunehmend auf das, was Ihnen gefällt. Dass es dabei immer wieder mal Streit und Reibung gibt, ist das eigentlich Interessante an dem Spiel, denn wie gesagt, jeder Streit ist bares Geld, je mehr Kommentare es gibt, desto besser.
Es ist wie Pingpong, nur dass die Spieler nicht die Bälle schlagen, die dann irgendwo abprallen, sondern selbst die Bälle sind, die hier abprallen und dort aufkommen.
Bis dann schließlich jeder in seiner eigenen Blase angekommen ist, die dann nur noch allem applaudiert, was man von sich gibt. Und nur noch die Dinge sieht, die einem gefallen. Und nur noch die Meinungen erlebt, die einen selbst bestätigen. Das hat dann tatsächlich nicht mehr sehr viel mit Freiheit zu tun, aber dass es so kommt, hat niemand böse vorhergeplant, sondern es ist einfach das Resultat eines Algorithmus, der aufgrund kapitalistischer Prinzipien nach Gewinnmaximierung strebt.
Es ist nicht eine böse Macht oder irgendeine Agenda, die uns versklavt und die Abgründe zwischen uns vergrößert. Es ist einfach nur Resultat einer finanziell lukrativen Strategie, an der wir selbst freiwillig mitwirken.
Willkommen im neuen Analphabetismus.
Willkommen im 21. Jahrhundert.
München, 15.9.2021
Meine Beweglichkeit ist weiterhin eingeschränkt, aber der Schmerz hat etwas nachgelassen. Die neue und überarbeitete Version meines Opernlibrettos ist fertig – hoffentlich kann ich bald mit der Komposition beginnen, mir brennt es schon in den Fingern. Weiterhin viele Gespräche über Sebastian Hess. Langer Videocall mit meinem Trainingscoach Doug Stewart von „Training Peaks“, der mir die mysteriösen Statistiken und Zahlenwerte meiner Trainingsauswertungen entschlüsselt und mir von seinen „Ultra Marathon Mont Blanc“-Erfahrungen erzählt. Bei so etwas könnte ich stundenlang zuhören. Gestern war ich in einer beeindruckenden Veranstaltung des Münchner „Hidalgo-Festivals“, bei der es um das Thema #metoo in der Klassik ging. Selbstverständlich fanden auch Zitate einiger Mitglieder der Bayerischen Akademie der Schönen Künste ausführlich Verwendung. Schade, dass sich zum Beispiel Dieter Borchmeyer nicht angeschaut hat, wie sein berühmt-berüchtigtes Vorwort zur Festschrift für Siegfried Mauser von jungen Tänzerinnen und Tänzern kongenial vertanzt wurde! Oder wie die großartige Sopranistin Ketevan Chuntishvili dazu sang, wunderbar begleitet von Brigitte Helbig am Klavier, in einer sehr guten Inszenierung von Tom Wilmersdörfer mit einem kunstvollen Bühnenbild von Linda Sollacher. Vielleicht mag er mal darüber etwas Nettes schreiben? Aber bitte mit viel fucking „bienséance“, wir bitten drum.
Moritz Eggert
Komponist