Die Kunst nach Corona wird eine andere sein als zuvor („Was kommen wird“, 4. und letzter Teil)

Inzwischen sollten vielleicht auch die größten Zweifler begriffen haben, dass die Welt es bei Covid-19 nicht mit einer vorübergehenden übertriebenen Panik zu tun hat, sondern dass die Pandemie im Begriff ist, auf unabsehbare Zeit zu einem Dauerthema zu werden, das unsere Gesellschaft verändern und auch lange prägen wird. Hier jetzt detailliert vorherzusagen, was genau in den kommenden Jahren deswegen an Veränderungen passieren wird, wäre vermessen – zu groß sind die Ungewissheiten. Aber inzwischen leben wir schon lange genug mit der Situation, dass sich bestimmte Tendenzen absehen lassen. Nach einigen Monaten der Corona-Krise ist es vielleicht Zeit für eine vorsichtige Bestandsaufnahme, was auf Musikschaffende in zum Beispiel Deutschland zukommen könnte. Eine Serie.

 

Die Kunst nach Corona wird eine andere sein als zuvor

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Es sieht nicht gut aus, was eine baldige Rückkehr zu einem „Normalzustand“ im Musikbetrieb angeht Vielleicht wird es diese Rückkehr auch nie zu 100% geben. Die jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse sind eher deprimierend – Musizieren ja, aber unter komplizierten Auflagen und weniger Publikum. Stets droht ein Aufflammen neuer Infektionsherde, schon geplante Konzerte können jederzeit abgesagt werden, weil irgendjemand im Ensemble Kontakt mit Infizierten hatte usw. Es ist schon jetzt klar, dass dies Dauerthema für lange Zeit bleiben wird.

Das Konzert als Erscheinungsform von musikalischer Kunst ist dabei auf ganz grundsätzliche Weise herausgefordert, denn in der gesamten Geschichte der Menschheit erfüllte Musik immer eine Funktion in irgendeiner Form von sozialem Kontext, einer Zusammenkunft von Menschen, als Teil eines religiösen Rituals, als repräsentative Hofmusik, als Salonmusik, Tafelmusik, Tanzmusik, Hausmusik oder als Opernaufführung, bei der sich die Gesellschaft trifft. Stattdessen haben wir es nun mit beeinträchtigten Aufführungsformen unter strengen Hygienebedingungen zu tun, die es allemal erlauben, vielleicht in kleinem Kreis nachher noch etwas zu trinken, denen es aber grundsätzlich an Entspanntheit fehlt. Wann es diese Entspanntheit wieder geben wird, ist vollkommen ungewiss.

Ein Neue Musik – Konzert ist nicht nur ein musikalisches Ereignis, es ist auch ein soziales Ereignis. Würde man in Donaueschingen oder bei den Darmstädter Ferienkursen verbieten, dass man in der Pause miteinander redet, dass man sich nachher im Lokal trifft und leidenschaftlich über die neuen Uraufführungen diskutiert, wäre es nicht mehr dasselbe. Man reist nicht nur an, um die Musik zu hören, man reist auch an, um Freunde und Kollegen zu treffen, sich auszutauschen und zu informieren, auch die Geselligkeit spielt eine Rolle. Das sind keineswegs Nebenaspekte, sie sind vielleicht sogar so wichtig wie die Musik selbst (was nicht bedeuten soll, dass die Musik unwichtig ist, ganz im Gegenteil, sie ist Katalysator dieses sozialen Ereignisses).

Die gestreamten Konzerte können rein technisch immer besser werden, zumindest in der Theorie. Es ist möglich, immer bessere Sound- und Aufnahmequalität zu haben, vielleicht sind irgendwann virtuelle Brillen Standard, die uns ein perfektes audiovisuelles Äquivalent des „Liveerlebnisses“ vermitteln, aber dennoch – das Wichtigste fehlt.

Ich persönlich würde tatsächlich jederzeit lieber eine gute Serie auf Netflix anschauen als einen coronabedingten Livestream eines Neue-Musik-Festivals. Was nicht bedeutet, dass mir die Musik des Neue-Musik-Festivals nicht gefällt, ganz im Gegenteil. Nur bietet mir Netflix etwas an, das für das streaming-Medium perfekt produziert und konzipiert wurde und auch auf diese Weise am besten konsumiert wird, wogegen das Neue-Musik-Festival sich in einem Medium präsentiert, das gar nicht sein natürliches Territorium ist. Es wäre sehr unfair, von dem gestreamten Festivalkonzert zu verlangen, ein ihm nicht eigenes Medium sofort so perfekt zu bedienen, dass es mit einem schon etablierten Darbietungsformat konkurrieren kann.

