Der Virus und die Klassik. Versuch einer Prognose.

Nicht immer so harmlos wie hier im Spiel "Cosmic Encounterr": Der Virus

Nicht immer so harmlos wie hier im Spiel „Cosmic Encounterr“: Der Virus

 

In dem gerade uraufgeführten Stück „Etude for an Emergency“ von Florentina Holzinger (Münchner Kammerspiele) bringen sich ein Dutzend nackte Frauen (darunter Stuntdarstellerinnen und Opernsängerinnen) immer wieder aufs Neue auf schrecklichste Weise um. In einer besonders eindringlichen Szene singen sie dabei ein Arrangement von „Der Tod und das Mädchen“ von Schubert, während sie sich in Zeitlupe massakrieren. Das ist natürlich alles nur „Theater“, Katharsis durch künstlerische Stilisierung.

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Der einen oder anderen Zuschauerin wird bei dieser Szene aber – schon überschattet von der CoVID19-Krise, die auch bei der Premierenfeier Hauptthema war – vielleicht die Assoziation „Der Tod und die Klassik“ gekommen sein. Eine „Etüde für einen Notfall“ ist ohnehin exakt das, was gerade in diesem Moment passiert.

Ich fühle mich nicht befugt, eine professionelle Analyse über die Überschätzung oder Unterschätzung der momentanen Virus-Krise ausgerechnet in einem Musikblog anzubringen. Ich bin froh, dass ich nicht wie unser Gesundheitsminister in öffentlichen Verlautbarungen die feine Linie finden muss, die Panische wie auch Sorglose zufriedenstellt und einigermaßen beruhigt. Meine Vermutung ist – so viel Einschätzung darf sein – dass die Wahrheit über die Gefahren des Virus irgendwo in der Mitte liegt. Weder wird es sich zu einem apokalyptischen Horrorszenario wie in Stephen Kings „The Stand“ ausweiten (das dennoch als Buch auf eine unheimliche Weise prophetisch wirkt im Moment), noch wird es sich als komplett harmloses Intermezzo erweisen. Schon zu lange wiederholen ernstzunehmende Experten immer wieder, dass sie die Gefahren einer Pandemie für real halten, ohne dass sie gleichzeitig Verschwörungstheoretiker sind.

Was sich jetzt aber schon sicher sagen lässt: die momentanen Entwicklungen werden für die klassische (und damit auch neue) Musik Konsequenzen haben. Und ich fürchte, wir müssen uns darauf gefasst machen, dass in den nächsten Monaten einige Verwerfungen auf uns zukommen, die gerade die Freiberufler unter uns besonders gefährden.

Wie man hier nachlesen kann, schlagen die Konzert- und Tourneeveranstalter schon jetzt verständlicherweise Alarm, und je länger der momentane Zustand anhält, desto mehr ist zu befürchten, dass nicht alle diese Krise finanziell meistern können. Das ist natürlich nicht nur ein Problem der klassischen Musik, sondern aller Kultur- und natürlich auch Sportveranstaltungen. Die Absagen (wie zum Beispiel eben gerade bei der Leipziger Buchmesse) werden voraussichtlich nur der Anfang einer Welle sein, die besonders die fragile klassische Musikszene treffen wird. Viele CD-Labels fahren inzwischen eine Politik, die eher der einer klassischen Konzertagentur ähnelt – die Einnahmen, die durch den weiterhin rückgängigen Verkauf von CDs und des nach wie vor nicht hochlukrativen Geschäfts mit Streaming weggefallen sind, werden inzwischen oft mit prozentualen Beteiligungen an Konzerthonoraren- und Einnahmen aufgefangen. Wenn hier über mehrere Monate die großen Events ausfallen, trifft das viele sehr hart. Aber dies natürlich nicht nur auf Starebene – auch die vielen freiberuflichen Künstler, die zum Beispiel als Gäste regelmäßig bei Festivals oder auf Opernbühnen auftreten, verlieren plötzlich ihr komplettes Einkommen, da „höhere Gewalt“ eine Auszahlung verhindert.

In der Schweiz – bisher von Ansteckungsfällen eher verschont – hat man aus der typischen Schweizer Übervorsicht heraus, über die wir uns manchmal lustig machen (braucht wirklich jedermann einen Atombunker im Keller per Gesetz?), die wir aber insgeheim auch bewundern, schon längst entschlossen, alle Veranstaltungen von 1000 oder mehr Personen grundsätzlich abzusagen. Manche Theater lösen das Problem, indem sie nur 900 Personen hineinlassen, aber das wird auf Dauer auch keine Lösung sein.

Alles wird davon abhängen, wie sich die Erkenntnisse um die Tödlichkeit und die Bekämpfungsmöglichkeiten des Virus entwickeln. Wird im Frühjahr wie bei anderen Grippeviren Ruhe einkehren? Man hofft es, weiß es aber nicht wirklich sicher. Wird der Virus dann im nächsten Winter doppelt schlimm zuschlagen? Man fürchtet es, es muss aber nicht so kommen.

Bei all den verschiedenen Theorien und oft dubiosen Ratschlägen, die von selbst ernannten „Experten“ im Moment ausgesprochen werden, kommt mir doch zumindest ein Gedanke in Bezug auf das typische klassische Musikpublikum, der bisher nicht geäußert wurde: Ist es nicht beunruhigend, dass das Virus anscheinend exakt dasselbe „Zielpublikum“ hat wie klassische Musik?

