Hierarchie

Tagebuch der Wörter (7)

Hierarchie

 

Es gibt viele Themen, die seit Jahren in der klassischen Musikwelt gären und Kontroversen hervorrufen. Am populärsten sicherlich #metoo und Machtmissbrauch, aber auch Geschlechtergerechtigkeit und eine immer größere Kluft zwischen gegenwärtigen Themen und der „Museumskultur“ (die bei vielen Institutionen und Festivals noch dominiert), geben genügend Gesprächsstoff.

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Hinter all diesen Themen liegt aber ein weiteres Thema verborgen, und das ist der Umgang mit Hierarchien. Denn letztlich sind es die Hierarchien, die entscheiden, wo es in Zukunft lang geht und was sich ändern wird. Man kann noch so viel über #metoo diskutieren: wenn die Person an der Spitze der Hierarchie hierfür kein Verständnis hat, im schlimmsten Fall sogar selbst Täter ist, passiert erst einmal gar nichts. Dass an vielen Musikhochschulen die Präsidenten bzw. Rektoren ihre eigenen Wahlleute zusammenstellen dürfen und das Mitspracherecht der Studierenden meistens auf die Organisation von Faschingskonzerten beschränkt ist, versteht man daher immer weniger, vor allem, weil es an den größeren Universitäten schon längst anders ist.

Die kulturellen Institutionen in unserem Land operieren mit Hierarchien, die zunehmend als überkommen wahrgenommen werden.  Zaghaft begannen in den letzten Jahren Prozesse der Hinterfragung: der extrem autoritäre klassische „Maestro“ z.B. gerät in die Defensive, selbst Schwergewichte der immer noch männerdominierten Maestro-Szene kollidieren nun immer wieder einmal mit vielfältigen konkurrierenden Interessen, die sich als genauso mächtig erweisen wie ihre eigenen Machtansprüche (Thielemann ist hierfür ein interessantes Beispiel).

Musikhochschulen und Orchester entstanden vor allem im 19. Jahrhundert, und da sie sich vor allem der Bewahrung einer ganz bestimmten Tradition verpflichtet fühlen, bei der die sich verändernde Gegenwart über die Zeit eine immer geringere Rolle spielte, verwundert es wenig, dass die hierarchischen Strukturen nach wie vor dem 19. Jahrhundert verhaftet sind. Nur neu gegründete Ensembles konnten es anders versuchen, so zum Beispiel das Ensemble Modern, das ein inzwischen von vielen Ensembles übernommenes gemeinsames Mitbestimmungsmodell etablierte.

Nun ist es relativ billig, auf „überkommene hierarchische Strukturen“ zu schimpfen. Denn allein die Wortwahl ist schon schwammig – wie genau definiere ich „überkommen“? Was ist eine „Struktur“ in einer Hierarchie? Man weiß natürlich genau, was an vielen dieser momentan umstrittenen und in der Kritik stehenden Hierarchien nicht in Ordnung ist. Wenn die Anzahl der selbstgefälligen älteren Herren zu groß ist, die keinerlei Veränderung dulden, wenn eine Verwahrlosung der Umgangsformen in Richtung Machtmissbrauch, Spezlwirtschaft und sexuellen Übergriffen evident ist, ist es höchste Zeit, Kritik zu üben, aber es reicht nicht, wenn man das „überkommen“ nennt. Man muss auch Alternativen anbieten.

Vor kurzem hörte ich einen interessanten Podcast über den amerikanischen Unternehmer Tony Hsieh, der auf tragische Weise mit nur 47 Jahren ums Leben kam. Tony Hsieh empfand Hierarchien als unnötig und bedrückend und versuchte in den von ihm gegründeten Firmen das Experiment einer vollkommen hierarchielosen Unternehmensführung. Das ging eine Zeitlang recht gut, scheiterte dann aber spektakulär, weil gerade das Fehlen von Hierarchien auch bedeutete, dass seine eigene Rolle als sanfter und gutmütiger „Boss“ zunehmend aus dem Ruder lief, ohne irgendeine Kontrolle zu erfahren. So umgab er sich zunehmend mit Menschen, die nur noch alle seiner immer abstruseren Ideen abnickten, während die wohlmeinenden und aktiven Mitarbeiter zunehmend frustriert waren, dass sie ihre konstruktiven Ideen in einem chaotischen und nicht zu durchschauenden Umfeld nicht mehr zu Gehör bringen konnten. Hsieh versank zunehmend in seiner Drogensucht und war am Ende nicht mehr von Menschen umgeben, die es wirklich gut mit ihm meinten. Obwohl er nie jemanden herumkommandieren wollte, litt er am Ende darunter, dass er nie Kommandos gab und ihm sein eigenes Leben entglitt.

Hsieh ist dennoch ein sehr interessanter Fall, auch wenn seine Ideen grandios scheiterten. Denn er zeigt uns genau auf, was wir an Hierarchien brauchen, und was nicht. Hierarchien sind tatsächlich eine der Stärken des menschlichen Zusammenlebens, die uns erst gemeinschaftliche Höchstleistungen und soziale Kooperationen ermöglichen. Vor allem, wenn schnell gehandelt werden muss. Wenn es zum Beispiel brennt, ist man ziemlich froh, dass nicht erst einmal lange demokratisch abgestimmt wird, was man unternehmen kann, sondern dass es eine zuständige Feuerwehr gibt, die wiederum eine Hierarchie von Einsatzleitern und Entscheidungsträgern hat. Nur dann kann schnell gehandelt werden. Aber auch das funktioniert nicht immer – so lief vieles bei der jüngsten Flutkatastrophe gerade da schief, wo sich Hierarchien auf andere Hierarchien verlassen. Da warnen die einen (zu Recht), geben diese Warnung an weitere Hierarchien weiter, die diese Warnung dann vielleicht ignorieren oder nicht die richtigen Entscheidungen treffen.

