Die Vergangenheit vor der Gegenwart schützen
Die Vergangenheit vor der Gegenwart schützen
Es ist so weit, die neue Version der „Zauberflöte“ ist da! Ein Stück, an dessen (aus heutiger Sicht) Rückständigkeit sich schon Generationen von Dramaturg:innen die Zähne ausgebissen haben. Was für eine bescheuerte Handlung! Diese doofen Dialoge! Aber leider diese geile Musik!
Einst war die „Zauberflöte“ der heißeste Scheiß, voller mysteriöser Anspielungen auf irgendwelches Freimaurergedöns, mit Szenen, bei denen man ständig das Gefühl hat, dass es dem Publikum von damals irgendwie etwas anderes bedeutete, als es heute rüberkommt. Heute ist sie – gerade wegen der Musik – das alte Schlachtross einer müden Opernkultur, die zumindest in Deutschland nach wie vor denkt, dass es besser ist, mittels aller möglichen Mätzchen mühsam sehr alte Stücke ins 21. Jahrhundert zu hieven, anstatt…einfach gleich Stücke aus dem 21. Jahrhundert zu spielen. Aber das ist ein anderes Thema.
Das Thema ist: Sakrileg oder Geniestreich, diese neue „Zauberflöten“-Version? Darf man das?
Natürlich ja. Die Kunst ist frei. Wenn man im Theater den Großteil eines Stückes von Goethe oder Schiller nur unverständlich von als Meerschweinchen verkleideten Darstellern murmeln lässt, regt sich schon lange niemand mehr auf. Im modernen Theater kann man sich alles vorstellen – Romeo und Julia als Zombies, als Angela Merkel und Donald Trump oder sogar – Gott bewahre – als zwei Teenies aus der Bronx, die unheimlich gut Ballett tanzen. Das alles ist vollkommen ok.
Ich kann verstehen, dass es schwierig ist, immer wieder von vorne anzufangen, wenn man z.B. die Monostatos-Szenen so gestalten will, dass niemand, auch wirklich absolut niemand beleidigt ist. Ein Weißer, der sich als Schwarzer verkleidet? Geht gar nicht, Blackfacing, da wurden schon ganze Aufführungen deswegen abgesagt. Ein Schwarzer, der singt „Weil ein Schwarzer hässlich ist“? Dafür muss man erst einmal jemanden finden. Monostatos als weiße Frau? Geht nicht, das käme frauenfeindlich rüber, wenn sie sich selbst als hässlich bezeichnet. Monostatos als weißer Schwarzer (Michael Jackson)? Geht auch nicht, weil Kinderschänder. Alle in der Inszenierung sind schwarz, nur Monostatos ist weiß und findet sich scheiße? Geht, gab’s aber sicherlich schon.
Diese Probleme und andere versucht die neue Version zu lösen, indem sie alternative Dialoge anbietet. Anstatt vorher eine Triggerwarnung auszusprechen, falls sich eine empfindsame Seele tatsächlich von Texten in der Zauberflöte beleidigt fühlt (von denen man die meisten eh nicht versteht, weil Oper), ändert man lieber gleich die Texte.
Ich würde jederzeit verteidigen, dass man das machen darf. Schon zu Shakespeares Zeiten war es üblich, dass der abendliche Text nicht wie aus dem Reclam-Heftchen aufgesagt wurde. Da wurde improvisiert, schnell gekürzt oder auch umgeschrieben. Theater ist spontan, und muss auch spontan bleiben. Ich kann mich an eine Brecht-Inszenierung in Frankfurt erinnern, in der es die Regie irgendwie schaffte, eine Anspielung auf E.T. einzubauen, einfach nur, weil der Film damals im Kino lief. Das schafft Nähe zum Publikum.
Ich finde es auch in Ordnung, dass Sprache sich verändert und gesellschaftliche Entwicklungen reflektiert. Es wäre furchtbar, wenn nicht. Ich freue mich von Herzen, dass wir in einer Welt leben, die sensibler für Diskriminierung geworden ist, und die es sich zur Aufgabe macht, Menschen jeglicher Hautfarbe oder sexueller Ausrichtung und Selbstdefinition mit dem gleichen Respekt zu behandeln, denn genauso sollte es natürlich sein, wenn man auch nur ein ganz klein bisschen darüber nachdenkt.
Was andere übertrieben „woke“ finden, finde ich meistens noch recht verständlich. Ja, es haben sich alle möglichen Dinge in unsere Kultur eingeschlichen, die wir uns durchaus ab und zu mal bewusst machen könnten, geschenkt.
Was ich aber nicht verstehe und nie verstehen werde: warum muss die Vergangenheit korrigiert werden? Ist es dafür nicht ein bisschen zu spät?
