My Generation

My Generation

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Wir alle bewegen uns in einer bestimmten Altersbubble, wenn es um soziale Medien geht. Und die schlimmste Altersbubble ist vermutlich Facebook.

Ich weiß nicht warum, aber so ziemlich das Einzige, was mir in letzter Zeit angezeigt wird, sind Posts von Menschen meiner Generation (der „Boomer“), die sich bitterlich und immer wieder neu über irgendetwas beschweren. Meistens über das, was junge Menschen so treiben.

Über böse „Klimakleber“. Über die „Vergewaltigung“ der deutschen Sprache durch das schlimme „Gendern“. Über Drag Queens im Kindergarten („also ich bin ja tolerant, aber das geht dann doch zu weit“). Über den angeblichen Niedergang von irgendetwas, meistens der Deutschen Bahn. Im besten Fall sind diese Posts ironisch oder witzig (dann kann man sie ertragen, vor allem wenn sie sich selbst nicht ernst nehmen). Im schlimmsten Fall sind es aber bräsige, erzkonservative, nicht selten ultrarechte Kommentare von langsam alternden Neospießern, die nicht damit zurechtkommen, dass die heutige Welt anders ist, als sie es seit je her gewohnt sind.

Alte Zausel wie Didi Hallervorden, über den man das letzte Mal mit drei Jahren gelacht hat und der selbst in seinen besten schauspielerischen Momenten nie mehr als einen halbverständlichen genuschelten Satz hinbekommen hat, wird plötzlich zum Heroen der deutschen Sprache stilisiert und ständig zitiert, weil er tapfer dem „Genderwahn“ die Stirn bietet. Boomer-Kabarettisten wie Dieter Nuhr bedienen mit komplett unwitzigen Zoten ein gleichaltes Publikum, das genau denselben schlechten Humor („Das wird man ja doch mal sagen dürfen. Darf man? Höhö“) und aufgestauten Frust hat wie sie selbst.

Einst dachte ich, dass Menschen die „moderne“ Musik schreiben auch modern und aufgeschlossen sind. Aber viele vollführen plötzlich erstaunliche Kehrtwendungen, fangen an Putin und Trump zu verteidigen oder warnen vor einer „Überfremdung“ Deutschlands. Oder noch schlimmer: sie teilen Artikel der NZZ auf Facebook, was so ziemlich der tiefste Punkt ist, zu dem man in diesem Leben sinken kann. Aus ehemals ultralinken Marxisten werden stramme neolibertäre Neofaschisten, der Weg ist anscheinend nicht weit.

Ich kann diese endlosen Tiraden langsam nicht mehr hören. Müsst ihr so sehr daran leiden, wie sich die Welt verändert hat und auch weiterhin – so viel muss ich euch leider mit absoluter Sicherheit sagen – verändern wird? Könnt ihr nicht ertragen, dass junge Menschen über bestimmte Dinge vielleicht anders denken als ihr? Was verunsichert euch daran? Hattet ihr es nicht im Vergleich zu vielen anderen Schicksalsgenerationen besonders gut? Ohne großes Leid, ohne Kriegserfahrung, ohne Hunger, ohne Not? Oder liegt es vielleicht sogar genau daran, dass ihr so empfindlich seid? Dass ihr nie Schlimmes erleiden musstet?

Dennoch stellt sich gerade die verwöhnte Boomer-Generation in Facebook Reels als „Hardcore“ dar. Stoßen sie irgendwo an, laufen sie weiter wie Chuck Norris, während die „verweichlichte“ Generation wimmernd am Boden liegt.

Ja, da ist etwas Wahres dran. Vielleicht ist die heutige Generation tatsächlich etwas empfindsamer geworden. Und wisst ihr warum? Weil sie anders als wir noch wesentlich weniger vom alten Drill und der „Zucht und Ordnung“ mitbekommen haben, die einst in diesem Land üblich war und die gleich zwei Weltkriege entscheidend mitermöglichte. In den 50er und 60er Jahren gab es das noch.

Als ich klein war, gingen Schulrektoren noch über den Schulhof und schrien alle an, die knutschten oder auf eine Weise herumlungerten, die ihnen nicht passte. Mein erster Grundschullehrer konnte zwar toll Klavier spielen, aber wenn er Widerstand witterte, bekam man tatsächlich noch etwas auf die Finger oder eine Ohrfeige oder wurde in die Ecke gestellt. Der Mann war tatsächlich auf eine perverse Weise ok, er kannte es nur leider nicht anders. In meinem ersten Kindergarten (von gestrengen katholischen Nonnen geführt) mussten sich neue Kinder in die Mitte stellen und wurden von den anderen Kindern auf Kommando „ausgeätscht“, um Härte und Widerstand zu lernen. Heute bekämen die Damen sofort eine Anzeige von Helikoptereltern.

