139. Oder: wie alt sind die Opern im Durchschnitt, die an deutschsprachigen Häusern gespielt werden?

139.

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Das ist das durchschnittliche Alter einer Oper, die an einem deutschsprachigen Opernhaus eine Premiere erlebt. Ich habe das Alter aller Opern zusammengezählt, die in der Spielzeit 17/18 eine Premiere erlebt haben oder erleben werden. Der Mittelwert ist 139.

Vor 139 Jahren – im Jahre 1879 – durften Frauen noch nicht wählen und mussten ihren Mann um Erlaubnis fragen, wenn sie arbeiten wollten. Kinder wurden nach wie vor mit Rohrstöcken in der Schule gezüchtigt und Homosexualität stand unter schwerster Strafe. In Deutschland – wie quasi überall in der Welt – gab es noch die Todesstrafe und die Kinder siezten die Eltern. In den USA war gerade Mal eben die Sklaverei abgeschafft worden und es herrschte nach wie vor strengste Rassentrennung, auch noch viele Jahre später. Viele soziale Veränderungen die heute unsere Gesellschaft prägen, waren den Opernkomponisten von damals zwangsläufig nicht bekannt. Sie wussten noch nichts von Gender-Debatten, von Naturschutz, von Christopher-Street-Day, Raumfahrt oder dem Internet, daher kommen diese Themen auch in deren Opern nicht vor.

139 ist das Durchschnittsalter einer Oper, die heute eine Premiere an einem deutschsprachigen Opernhaus erlebt. Nur in heutigen Opernhäusern werden – anders als in Theatern oder Kinos – vorwiegend und zu einem großen und übermächtigen Prozentsatz alte Stücke aufgeführt. Keine andere Kunstgattung als die Oper ist so museal, keine andere Kunst gibt dem Alten einen so großen Raum, dass das Neue quasi permanent an die Wand gedrückt wird. In Frankfurt am Main gibt es einen Konzertsaal, der „Alte Oper“ heißt, nur werden dort normalerweise keine Opern gespielt, sondern Konzerte. Die Opernhäuser unseres Sprachraumes sind allerdings allesamt „Alte Opern“, und sollten sich daher auch so nennen. „Alte Staatsoper“. „Altes Stadttheater“. Das wären realistische Namen für Institutionen, die zu einem großen Prozentsatz 139 Jahre alte Stücke aufführen.

Unendlich viel Energie wird aufgewendet, alte Opernthemen auf neu zu „pimpen“. Das spielt „La Traviata“ auf dem Mond (oder in einem KZ auf dem Mond) und das Rheingold wird zu einer Allegorie auf die Lehman Brothers umgedeutet. Ein Teil des Publikums applaudiert, der andere Teil buht, und man fragt sich ständig, was das Alles eigentlich soll. Warum man nicht die alten Stücke intakt lässt, damit sie wieder als großartige Operntradition bewundert werden können, aber die neuen Themen doch lieber den Künstlern überlässt, die tatsächlich heute leben. Das ist auf jeden Fall besser, als Antworten auf die heutigen Themen von Stücken zu erzwingen, die diese nicht geben können.

Ein gerade bei den heutigen Debatten dringliches Argument ist auch das veraltete Frauenbild, das zwangsläufig in den früheren Opern vorherrscht. Sind das wirklich zeitgenössische Frauenfiguren, die uns hier begegnen? Die Operngeschichte ist voll mit unendlich leidenden, höllisch verruchten oder über alle Maßen heiligen Frauen, die meistens am Ende der Opern tragisch dahinsiechen müssen und wenig mehr sind als Projektionsflächen männlicher Phantasien. Auch die Libretti sind zu 99,9% von Männern geschrieben, also verwundert das nicht besonders. Man sollte den Komponisten der Vergangenheit nicht zum Vorwurf machen, dass sie Kinder ihrer Zeit waren, und man muss die alten Geschichten auch nicht krampfhaft auf „modern“ trimmen, denn sie sind lebendige Dokumente einer anderen Zeit. Aber ein Gegengewicht von neuen Stücken, die z.B. Frauen unserer Zeit zeigen und auch deren Probleme realistisch thematisieren, wäre doch mehr als erfreulich. Die Literatur wäre zum Beispiel nichts ohne die vielen starken Autorinnen, die dazu beitrugen, und das schon seit vielen hundert Jahren. Aber in der Oper ist die Zeit stillgestanden, nach wie vor herrschen hier Moralvorstellungen vor, die keinerlei Bezug mehr zum Heute haben. Wie sollen sich junge Hörer von heute dafür begeistern?

