Hallo, ich bin ein Rundfunkorchester und ich könnte ja eventuell abgeschafft werden!

In einem gestern erschienenen Beitrag von „BR-Klassik“ geht es um eine Warnung der Orchestergewerkschaft „unisono“ hinsichtlich der Lage der Runfunkorchester in Deutschland. Der „unisono“-Geschäftsführer Gerald Mertens hebt darin einerseits die Wichtigkeit der Musikvermittlungsarbeit in den Orchestern heraus. Andererseits betont er, dass jede/jeder Gebührenzahler/in ohnehin „nur“ (?) umgerechnet 41 Cent pro Monat [Anm.: hier stand gestern noch „pro Jahr“; der Artikel entstand auf einer wackeligen Zugfahrt] für Rundfunkensembles (Orchester, Chöre, Bands) zahlen würde.

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Mich stören daran ein paar Dinge.

Warum überhaupt jetzt diese Pressemeldung? Musste mal wieder irgendwie auf sich aufmerksam gemacht werden? „Komm, wir müssen mal wieder eine Pressemitteilung raushauen!“ – „Okay, was machen wir?“ – „Am besten wie immer: Wir warnen vor etwas!“ – „Super! Schon in der Mache …“.

In welcher anderen „Szene“ wird seitens einer Lobbyistengruppe ohne jetzt den ganz großen aktuellen Anlass gewarnt? Würde das ein großes Unternehmen machen: Die Aktienkurse würden schlagartig nach unten gehen (sogar relativ sicher). Alle würden davon mitbekommen – und man würde sich zusammen halt super unwohl und „gefährdet“ fühlen. Warum also macht man sich ohne Not so schwach? Nur, um dann, wenn es plötzlich so weit ist, dass tatsächlich Planstellen eines Orchesters eingedampft werden (oder Ähnliches), Petitionen zu erstellen, um so zu tun, als würden wir sofort alle sterben, wenn es Ensemble xy nicht mehr gibt (oder nicht mehr in der Größe)?

So eine Petition würde dann – mit den entsprechenden „warnenden Worten“ – natürlich auch von vielen Orchestermusikerinnen und Orchestermusikern geteilt werden. Mit ganz vielen Ausrufezeichen und Profilbildänderungsambitionen („Je suis hr-Sinfonieorchester!“). Tja, aber sich nur für die Konzerte eintragen, bei denen es nur Brahms und Mahler gibt, nicht? „Boah nee, Xenakis und eine Komponistin; bei dem Orchesterdienst bin ich nicht dabei, haha!“

Süß auch, wie Mertens die Musikvermittlung in den Blickpunkt rückt. Dabei wissen wir: Die Musikvermittlerinnen und Musikvermittler bei den Orchestern sind meistens die absoluten Underdogs – und haben zum Beispiel damit zu kämpfen, von den Orchestermusikerinnen und Orchestermusikern mehr zu bekommen als nur „Nach dem Konzert stellen die Mitglieder des Orchesters ihre Instrumente vor.“ Musikvermittlung: Damit sind übrigens auch Konzerteinführungen gemeint! Fragt mal in ein Orchester vor der Probe hinein: „Wär hat Lust, sich bei einer crazy multimedialen Konzerteinführung am Wochenende von Musikvermittlerin x oder Konzertdramaturgin y ein bisschen (ohne Vorbereitung) zum Programm befragen zu lassen?“ (Bei 100 Leuten im Orchester melden sich, ungelogen: zwei. Meist sehr nette Menschen aus der Bratsche. Kein Witz.)

Freilich gibt es auch Orchesterleute, die komplett ausrasten und dich beschimpfen, kommt man überhaupt – dies laut aussprechend – auf die Idee, zu der Musik etwas sagen zu wollen. „Wir brauchen diesen ganzen Quatsch nicht! Wir brauchen gute Aufführungen und Dirigenten, die eine ‚eins‘ haben! Und mehr als höchstens mal die Zehnte von Schostakowitsch brauchen wir auch nicht. Alles andere ist keine Musik!“ (Klingt so übertrieben, ist aber komplett realistisch. Häufig ist es sogar schlimmer, beispielsweise, wenn es um Dirigentinnen geht …).

Nein, in der deutschen Rundfunkorchesterlandschaft zählt immer noch der „Maestro“, der für seinen Brahms-Zyklus vergöttert werden will. Beim SWR hat man sich vor einigen Jahren orchesterfusionieren lassen. Dafür ist heute ein Chefdirigent am Start, der sich … Ach, ich will damit nicht auch noch anfangen. Aber dass die PR-Abteilung des SWR dem Kollegen Axel Brüggemann inzwischen überhaupt nicht mehr antwortet: Das ist schon sehr merkwürdig und ärgerlich.

Auf der einen Seite warnt man also vor eventuellen Fusionen/Streichungen/Eindampfungen, betont die Wichtigkeit von Musikvermittlung (ohne das wirklich so zu meinen), würde aber andererseits nie das hermetische Pyramidensystem eines Orchesters oder etwa die vermeintliche Genialität und Unfehlbarkeit von Herrn Teodor C. infragestellen. Adäquat wäre, jetzt (!) komplett abzugehen, um schreiend durch die Straßen zu marodieren, um final mal das absolute („gute alte“) Bildungsproblem anzugehen. In manchen Bundesländern wird das Fach „Musik“ in der Oberstufe nicht mehr unterrichtet. Musikwissenschaftsstudierende wissen nicht, wer Adorno (oder wer auch immer …) war. Auf Vermittlungsebene hecheln wir irgendwelchen „Promis“ hinterher – und leben die Diversität, die wir pseudo-woke behaupten, überhaupt nicht. Der Betrieb, das Musikleben ist total träge geworden. Wir wären gerne divers. Sind es aber nicht! Und wieder einmal überholen uns die USA, wo inzwischen auf größten Bühnen die Lebensgeschichten von homosexuellen Boxern als Opern-(nicht als Musical-!)Uraufführung erzählt werden! In den USA bekennt man sich zur Elite, während wir hier aus dem Nichts heraus „warnen“ und vom Niveau her den kleinsten gemeinsamen Nenner suchen, um ja nur den nächsten jämmerlichen Karriereschritt vorzubereiten. (Ich kenne Kollegen, die mich anrufen, um mir zu erklären, warum sie den kritischen Beitrag zum Thema xy nicht „liken“ konnten; schließlich würden ja Leute aus der Kommission xyz mitlesen.)

Ach, das sind nun wirklich zu viele Themen gleichzeitig gewesen. Egal.

Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.

Eine Antwort

  1. 25. Mai 2023

    […] Nachtrag: 25.5.2023: Im Bad Blog Of Musick hat sich zu der Thematik nun auch Arno Lücker geäußert. […]

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