Vielleicht hat die heutige Generation von diesem ganzen Quatsch insgesamt weniger mitbekommen als wir. Aber seien wir nicht neidisch darauf, sondern froh. Eine empfindsame Generation, die es nicht aushält, wie wenig wir gegen den Klimawandel unternehmen und sich deswegen vielleicht manchmal auch ungeschickt an Dirigentenpulte klebt ist mir tausend Mal lieber als die unempfindsamen Generationen, die sich abgestumpft ihrem Schicksal ergeben und denen es anscheinend vollkommen wurscht ist, was mit den kommenden Generationen ist.

Klar, wir können davon ausgehen, dass die kommenden Generationen nicht perfekt sein werden. Sie werden genau wie wir Fehler machen. Aber mit jedem dieser Fehler gibt es immer wieder auch Hoffnung auf neue Einsichten, und auf diese freue ich mich. Und ihnen gehört die Zukunft. Sie haben ein Recht darauf, diese zu gestalten. Sie haben ein Recht auf ihre eigene Sprache, ja, auch auf Doppelpunkte und Gendersternchen. Sie haben ein Recht darauf, zu experimentieren, zu diskutieren und ihre eigenen Ansichten zu entwickeln. Lasst sie gerne neue Formen des Zusammenlebens und des Umgangs erforschen. Lasst Jungs sich als Frauen definieren und Frauen als Jungs. Was ist euer Problem damit, Boomer? Was wird euch genommen? Wird jetzt rückwirkend eure ganze Jugend in Frage gestellt? Ganz sicher nicht. Das alles gehört doch nach wie vor euch, einer Generation, die auch mal jung war. Mir ist es vollkommen egal, ob die kommenden Generationen in Deutschland rückwärts sprechen, Gendersternchen schnalzen oder sich die Fingernägel lackieren, solange nach wie vor Kinderlachen in den Straßen zu hören ist. Und Kinder vielleicht mal wieder wichtiger sind als Autos.

Viele von denen, die sich jetzt auf Facebook als rechte Spießer outen, standen einst mit mir auf der Hauptwache in Frankfurt, waren Punks oder Mods, rebellisch gegen die Spießer in unserer Zeit. Rebellisch gegen diejenigen, die sich ständig über uns aufregten. Über unsere Musik, unser Aussehen. Darüber, wie wir ständig „geil“ sagten, denn das war doch ein „unanständiges“ Wort. Und jetzt sind wir genau zu diesen Spießern geworden, die wir früher verachteten.

Und wie war es mit der Generation davor? Da regte man sich über „Langhaarige“ auf. Und warum? Weil man in der eigenen Jugend eine Watschn bekam, wenn die Haare zu lang wurden. Das sollte jetzt einfach so gehen? fragte sich die alte Generation. Sie waren ein bisschen neidisch, und mokierten sich. Vielleicht hätte mancher, der sich heute über LGBT oder Regenbogenfahnen aufregt, früher selbst gerne mit der eigenen Sexualität experimentiert. „Warum sollen denn die das heute so leicht gemacht bekommen?“

Auch die momentane Diskussion um den Rammstein-Frontmann Lindemann ist typisch. Wer verteidigt ihn vehement? Boomer, die exakt gleichalt wie Lindemann sind.

Es gibt ja viele Gründe, in dieser Angelegenheit mangels konkreter Anzeigen gegen Lindemann neutral zu sein. Aber bei den meisten Kommentaren hat man den Eindruck, dass die Kommentierenden vor allem deswegen beleidigt sind, weil jemand es wagt anzuzweifeln, dass es vielleicht nicht so super ok ist, wenn sich ein 60-jähriger Rockstar nach jeder Show karrenweise leicht verführbare und eher naive blutjunge Damen hinter die Bühne bringen lässt, um sie mit Alkohol oder sonst was gefügig zu machen. Denn – holla – das war doch schon immer so. So haben es doch die alten Stars auch gemacht, die man in seiner Jugend verehrte. Und damals hat doch niemand etwas gesagt. Die „Girls wollen das doch so“. Habt ihr sie Mal gefragt? Redet ihr mit ihnen? Auf Facebook werdet ihr kaum „girls“ finden, eher alte Säcke, die sich gemeinsam mit euch darüber aufregen können, dass man „nichts mehr darf“.

