KRANK | WILD | ERREGUNG

Es ist Maerz. MaerzMusik. Das Motto in 2011: KRANK | WILD | ERREGUNG. Die ganze Familie ist in Berlin! Sie haben ekligen Kuchen, Scheißblumen und ihre verzogenen Kinder mitgebracht (in Form von Partituren und „Projektideen“, die sie möglichst vielen ganz verkrampft unterjubeln wollen; hier meine neueste CD, hier mein neuester Flyer, hier meine Karte). Dabei ist das natürlich ein ganz tolles Festival, wenn nur das Publikum nicht wäre. Das immergleiche Publikum – bestehend aus der schrecklichsten aller Familien: der Neue-Musik-Familie. Würg, Horror, Splatter, Gedärme-heraus-quill…!

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Nein, alles ist gut. Auch die (ich habe Schmerzen bei diesem Wort) „Locations“. Räume neu entdecken und so weiter. Neue Musik muss ja raus! (Ich höre dabei immer noch Oliver Kahn schreien, wenn es galt, seine Sportskameraden zu animieren, sich mehr in Richtung gegnerisches Tor zu orientieren: „RAAAAAAAUUUUUSSS!!!“) Ich bin selbst längst darüber hinaus (hinaaaaaauuuuuuuusss!) zu glauben, man müsse jetzt irgendwie kreativ sein und „Neue Räume für Neue Musik“ oder so erfinden oder be-spielen. Nö, braucht man nicht. Ich muss nicht unbedingt in Techno-Schuppen gehen und da eines der zahllosen Streichquartette (ja, ja, ja, ich weiß: bei der diesjährigen MaerzMusik geht es um „Klang, Bild, Bewegung“ – und da gibt es natürlich nicht „nur“ Streichquartett, sondern Streichquartett mit Bild. Hammer, Wahnsinn, ganz großes Tischtennis!), die mir niemals mehr irgendetwas bedeuten, weil sie einfach nur würg sind (im Sinne von gähn – „würg“ wäre ja noch irgendwie shaking), zu hören.

Zumal es ja völlig egal ist, ob man seine schreckliche Familie (die man auch ein ganz klein bißchen liebt) im Berghain, in der Philharmonie, in den Sophiensälen oder in irgendeinem Hitlerbunker trifft. Krank ist das Ganze irgendwie immer. Ich gehe natürlich trotzdem hin. So zum Beispiel übermorgen (Donnerstag) in die Sophiensäle, weil ich Nicholas Isherwood singen hören will.

Damit man mir nicht vorwirft, nur wieder ganz destruktiven Unsinn geschrieben zu haben (was zweifelsohne der Fall ist): Neue Musik braucht natürlich Publikum. Und je voller der Saal, desto inspirierter ist der Künstler. Aber ich glaube, aller Vermittlungsbemühungen zum Trotz, manchmal nicht, dass das die Angehörigen der Grau-in-Grau-Familie (das heißt: der Neue-Musik-Familie) wollen. Die wollen doch genau diesen „Messe-Charakter“ von Donaueschingen, Witten und Blubb, den ich so schrecklich finde, weil man musikalisch denen irgendetwas (!) anbieten kann, die freuen sich immer, die klatschen immer so ganz eifrig und wenn eine virtuose Koloratursopranöse mal so wirklich richtig rein geträllert hat, dann rufen die sogar „Bravo!“ und wundern sich über ihre eigene Euphorie, obwohl das Stück, in dem so krass gekoloraturt wurde ästhetisch, formal so dermaßen unspannend und „Interpretenmusik“-verdächtig ist, dass ich immer ganz fassungslos bin – und ja schon mehrfach gesagt habe, an dieser Stelle es aber noch einmal betonen möchte: der Neuen-Musik-Familie ist es völlig egal, was musikalisch passiert. Es geht einfach nur um den Messecharakter. Es geht um Händeschütteln und Alkoholmissbrauch, es geht um CDs an den Neue-Musik-Dramaturgen verteilen, der ja eigentlich so böse ist, aber jetzt natürlich zu irgendetwas Nütze sein könnte. Es geht um „Lass uns mal wieder treffen“, „auf ein Bier oder so“ – es geht um weitermachen, immer weitermachen, um Aufträge (hechel, hechel), um ein potentielles von Festival-zu-Festival-gereicht-werden (bei dem selbst einstmalig vielversprechende Komponisten ästhetisch so dermaßen auf der Strecke bleiben und leeres Zeug schreiben, mit dem sie sich nur noch selbst wiederholen, selbst zitieren, selbst positionieren und so dermaßen leer sind; so dermaßen geil auf Folgeaufträge, jaaaaaa, das tut gut, jetzt bin ich drin, jetzt läuft es riiiichtig gut, jaaaa, oah, endlich bin ich in der Szene angekommen und alle unterstützen mich, möchtest du nicht hier auch noch? Ach ja, klar, mensch hallothomaswiegehtesdirnadasistjamalwasvielendankübrigensfürdeineemailneulichklarsschreibeichetwasfürardittieblablabla…)