Dasselbe gilt im Grunde für die gesamte gigantische Flut von Musik-Livestreams aus aller Welt, die wir täglich im Überangebot haben, meistens auch noch im Gegensatz zu Netflix auch noch vollkommen umsonst, was den Wert zusätzlich schwächt. Und so befindet sich die Musikbranche irgendwo zwischen Skylla und Charybdis – schweigt sie, fürchtet sie Bedeutungsverlust, meldet sie sich zu Wort, findet sie zu Bedingungen statt, die ihr nicht wirklich nützen, sondern eher schaden.

Und was will Kunst eigentlich im Moment am meisten sein? Experiment, Konzept, Ablenkung, Trost? Wie kann ich zum Beispiel radikale und provozierende Performance-Kunst machen, wenn der Betrachter jederzeit seinen Computer abschalten kann und sich damit der wesentlich spannungsreicheren und kommunikativeren Situation der tatsächlichen Anwesenheit entzieht? Auch Buhs und Bravi gehören zu einem Kunstwerk, die Rezeption ist Teil der ästhetischen Erfahrung. Ein fantastisches Bühnenbild einer Operninszenierung kann auch überwältigendes Spektakel sein, aber auf dem 16:8-Format eines normalen Computermonitors läuft ihm selbst das billigste Computerspiel den Rang ab, da das Spiel speziell für dieses Format konzipiert wurde, das Bühnenbild aber für das Liveerlebnis.

Welchen Fokus wird Kunst also setzen in diesen Zeiten? Werden sich Hörgewohnheiten und auch Konzertgewohnheiten grundsätzlich ändern, wird es ästhetische Neuausrichtungen geben? Oder einen endgültigen Ausverkauf dessen, was klassische und neue Musik ausmacht?

Was wir tun können

Kunst wird weder besser noch schlechter im Lauf der Jahrhunderte. Versuche, ihr eine Art Fortschrittlichkeit unterzuschieben, also zu behaupten, dass die Kunst späterer Zeiten der Kunst früherer Zeiten überlegen ist, sind immer fragwürdig.

Die Malerei des Mittelalters kannte keine Zentralperspektive, aber ist sie deswegen „schlechter“ oder weniger bedeutend als spätere Kunst? Sind die Kompositionen der Notre Dame-Schule unbedeutender als heutige Kompositionen, denen digitale Medien und elektronische Mittel zur Verfügung stehen? Ganz sicher nicht.

Was aber sicher ist: Kunst verändert sich. In der Malerei gibt es den Begriff der „Bedeutungsperspektive“, die auch dem kindlichen Malen eigen ist: Die Dinge sind so groß in der Darstellung, wie es die die hierarchische Bedeutung im Kontext des Abgebildeten fordert, Unwichtiges ist kleiner, Wichtiges größer. Und so verändert sich auch in der Kultur die Perspektive auf die Wichtigkeit bestimmter Themen, sehr oft auch in kompensierender Weise.

In der von strenger Bürokratie, preußischer Zucht, und Scheinheiligkeit geprägten wilhelminischen Zeit entstand zum Beispiel erst der Nährboden für das satirische Magazin „Simplicissimus“ – ohne diesen abstrakten „Gegner“ wäre der künstlerische Impuls der Gründung eines solchen Magazins nicht  so stark gewesen, wäre die politische Karikatur nicht so sehr in den Mittelpunkt gerückt, um eine Glanzzeit in diesem Magazin zu erleben.

Typisch für solche Paradigmenwechsel sind auch ästhetische Distanzierungen – so strebte die Musik der „Group des Six“ eher Nüchternheit und eine Rückbesinnung auf klassischere Formen an, um sich von der „parfümierten“ Ästhetik der Spätromantik zu distanzieren. War das vorherige besser, oder das spätere? Vollkommen unwichtig, man reagierte auf Tendenzen der Zeit, das Pendel schwingt in die eine oder in die andere Richtung.