Gegen Diskriminierung und Ungerechtigkeit HEUTE vorzugehen, das ist ein hehres, ein sinnvolles, ein wichtiges Ziel. Aber was bringt es uns, wenn wir jetzt beginnen, lauter Leichen auf die Bühne zu zerren und böse mit den Fingern auf sie zu zeigen, wie schrecklich diskriminierend sie waren? Denn wenn man genauer hinschaut, waren sie es nämlich oft gar nicht so sehr im Vergleich zu anderen in ihrer Zeit. Es gibt ja einen Grund, warum wir heute sensibel für Diskriminierungen sind, nämlich weil die Gesellschaft insgesamt – nicht nur Einzelne – es einmal nicht war, und das irgendwann unerträglich wurde. Dafür müssen wir uns aber auch daran erinnern können, wie vergangene Generationen mit diesen Themen umgingen, ansonsten laufen wir Gefahr, einfach nur Verbote aufzustellen.
Der Zug ist halt abgefahren bei den Fehlern der Vergangenheit, sie sind schon längst geschehen. Ja, Wagners Antisemitismus ist aus heutiger Sicht unerträglich, aber in seiner Zeit war er damit leider eher typisch als ungewöhnlich. Und hätte er wirklich den Holocaust befürwortet? Man weiß es nicht. Ich stelle mir eher vor, dass Wagners rebellisches Wesen ihn selbst schnell ins KZ gebracht hätte zur Nazizeit, als Komponist „entarteter“ Musik. Aber das ist alles eh nur dumme Spekulation – Fakt ist: wir wissen es nicht. Und wir können die Geschichte nicht mehr ändern, Wagner nicht mehr dafür kritisieren, es ist einfach zu spät. Das muss man nicht mögen, man muss es aber auch nicht canceln, weil es fraglos kulturelle Spuren hinterlassen hat.
Und Apropos Mozart: wie „rassistisch“ ist denn diese Monostatos-Szene eigentlich? Machen wir es uns nicht zu einfach, wenn wir davon ausgehen, dass jede Figur in einem Werk immer die Meinung des Autors ausdrückt? Wenn eine Figur in einer Oper singt „weil ein Schwarzer hässlich ist“, heißt das nämlich nicht im Umkehrschluss, dass Mozart exakt dasselbe dachte. Vielmehr hat er hier – als einer der ersten in der Operngeschichte überhaupt – einer schwarzen Figur eine Stimme gegeben, die ziemlich gut den Konflikt darstellt, die die damals unglaublich wenigen People of Color ganz sicher im Wien zur Zeit Mozarts erlebten – einerseits als kurios und exotisch wahrgenommen zu werden, aber eben auch ganz sicher mit Angst, Vorurteilen und Ressentiments konfrontiert zu sein. Das spiegelt die Figur in ihrer gesungenen Qual zynisch und trotzig in einer schönen (!) Arie wider, und gibt diesem Gefühl ein menschliches Gesicht. Das ist kein Rassismus, sondern ein originärer Blick in eine historische Situation, die wir nur verstehen können, wenn wir sie nicht retroaktiv verwässern oder gar zensieren. Aus heutiger Sicht provozierend sind eher die Inszenierungen, die diesen Umstand nicht verstehen und das Ganze einfach zur Clownnummer mit einem angemalten Sänger machen (wie es noch vor gar nicht langer Zeit üblich war). Das sagt aber mehr über die Spießigkeit der späten Interpretationen aus als über Mozarts Werk. Mozart ist nicht schuld daran, wie man das z.B. in den 1960er Jahren spielte.
Wir können hundertprozentig davon ausgehen, dass kommende Generationen nicht sehr gnädig mit uns sein werden. Aber würden wir uns nicht wünschen, dass sie zumindest versuchen zu verstehen, warum wir so handelten wie wir handeln? Warum wir die Fehler begingen, die wir jetzt begehen? Jedes heutige Kunstwerk repräsentiert unsere Gegenwart, und einigen wenigen wird es gelingen, so authentisch zu sein, dass sie in der Zukunft weiterhin als interessant erachtet werden. Und gerade das nicht Perfekte und vielleicht auch Widerständige daran wird diesen zukünftigen Menschen einen Einblick in unsere Zeit der Irrungen und Wirrungen geben – sie werden mit unserem Scheitern mitfühlen können und ihr zukünftiges Scheitern erahnen. Wer die Vergangenheit verstehen will, muss deren Fehler bewahren, denn nur dann können wir von diesen Fehlern lernen. Wir dürfen diese Fehler nicht ausradieren und so tun, als seien sie schon in der Vergangenheit korrigiert worden. Denn letztlich erinnern viele Versuche der neuen Wokeness (siehe zum Beispiel die Umbenennung der „Ottfried Preußler“-Schule) eher an Orwells Wahrheitsministerium anstatt an einen wirklichen Versuch, diese Welt in der Gegenwart besser und gerechter zu machen.
Und das ist gerade in diesen Zeiten wichtiger als je zuvor.
Moritz Eggert
Komponist