Nachgedanken zum Hundekot und der Kritik
Nachgedanken zum Hundekot und der Kritik
Viel besprochen wurde letzte Woche der Angriff eines (inzwischen ehemaligen) Choreografen des Staatstheaters Hannover auf eine seiner Ansicht nach zu scharfe Kritikerin. Das Rachemittel seiner Wahl war – vermutlich als eine Art perverser Hommage auf Max Regers berühmtes Kritikerdiktum – ein Stück Kot, mit dem die arme Dame wohl in irgendeiner Art beschmiert wurde.
Künstlere und Kritikere haben das, was man leicht euphemistisch eine „schwierige Beziehung“ nennen könnte. Wie in vielen schwierigen Beziehungen können aber beide Partner keineswegs voneinander lassen. Künstlere sehnen sich nach der Bestätigung von anderen, da sie meistens ihrem eigenen Werk gegenüber hochneurotisch gestimmt sind, entweder in maßloser Selbstüberschätzung oder vernichtender Selbstgeißelung. Beides ist nicht sehr gesund. Kritikere wiederum fingen irgendwann einmal als begeisterte Kunstliebhaber an (die besten von ihnen bewahren sich diese Freude), werden aber durch ein meist durch die Umstände dazu gezwungen, ständig das zerreden zu müssen, was ihnen eigentlich als pures Genusserlebnis am liebsten wäre.
Diese Gemengelage ist hochexplosiv und es wurden schon viele Bücher über das „schwierige Verhältnis“ geschrieben. Es fällt aber auf, dass nach der Coronapause die Gemüter empfindlicher sind, als sie es ohnehin schon waren. Man hört immer öfter davon, dass Intendante Kritikere Hausverbot erteilen oder sie auf verschiedenste Weise zum Schweigen bringen wollen. Dass es sicher keine gute Idee ist, freie Meinungsäußerung auf diese Weise zu unterbinden, traut sich dann leider meistens keiner derer Untergebenen anzumerken in den meistens noch alteingesessenen Theaterhierarchien. Umgekehrt ist aber auch der Ton der Kritik schärfer geworden, denn unsere nach Sensationen und Aufmerksamkeit heischende Welt will keineswegs eine wohlüberlegte und besonnene Kritik lesen, sondern lieber eine, in der dem Affen Zucker gegeben wird. Schadenfreude ist nichts, worauf e Kritikere Stolz sein sollte.
Konflikte sind also vorprogrammiert. Es ist nur die Frage, wie man damit umgeht.
Meine Studierenden erinnern mich immer wieder daran, wie empfindlich man selbst in jungen Jahren war, wenn es um Kritiken ging. Da kann schon das Weglassen einer Erwähnung in der Kritik eines Klassenkonzertes schwere Depressionen hervorrufen. Junge Komponiste sind wie rohe Eier – das sollte man nicht vergessen.
Ich kann mich an viele Kritikersätze aus meinen Anfängen erinnern, die einen zutiefst trafen. Und weder ich noch die Kollegi um mich herum waren zu 100% souverän im Umgang damit. Was es irgendwie noch schlimmer machte, war die Tatsache, dass selbst ein Hans Werner Henze oder Wilhelm Killmayer (für mich wichtige Mentoren) nicht souverän im Umgang mit Kritiken schienen. Killmayer regte sich immer wieder über „dumme“ Kritikere auf, wogegen Henze fast schon eine pathologische Angst vor dem Lesen von Kritiken hatte und sich nur mit ihnen beschäftigte, wenn sie ihm jemand rein inhaltlich vortrug, unter Weglassung der „verletzenden Formulierungen“.
Schnell fand ich aber heraus, dass schlechte Kritiken mir nicht nur Frust, sondern auch Motivation brachten, meistens im Sinne eines „Dir zeig ich’s!“. Hätte ich bisher 19 Opern geschrieben, wenn mir nach meiner allerersten Oper ein Kritiker nicht bescheinigt hätte, keinerlei Talent dafür zu haben? Diese Kritik begann damals mit dem absoluten No-Go-Satz „Wenn Kunst von Wollen käme, hieße Sie Wunst“, danach ging es erwartbar vernichtend weiter. Bei meiner zweiten Oper schrieb ein weiterer Kritiker: „Nie wieder eine Oper von Moritz Eggert!“. Motivationsmäßig ist sowas topp!