Es gibt aber auch „langsame“ Entscheidungen, bei denen es keinen dringenden Handlungsbedarf gibt, die aber vielleicht Veränderungen der Hierarchie selbst betreffen, oder die Effektivität einer Organisation verbessern können. Solche Entscheidungen brauchen Ideen und Kreativität, und diese gedeihen tatsächlich am besten, wenn auch Menschen, die nicht oben in der Hierarchie stehen, sich einbringen können und man sich dafür auch ein bisschen Zeit lässt.

Eine ideale Hierarchie ist also sowohl in der Lage, eine klare Entscheidungsstruktur zu besitzen, sie muss aber auch ständig einen Freiraum lassen, indem Veränderungen möglich sind und Regeln schnell neu definiert werden können. Auch eine „weiche“ Hierarchie kann eine effektive Hierarchie sein, wenn das Ziel der Arbeitsteilung nicht darin besteht, Posten und Macht für Einzelne anzuhäufen, sondern jeweils die richtigen Personen an die richtigen Stellen zu setzen.  Das ist natürlich leichter gesagt als getan, und hat sehr viel mit Empathie und der Fähigkeit zur Selbstkritik zu tun.

Immer wieder reagieren Menschen in leitenden Positionen extrem aggressiv, wenn ihnen Kritik entgegenschlägt. Gerade in Deutschland erlebt man immer wieder eine extreme Obrigheitshörigkeit und ein Beharren auf „Regeln“ genau in den Momenten, wenn Kritik an der Hierarchie geübt wird. Hiermit wird ein ganz wichtiger Kontrollfaktor der Hierarchie zunichte gemacht, denn wenn eine Person an der Spitze nicht mit Kritik umgehen kann, hat sie höchstwahrscheinlich nichts auf dieser Position verloren, leider sorgt aber gerade das Beharren auf der Hierarchie dafür, dass diese Person an der Spitze bleibt und alle nervt. Daher kommt auch der Frust an den „alten weißen Männern“ (die auch weiblich sein können) – sehr schnell wird hier eine generelle Defensivhaltung praktiziert, die in komplette Uneinsichtigkeit gegenüber eigenen Fehlern mündet. Dabei wäre der Umgang mit diesen Fehlern gar kein Gesichtsverlust – der Gesichtsverlust selbst ist nur eingebildet, da er allein aus der Verteidigung einer abstrakten Autorität heraus entsteht, bei der man sich angeblich keine „Blöße“ geben darf.

Wenn es aber wiederum gar keine Hierarchie gibt, läuft auch jede Kritik ins Leere, denn dann fehlt ein Adressat für diese Kritik. Denn wenn es keine klare Aufteilung der Aufgaben gibt, fühlt sich niemand verantwortlich dafür, wenn etwas schiefläuft. Beide Extreme – die autoritäre Hierarchie und das antiautoritäre komplette Fehlen derselben sind nicht wünschenswert.

Genau wie bei den von mir schon besprochenen „Regeln“ ist das Ideal einer effizienten Organisation eine „weiche“ Hierarchie, mit kurzen und direkten Ansprechwegen und regulierenden Instanzen, die ständig für eines sorgen: dass man nie die Hierarchie selbst für wichtiger erachtet als das Aufgabenfeld, wegen dem die Hierarchie überhaupt existiert. Hierarchien sind ein Mittel zum Zweck, kein Selbstzweck. Und genau das ist das, was viele alteingesessene Hierarchien gerade in der klassischen Musik noch nicht verstanden haben.

Aber hoffentlich ist es ein Lernprozess.

Göteborg/München 7.9.2021

Morgens längeres Gespräch mit dem Büro des DKV, langsames Wiedereinfinden ins Präsidentenamt nach zu kurzer Sommerpause. Langes Warten an einem Kaffeestand – nachdem ich 30 Minuten zuschauen durfte, wie der einzige an der Theke 60 Smörebröds, 35 Smoothies und 40 Cappuccinos zubereitet, ohne dass irgendein Gast zu sehen ist, der dies bestellt hat (mich dabei beharrlich ignorierend und noch nicht einmal zur Kenntnis nehmend), gebe ich es auf und besuche ein anderes Etablissement. Der Flug ist verspätet, weil es wohl einen Polizeieinsatz im ankommenden Flugzeug gab. Ein grimmig und bullig einher schauender Mann mit Polizeibegleitung trottet aus dem Flieger, in der Hand einen Gitarrenkoffer. Was war sein Verbrechen? Verweigerte er sich einer Corona-Anordnung? Haute er die Gitarre seinem Nachbarn über den Kopf? Man soll ja nicht denken, dass alle Musiker Heilige wären. Im Flieger mal wieder Lachs als einzige Essensoption. Da ich die Kotztüten von Air Dolomiti nicht benutzen will, muss ich passen. Zu allem Überdruss läuft R. Kelly in Dauerschleife mit „I believe I can fly“, was ein bisschen wie aus der Zeit gefallen scheint. I believe I can puke. I believe I will not hau the Gitarre on the Kopp of mei Nachbar. Zwei sehr coole Schauspieler haben das Zeitliche gesegnet. In Deutschland scheint die Sonne, ein eindeutiges Zeichen dafür, dass der entsetzliche Sommer vorbei und nun endlich Herbst ist.

 

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