Ja, es sind nämlich vornehmlich ältere Menschen, die besonders gerne in klassische Konzerte gehen, nicht, weil klassische Musik nur etwas für alte Menschen ist, sondern weil ältere Menschen nach dem Ende ihrer Berufstätigkeit einfach mehr Zeit haben, nach z.B. Bayreuth oder Salzburg (oder Donaueschingen) zu pilgern, und es natürlich auch insgesamt einfach mehr ältere und aktive Menschen gibt als früher (diese etwas pessimistischere Auslegung hier würde mir hier widersprechen). Die 60-69jährigen bilden den Großteil des Klassikpublikums, das ist ein Fakt. Was ist, wenn diese nicht nur wegbleiben, weil die Konzerte ausfallen, sondern auch, weil sie tatsächlich physisch hochgefährdet sind und lieber zu Hause bleiben? Oder gar tatsächlich diese Generation besonders von Krankheit betroffen ist? Wie wird das Festspiele und Klassik-Großveranstaltungen wie Open Airs z.B. verändern?

Wer jetzt denkt, dass neuer Musik hier nicht so viel Gefahr droht, hat gleichzeitig Recht und Unrecht. Klar, die Avantgarde tritt nicht gerade mit gigantischen Stadionkonzerten wie einst bei den Drei Tenören in Erscheinung, und ihr Publikum dürfte etwas jünger im Schnitt sein. Aber viele ihrer Hauptprotagonisten sind im Rentenalter oder darüber (gerade eben machte sich das verdiente Ensemble Modern in der FAZ ernsthafte Sorgen um die Altersversorgung seiner Gründungsmitglieder, die inzwischen auch keine jungen Hüpfer mehr sind). Auch die grundsätzliche Musikausbildung ist bei Avantgarde-Musikern eng verzahnt mit der der klassischen Musik. Zudem sind viele Konzertreihen mit zeitgenössischer Musik auch integriert in Orte oder Festivals, die sich mit traditionellem klassischen Repertoire „absichern“ (und sich daher auch Modernes leisten können). Allein die subventionierte „Freie Szene“ mit Konzerten in kleinerem Rahmen wird die Krise einigermaßen gelassen aussitzen können, aber von denen in dieser Szene üblichen Honoraren können die wenigsten leben. Und was ist, wenn Bund und Länder die in den letzten Jahren eher wieder generöse Kulturförderung wegen aufwändigen Konjunkturprogrammen für die Wirtschaft dramatisch herunterfahren müssen? Es ist schon jetzt glasklar, dass schon die wenigen Wochen, in denen CoVID19 sich zur globalen Krise verwandelt hat, wirtschaftliche Konsequenzen haben werden. Auch das wird die Klassik betreffen.

Und es gibt auch skurrile Nebenschauplätze: Schon stellen einzelne Musikhochschulen Anfragen, wie man mit den kommenden Aufnahmeprüfungen oder überhaupt mit dem Semesterbeginn umgehen soll.  Worüber selten offen gesprochen wird: der Anteil an Asiaten an deutschen Musikhochschulen ist extrem hoch, die meisten davon inzwischen aus den am schwersten betroffenen Ländern China und Südkorea. Viele dieser Studentinnen und Studenten machen in den Semesterferien Urlaub in ihren Ländern, tausende reisen auf der Suche nach einem Studienplatz zu den Aufnahmeprüfungen an. Werden sie dieses Jahr wegbleiben? Wird man sie überhaupt in die Hochschulen lassen, bevor sie nicht eine wochenlange Quarantäne hinter sich gebracht haben? Schon jetzt werfen irgendwelche Idioten Japaner in Leipzig aus einem Fußballstadion, weil sie ihren Alltagsrassismus nun mit vollkommen übertriebener Angst vor Viren begründen können, der eine oder andere Professor wird nun auch in vollkommen übertriebene Panik geraten beim typischen Ansturm der asiatischen StudentInnen im Mai/Juni zu den Aufnahmeprüfungen. Wenn sie denn überhaupt kommen können.

Natürlich sind das jetzt alles erst einmal Gedankenspiele. Keiner weiß wirklich, was kommen wird – die Situation könnte sich überraschend beruhigen, es könnte schlimmer werden, man weiß es nicht genau. Aber es lohnt sich schon jetzt sich Gedanken darüber zu machen, wie vieles, was wir in der Klassikwelt als „gesichert“ abgespeichert haben, eben doch sehr abhängig ist von einem komplexen Netz aus äußeren Begebenheiten, die sich jederzeit dramatisch ändern können. Es macht überhaupt keinen Sinn, hier zum Schwarzseher oder übertriebenen Pessimisten zu werden, aber vielleicht haben die Schweizer doch ein bisschen Recht mit ihrem „better safe than sorry“-Ansatz, und vielleicht müssen wir auch darüber nachdenken, ob das schon vom „Lamenting Conductor“ kritisierte „Klassiksystem“ so flexibel ist, dass es auf eine solche Krise angemessen reagieren kann.

Wie auch immer: Hoffen wir das Beste.

 

Moritz Eggert

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