Ich denke da immer an den amerikanischen Schriftsteller Harlan Ellison. Dieser schickte seinem ersten Englischlehrer, der ihm jegliches Schreibtalent aberkannte, bis zu seinem Tod alle Bücher, die er je veröffentlichte, so wie auch Kopien all seiner nicht wenigen Preise und Auszeichnungen. Wie der Englischlehrer darauf reagierte, ist nicht überliefert, aber vielleicht hat er sich sogar gefreut, dass seine Worte solch gewaltige Wirkung zollten.
Auch viele weitere Kritikersätze über mich sind mir im Gedächtnis geblieben. Mein Favorit: „Alle hatten von Eggert einen großen Wurf erwartet, doch er enttäuschte auf ganzer Linie“. Oder wie wäre es mit „der drittklassig talentierte Eggert versuchte sich an schlechten Chorsätzen“. Sowas vergisst man nie, leider aber dann eher die vielen netten Sachen, die über einen geschrieben wurden. Zumindest ich – andere rahmen sich das vielleicht ein, aber ich bin der Meinung, dass eine gute Kritik genauso vernichtend wirken kann, wie eine schlechte, nämlich dann, wenn das Falsche gelobt wird. Daher entwickelte ich zeitweise eine panische Angst vor dem Lesen von Kritiken. Das Problem war nur: niemand nahm mir dieses Desinteresse ab! Stattdessen bekam ich zu hören: „He, hast Du schon die Kritik über Dein Stück gelesen?“, gefolgt von einer detaillierten Beschreibung aller Dinge, die in dieser Kritik standen. Das mag daran liegen, dass Menschen vielleicht nicht so viel Angst vor mir haben wie vor Henze und mir ungeschminkt die Wahrheit sagen. Vielleicht ist aber auch genau das gut und bringt einen „down to earth“, wie man so schön auf Englisch sagt. Natürlich freue ich mich – wie jeder andere Mensch auch – über eine gute Kritik, aber ich versuche tatsächlich, mir darauf nichts einzubilden, sondern mir selbst gegenüber kritisch zu bleiben.
Komponiste haben einen Feind, und dieser heißt Selbstzufriedenheit. Werden wir nur gelobt, wird unsere Musik nicht notwendigerweise besser. Werden wir dagegen immer nur runtergemacht, hilft es der Sache auch nicht wirklich. Der Feind von Kritikere ist wiederum Selbstherrlichkeit. Muss man wirklich über alles richten? Warum nicht auch Ambivalenz zulassen? Guten Kritikere gelingt das auf eine Weise, die nicht billig verletzt und trotzdem spannend zu lesen ist.
Dann gibt es auch den riesigen Graubereich der Missverständnisse, die dadurch entstehen, dass Kritikere und Komponiste zu wenig direkt miteinander reden. Patrick Bahners (FAZ) schrieb zum Beispiel neulich in einer Kritik, dass eine bestimmte Passage meines Stücks „Number Nine IX“ „geschmacklos“ gewesen sei. Er meinte dies vermutlich negativ. Da es mir aber in genau dieser Passage darum gegangen war, die Dekadenz des klassischen Musikbetriebs in – ja – seiner Geschmacklosigkeit anzuprangern, konnte ich diesen Kommentar nur als Lob verstehen, denn wenn diese Stelle geschmackvoll gewesen wäre, wäre sie misslungen gewesen. Das mag man jetzt als billige Ausrede empfinden, ich kann dazu nur sagen, dass gezielte Geschmacklosigkeit ein absolutes Stilmittel von Kunst ist, das ich persönlich sehr gerne mag. Denn nichts ist schlimmer als eine brave, stets „geschmackvolle“ Kunst.
Das eigentliche Problem ist, dass wir – Kritikere und Komponiste – zu wenig miteinander reden. Gute Kommunikation findet weder über Hausverbote noch das Werfen mit Hundekot statt, aber auch nicht über beleidigende oder herablassende Zeilen, die nur verletzen wollen.