Ich betreue seit ein paar Wochen eine Neue-Musik-Reihe („2 x hören“) im Konzerthaus Berlin organisatorisch (ab nächste Saison moderiere ich sie dann auch), bei der der Saal fast immer sehr voll ist, teilweise sogar so richtig richtig voll. Und jedes Mal bisher wurde ich von Komponistenkollegen (also: von Familienangehörigen) angesprochen bezüglich der Publikumsstruktur. Die positive Variante klingt so: „Mensch, sag mal Arno, das ist ja ein ganz interessantes Publikum hier, ich habe nur ganz wenige Kollegen gesehen!“ Die eher negative: „Ich frage mich, was das hier eigentlich für Leute sind, ich kenne kaum jemanden davon!“

Und jetzt sage ich etwas: ich bin genau für dieses Publikum, welches n i c h t zum Inner Circle of boring New Music in Berlin gehört. Ich liebe es. Die gehen so gut mit. Und die wunderbare Reihe „2 x hören“ macht dabei auch nicht den Fehler, im Rahmen ihrer ganz eigenen Art der Vermittlung (wunderbar moderiert von Markus Fein) irgendetwas zu vereinfachen, oder, um es mit dem großartigen Holger Noltze zu sagen: der Leichtigkeitslüge auf den Leim zu gehen. Nö, kein bißchen. Man kann die Tiefe eines Kunstwerkes ja auch andeuten, anleuchten, hineinleuchten – und niemand wird von der tiefsten Höhle der Welt, in die man mal eben hineingeleuchtet hat, sagen: diese Höhle ist ja ganz einfach zu erfassen, ich habe diese Höhle von vorne bis hinten durchschaut. Nö, wir haben mal kurz hineingeleuchtet in die Höhle (oder halt: in das Werk) – und von da aus muss man jetzt weiterarbeiten (weiterleuchten). Die Reihe „2 x hören“ am Konzerthaus Berlin vereinfacht also nicht, sondern bietet etwas an: den Einstieg. „Meine erste Taschenlampe“ sozusagen… Irgendwie…

Ich weiß, dass ihr es mir nicht übelnehmen werdet, wenn ich jetzt unverhohlen Werbung mache für das Programm von „2 x hören“ in der kommenden Saison, oder? Ich weiß: durchaus „klassische“ Werke, die hier beleuchtet werden sollen. Es müssen aber auch eben Werke sein, von deren Tiefe man schon einiges selbst weiß, die man selbst liebt, von denen man erzählen kann…

Nun ja, hier halt:

2 x hören
Saison 2011/2012
Konzerthaus Berlin
Gefördert von der Körber-Stiftung

MO 12.12.11 | 20.00 Uhr | Werner-Otto-Saal
György Ligeti: Études pour piano (Premier livre)
Sebastian Berweck, Klavier

Mo 09.01.12 | 20.00 Uhr | Werner-Otto-Saal
Bernhard Lang: Differenz/Wiederholung 1.2 für Flöte, Tenorsaxophon und Klavier
Kammerensemble Neue Musik Berlin

MO 26.03.12 | 20.00 Uhr | Werner-Otto-Saal
Salvatore Sciarrino Infinito nero. Estasi in un atto für Stimme und Ensemble
Katia Guedes, Sopran
modern art ensemble

MO 30.04.12 | 20.00 Uhr | Werner-Otto-Saal
Béla Bartók: Sonate für Violine solo
Christian Tetzlaff, Violine

MO 25.06.12 | 20.00 Uhr | Werner-Otto-Saal
Iannis Xenakis: Tetras für Streichquartett
Sonar Quartett

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Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.

3 Antworten

  1. peh sagt:

    nachmacher! ;-)

    http://www.beethoven-haus-bonn.de/sixcms/media.php/75/Beet_KMS_Saison_09-10_screen.pdf

    bonn hat’s zuerst nachgemacht und die habens markus fein nachgemacht und der hat’s dem workshop neue musik im wdr nachgemacht und wem der es nachgemacht hat, weiß ich nicht.

    aber mal im ernst: genieße doch die liebe, die dir nun entgegenspringt. nur einmal im jahr ist frühling.

  2. Lieber Arno. SUPERRRRR Beitrag…spricht aus dem HErzen. Gratulation :-)

  3. Erik Janson sagt:

    Schöner Beitrag,

    Messecharakter, Sehen und gesehen werden… Vitamin B,
    Einschleim bla blubb… Alles richtig.

    Das Konzerthausprogramm sieht spannend aus, obwohl ein wenig Richtung „Schlüsselwerke“ der Moderne es für meinen Geschmack geht, vielleicht bissel zu klassisch. Bzw. da ist ja auch tw. das im Programm, was zu der grande Festivalfamilie gehört. Bin gespannt wie es weiter geht.