Krisen wirken in solchen Situationen als Brandbeschleuniger – sie bringen Dinge in Fahrt, die vorher stagnierten oder sich wie in Zeitlupe entwickelten. Schon jetzt kann man sicher sagen, dass Corona ein solcher Brandbeschleuniger sein wird.

Wenn ich also – wie in einigen meiner letzten Artikel – von einer z.B. wahrscheinlich wachsenden Bedeutung von Emotionalität in der Kunst spreche, was Tendenzen der kommenden Zeit angeht, so meine ich keineswegs eine Rückbesinnung auf Kitsch und „hübsche Musik“ (wie es missverstanden wurde). Sondern ich vermute einfach nur, dass das, was ich oben als „soziale“ Komponente musikalischer Aufführungen beschrieben habe, eine Leerstelle erzeugen wird, die vielleicht nur Musik (und Kunst) füllen kann.

In einer Zeit der Paranoia, Masken und Ängste sprechen schon jetzt Psychologen von einem deutlichen Zuwachs an Neurosen und Depressionen bei Menschen aller Altersgruppen. Wir brauchen alle dringend menschliche Nähe und den Austausch, aber nun ist dieser selbst im lockeren Umgang unter einer Art Generalverdacht, der uns belastet. Als Menschen gehen wir damit unterschiedlich um – einige flüchten sich in wirre Mythen, da ihnen alles zu viel wird, andere verfallen in eine Art Polizeimentalität, belastet sind wir aber alle von der Situation. Und sie wird noch eine Weile andauern.

„Nähe“ wird daher ein größeres Thema werden in der Kunst, und damit ganz sicher auch in der Musik. Aber „Nähe“ und „Emotionalität“ sind nur einige von vielen Themen, die jetzt durch die Umstände in der Luft liegen, die hellhörigen unter den KünstlerInnen werden diese vielen Themen aber ganz sicher zum zentralen Bestandteil der Werke machen, die sie in den kommenden Jahren schreiben werden. Und diese Werke werden sehr anders sein allein schon dadurch, dass andere Dinge wichtiger geworden sind.

Gleichzeitig wird der Druck zunehmen, alternative Formate zu entwickeln, die die momentanen Umstände als Chance benutzen. Hierbei ist der „Konzertstream“ oder das „distanzierte Konzert“ ganz sicher noch nicht das letzte Wort. Grundsätzlich wird sich auch drängender die Frage stellen, für wen man das eigentlich alles macht – macht man Konzerte, um den „Laden am Laufen zu halten“, also sich das Recht zu erarbeiten, auch in Zukunft Fördergelder zu bekommen, oder macht man es vielleicht wieder vermehrt, weil man etwas wichtiges mitzuteilen hat? Und wem will man es mitteilen?

In der Welt der unabhängigen (also nicht kommerziellen) Popmusik ist in den letzten Jahrzehnten viel Interessantes geschehen, auch musikalisch. Immer mehr Bands sind ihr eigenes Kommunikationsmodell, sie agieren vollkommen unabhängig von Labels und Verkaufszwängen, bauen sich ihre eigenen Netzwerke von „Fans“, die dann die neuen Projekte auch finanziell unterstützen. Die Musik von einer (jüngst durch das exzellente Computerspiel „Disco Elysium“ bekannter gewordenen) Band wie z.B. „British Sea Power“ ist keineswegs einem Massenpublikum geläufig, die Band kann sich aber auf eine große Fanbase berufen, die sie treu bei ihren Projekten unterstützt. Die Künstler genießen dabei große Unabhängigkeit und Freiheit, sie beugen sich keinerlei Zwang oder öffentlicher Erwartung – „British Sea Power“ wechselt zum Beispiel auf jeder ihrer Platten komplett ihren Stil, weil es niemanden gibt, der ihnen vorschreibt, ein bestimmtes „Produkt“ zu liefern. Das sind sehr gute Voraussetzungen für Musiker.

In Ansätzen sind solche Modelle in der Neuen Musik schon vorhanden – vielleicht wird Corona diese Entwicklung beschleunigen und damit die bisherigen Förder- und Aufführungsmodelle verändern.

Eines aber ist sicher: der intensivere Kontakt mit dem Publikum wird gerade dort eine größere Rolle spielen, wo eben dieses Publikum nicht mehr kommen kann.

Wie wir diesen Kontakt gestalten und was wir zu erzählen haben, liegt aber allein an uns, den KünstlerInnen.

 

Moritz Eggert

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