Tatsächlich kenne ich einige Kritikere, deren Kritik ich sehr ernst nehme. Zuallererst einmal mich selbst, denn Selbstkritik ist essenziell für jeden künstlerischen Beruf. Ich bin selbst kritischer gegenüber meiner Musik, als es je e Kritikere sein kann. Leider bekommt das niemand mit, weil es Teil meines Arbeitsprozesses ist. Ich klopfe mir dafür auch nicht auf die Schulter.
Dann gibt es Kritikere, die man über die Jahre persönlich kennengelernt hat, und deren Kritik eher Dialog als Verriss ist. So ist es eigentlich am schönsten.
Kunst ist subjektiv. Gibt es eine absolute Wahrheit, was würdig und gut ist? Ganz sicher nicht. Ich liebe Kunstwerke vollkommen unabhängig davon, ob andere Menschen sie gut fanden oder nicht. Es ist mir scheißegal, ob der Film, den ich gerade schaue, gerade in Cannes eine goldene Palme gewonnen hat oder nicht. Manchmal gefallen mir die Filme, die in den „besten 50 Filmen aller Zeiten“-Listen auftauchen, manchmal aber auch nicht. Was man liebt, das liebt man unabhängig davon, ob jemand anders das auch liebt. Ich liebe einige obskure und schräge Sachen innig, die außer mir nur zwei bis drei Personen auf dem ganzen Planeten gut finden. Das ist mir aber vollkommen egal und mindert auch diese Liebe nicht.
Es ist daher klar, dass die Meinung eine Kritikere nur eine Facette in einem breiten Meinungsspektrum ist. Manchmal bin ich derselben Meinung, manchmal nicht. Schätze ich e Kritikere gut ein, kann deren Ablehnung sogar eine Empfehlung für mich sein und umgekehrt. Aber auch daraus sollte man keine apodiktische Regel ableiten.
Mein Freund Helmut Krausser schickt mir in regelmäßigen Kurzkritiken über von ihm gesehene Filme. Manchmal stimme ich ihm hundertprozentig zu, manchmal nicht. Welche Meinung ist „richtiger“, die seine oder die meine?
Große bleibende Werke entstehen selten durch einhellig hervorragende Kritiken, so viel ist sicher. Jeder Theatermensch weiß, dass die besten Premieren sowohl Buhs als auch Bravos kennen. Was am Ende an großen Kunstwerken bleibt, ist das, was uns herausfordert und fasziniert. Aber auch die weniger gelungenen Kunstwerke spielen eine wichtige Rolle, denn diese erzeugen den Wunsch, es „besser“ zu machen. Und die scheinbar auf den ersten Blick misslungenen Werke können eine Neudeutung erfahren, und zwar dann, wenn sich etwas an ihnen als dauerhaft faszinierend erweist. Es gibt zahlreiche Werke der klassischen Musik, die Elemente des „Misslingens“ enthalten, aber gerade deswegen spannender sind als manches „funktionierende“ Werk. Überhaupt sind die schlimmsten Kritikerurteile diejenigen, in denen von „gut gemacht“ oder „interessant“ die Rede ist.
Um herauszufinden was uns fasziniert, müssen wir beständig miteinander reden. Kritikere mit Künstlere. Kritikere mit Publikum, Künstlere mit Publikum. Wir alle wirken an dem mit, was man „Kultur“ nennt, niemand ist wichtiger als die anderen, und das ist gut so.
Insofern ist das Beschmeißen mit Kot vielleicht nicht die charmanteste Art, eine solche Diskussion zu führen. Aber geführt werden muss sie.
Moritz Eggert
Anmerkung: Ich benutze in diesem Artikel experimentell eine von mir hier vorgeschlagene alternative Form von genderneutraler Schreibweise, die deutlich platzsparender ist als die gängigen Sternchen und Doppelpünktchen. Ich unterstütze genderneutrale Schreibweisen, finde sie nur manchmal ziemlich „clunky“ und sperrig. Es ist meine ausdrückliche Hoffnung, das sich irgendwann sprachlich elegante Neuerfindungen durchsetzen.
Wer meine Vorschläge nicht aushält, kann gerne bei mir eine Version mit den gewohnten Doppelpunktkonstruktionen bekommen, die ist nur einfach dann viel länger…
Komponist