Ein häufiges Argument ist, dass die alten Opern einfach so schön sind, dass man eigentlich gar nichts anderes mehr braucht, vor allem nichts, was heute produziert wird. Dieses Argument ist Bullshit. Da könnte man genauso sagen, dass es schon 1920 so viele tolle Filme gab, dass man eigentlich keine neuen mehr braucht. Man müsste dann bis heute in den Kinos die Meisterwerke von Eisenstein, Lang oder Chaplin zeigen, denn die haben ja wirklich sehr, sehr tolle Filme gemacht. Man macht das aber nicht – die alten Filme haben ihren ruhmreichen Platz im Pantheon der Filmgeschichte, aber man braucht auch die neuen Filme, die einem etwas über das Leben von Heute erzählen. Würde man im Kino ausschließlich die Meisterwerke von den Anfängen der Filmkunst zeigen, wäre das Publikum bei aller Liebe schnell gelangweilt.

1879 gab es schon eine riesige Anzahl von Meisterwerken im Opernrepertoire. Auch damals hätte man schon aufhören können, neue Opern zu spielen. Es kam aber dann doch einiges, z.B. Puccini, ohne den kaum ein Opernrepertoire heute auskommt. Und egal wie viel die Traditionsfanatiker schimpfen mögen: Auch in der Zukunft wird es neue Puccinis, neue Wagners, neue Mozarts geben. Und wenn es sie nicht gibt, sind genau die fortschrittsfeindlichen Traditionsfanatiker daran schuld, denn sie haben ihnen keinen Platz gelassen. Das ist das, was man eine „self-fulfilling prophecy“ nennt: man schimpft über die angeblich schlechte Qualität neuer Opern, bis für diese kein Platz mehr bleibt, und sich auch mangels Gelegenheiten und gesunder Konkurrenz keinerlei Qualität mehr entwickeln kann.

139. Das ist eine Zeitspanne, die länger ist als ein Menschenleben. Die älteste Frau der Welt starb mit 122 Jahren. Selbst sie hätte sich an keine einzige Uraufführung erinnern können aus der Zeit, aus der die meisten gespielten Opern stammen. Selbst für sie wären alle diese Stücke schon ferne, nicht mehr erlebte Geschichte gewesen.

Und wenn sich nichts ändert, wird diese Zahl anwachsen. Die Opern werden immer älter werden, bis sich kaum noch jemand daran erinnert wie es einmal war, als tatsächlich noch neue Opern entstanden. Im Jahr 2100 wird man dann Opern hören, die meistens 222 Jahre alt sind. Im Jahre 2200 sind sie dann 322 Jahre alt. Die Opernhäuser werden inzwischen Staub angesetzt haben, man muss sich durch ganze Quadratkilometer von Spinnweben hindurchkämpfen, bis man das Foyer erreicht. Die Opernbühne ist voller Mumien, die allesamt „Nessun Dorma“ singen, als ewiger Zombiechor. Aber der Titel stimmt nicht mehr. Es müsste „tutti dormano“ heißen,

Und dann ist es endlich gut. Oder auch nicht.

Moritz Eggert

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4 Antworten

  1. Das Problem liegt m.E. darin, dass die Tonsprache der letzten hundert Jahre nur wenigen Leuten gefällt und aller Voraussicht nach auch keine Renaissance erleben wird. Das Bedürfnis nach nachsingbarer Melodie und Harmonie ist aus den Menschen wohl nicht herauszukriegen, zumal es ja auch von Filmmusik, Musical, Schlager und Pop beständig weiterbedient wird. Deshalb legen Regisseure, die zeitgemäßes Musiktheater machen wollen, in ihrer Verzweiflung 150 Jahre alte Musik unter ihre avantgardistischen Inszenierungen. Da wären Kompositionsaufträge an moderne Komponisten die bessere Lösung, sofern diese ihre Tonsprache wieder darauf ausrichten, dass sie sich dem normalen Hörer mitteilt.