Und natürlich seid ihr auf diese Stars neidisch. Die nahmen sich genau das, was heute nicht mehr geht. Und „Rammstein“ repräsentiert genau diesen alten Rockstartraum. Und dass sie dann noch das „r“ so herrlich rollen und mit Leni-Riefenstahl-Ästhetik kokettieren macht sie genau für die sympathisch, die das eh alles insgeheim immer supi fanden, aber sich nie trauten, das zu sagen. Die sich wie die verpupste Rechtssocke „Bernd“ Björn Höcke oder der grimmige Cellonazi Matthias Moosdorf ständig erträumen, mal jemand „ganz Wichtiges“ zu sein in diesem Land. F**** euch, braune Boomer.

Jedem oder jeder das seine. Oder, wie ich sagen würde, jedi das seine. Denn das ist nicht nur inklusiv, sondern klingt auch lustig. Und mal ehrlich – ein bisschen mehr Humor und Lockerheit könnten wir Deutschen vertragen, denn wir leiden nach wie vor darunter, dass man einst die lustigsten und humorvollsten Deutschen entweder vertrieb oder in der Gaskammer umbrachte. Das war ein gigantischer Talentschwund, den wir bis heute spüren.

Ich kann verstehen, dass junge Menschen in Scharen Facebook verlassen und sich lieber nur Bildchen schicken. Wenn ich an meine eigene Jugend denke: was für ein Alptraum wäre es gewesen, wenn es damals ein öffentliches Forum gegeben hätte, auf dem sich jeden Tag Menschen darüber aufregen, was junge Menschen anziehen, wie sie sprechen und wie sie aussehen. Hätte ich mir das freiwillig angetan? Ganz bestimmt nicht.

Lasst mich einfach damit in Ruhe, Boomer. Lasst mich in Ruhe mit eurem Frust, mit eurem Gejammer, eurem ständigen Beschwören der Apokalypse, weil angeblich an jeder Ecke vergewaltigende Horden von Flüchtlingen lauern. Eure Angst vor Drag Queens im Kindergarten sagt viel mehr über eure eigene Sexualität aus, als euch lieb ist. Denn ihr könnt sicher sein: anders als ihr denken Kinder ganz bestimmt nicht an Sex, wenn Männer sich als Frauen verkleiden. Ihr tragt eure Neurosen am Revers, und merkt es noch nicht Mal. Vielleicht wollt ihr auch nur mal in den Arm genommen werden. Am besten von einer Drag Queen. Traut euch, es ist nie zu spät. Ihr könnt jederzeit ein weniger gewöhnliches Leben leben, als ihr es bisher gewagt habt. Das geht auch noch mit 90, wenn man es wirklich will.

Das Schlimme ist: wir/ihr sind/seid in der Mehrheit. Es gibt zu wenig Jugend in diesem Land. Sie sind in der Minderheit. Und das ist nicht gut für unsere Gesellschaft. Denn nun leben die Alten weiterhin in der Illusion, dass Sie allein das Recht auf die Zukunft besitzen, was nicht richtig ist.

Das Recht auf Zukunft haben wir alle. Natürlich auch alte und natürlich auch sehr alte Menschen. Es gibt wunderbare alte Menschen, die sich ihre Neugier bewahrt haben und die der Jugend alles gönnen, weil sie selbst genug erlebt haben und daher nicht ständig miesnickelig sein müssen.

Aber das meiste Recht auf die Zukunft haben natürlich die Jungen. Live with it.

Wir alle sind Teil eines rätselhaften Daseins, das wir nur teilweise verstehen und auf das wir nur ungenügende Antworten haben. Lasst es uns so angenehm wie möglich gestalten, vor allem das Miteinander.

Es ist ok, Boomer.  Versteht, dass endlose Generationen vor euch genau dieselben Fehler wie ihr gemacht haben. Erst selbst Rebellion sein, dann vor der nächsten Rebellion erschrecken, als ob es kein Morgen gäbe.

Aber genau dieser Morgen ist das, was uns Hoffnung machen sollte. Selbst wenn wir uns dem eigenen Abend nähern.

 

Moritz Eggert

 

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