  2. @Lorenz Kerscher: „Die Tonsprache der letzten hundert Jahre“ ist – wenn ich das sagen darf – eine zu verallgemeinernde Formulierung. Die Musikgeschichte der letzten 100 Jahre kann nicht auf bestimmte angeblich „publikumsfeindliche“ (auch diese Formulierung wäre diskussionswürdig) Stile reduziert werden, dazu gabe es zu viele ästhetische Ansätze. Ist Janacek „publikumsfeindlich“? Ist es Britten, Bartok? Ist ein Stück wie „Nixon in China“ (John Adams) tatsächlich so „schrill“, dass es das Publikum verschreckt (Tatsächlich ist es eine sehr unterhaltsame Oper, die selbst Opernhasser zu begeistern vermag)? Sind Kurt Weills „Street Scene“, „Silbersee“, „Mahagonny“ schrecklich anzuhören? Sind die wunderbaren Melodien von „Yolimba“ (Wilhelm Killmayer) nicht gut genug? Es gibt ja die Stücke, die Sie fordern, und zwar schon längst…daher wäre eine strukturelle Diskussion viel wichtiger als eine inhaltliche, denke ich.

  3. Anton Zinkl sagt:

    Schöne Musik ist zeitlos, Geschichten über Menschen sind jedoch an ihre Zeit gebunden. Daher muss man sich als Opernfreund leider meist völlig veraltete und wenig originelle Inhalte ansehen, wenn man die Musik live hören will. Und manche Regisseure fangen an zu spinnen, weil sie sich vielleicht auch selbst langweilen. Als ich vor ein paar Jahren Beethovens Fidelo in München gesehen habe, trat am Schluss ein als Joker (siehe Batman) gestylter Minister auf. Joker immer gerne, aber dann bitte in einer Batman-Oper, die allerdings niemand schreibt.
    Ich finde es auch traurig, dass man kaum Opern aus dem 20. Jahrhundert zu sehen bekommt, und erst recht kaum eine aus den letzten 50 Jahren. Aber es liegt wohl wirklich an der Musik, die die meisten Leute, die sich Oper finanziell leisten können, nicht aushalten wollen. Spannende tonale Musik oder zumindest Musik a la Hindemith und Genzmer würde ich mir wünschen, aber so ein Werk wie Schlachthaus 5, welches ich 1996 gesehen habe, würde ich mir sicher nicht nochmal antun. Noch dazu ist die kommerzielle Rock- und Popmusik in den letzten Jahrzehnten musikalisch so degeneriert (wenn man sie vergleicht mit den Kompositionen aus den 60er und 70er Jahren), dass das Musikverständnis für nur ein wenig Anspruchsvolleres der bereits heute 35-Jährigen gegen Null geht. Wie sollen die denn Opern kapieren, mit Musik aus völlig anderen Dimensionen? Oper nur für Musikstudenten ist halt zu kostspielig. Die musikalische Innovation hat in allen Bereichen ihren Zenit längst überschritten. Daher spielt man lieber immer wieder den ganz alten Schmarrn. Tragisch.

  4. Stefan Pohner sagt:

    Das Problem fängt ja in den klassischen Konzerten an, die in dieser Hinsicht einen pädagischen Auftrag haben sollten – und ihn häufig genug nicht erfüllen. Natürlich können zeitgenössische Kompositionen fordern (und sollten dies auch). Aber sie können auch überfordern. Und da wären Konzerte, die an Komponisten der Gegenwart heranführen, von großer Bedeutung.
    Wie sieht es eigentlich überhaupt mit Kompositionsaufträegn für Opern aus? Welche Gelder gibt es hier? Auch nicht unentscheidend…