Viel Musik hören

Die Festivalsaison ist bald beendet, der reguläre Konzertbetrieb hält langsam Einzug. Ich war nie ein Fan von zu viel Musik an einem Tag. Demnach war ich immer ein wenig skeptisch, was das Phänomen „Musikfestival“ (natürlich im Bereich E-Musik) angeht. Vier Konzerte an einem Tag? Vormittags bin ich noch nicht in Stimmung, mittags habe ich Hunger, nachmittags werde ich müde – und abends sind mir die Programme zu langweilig. Ich brauche Ruhe, einen Ort für mich, mein eigenes Essen. Und ich hasse Wespen! Und ich hasse „draußen Essen“. Ein Zwang, der mir schon in meiner Kindheit bei so manchem sommerlichem Mittagessen auf der Terrasse meines Elternhauses aufgebürdet wurde. Insekten landeten in meinem Essen. Ich mochte das dann nicht mehr.

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Es gab aber zwei Erlebnisse, es waren zwei oder drei Tage, an denen ich fast einen ganzen Tag von Livemusik beschallt wurde – und es genießen konnte. Es muss Ende der 1990er Jahre in Hannover gewesen sein. Der Gustav-Bumcke-Wettbewerb für klassisches Saxophon wurde damals an der dortigen Musikhochschule ausgerichtet. Der Klarinettenlehrer eines Freundes hatte Freikarten am Start. Und so setzte ich mich also in den großen Konzertsaal der Musikhochschule Hannover – und fand Gefallen an der immer und immer wieder gegebenen Saxophon-Sonate von Edison Denisov (1970), die ich bis dahin nicht kannte. Leider musste ich feststellen, dass die klassischen Saxophonistinnen und Saxophonisten dieser Welt offenbar nur dieses eine (gute) Stück haben. Deshalb wurde das eigentlich von allen gespielt. Das Stück hat eine tolle Länge, eine gute Dramaturgie. Ich wurde nicht müde, es zu hören.

Die dritte der Sonaten für Klavier und Violine von Johannes Brahms – die in d-Moll – kannte ich natürlich schon vorher. Aber auch mit der gab es ein positives Overkill-Erlebnis. Auch das muss Ende der 1990er Jahre gewesen sein. Beim Internationalen Joseph-Joachim-Violinwettbewerb, der bis heute in Hannover stattfindet.

An einem Tag habe ich – wenn ich mich richtig erinnere – die ganze Sonate drei oder vier Mal gehört. Immer wieder empfand ich die Abfolge der Sätze als ideal, zwischen aufregend, ja, fast fiebrig-brütend – und hymnisch singend. Im letzten Satz dann inbrünstig die leidenschaftliche Freigabe aller Gefühle. Dazwischen Paganini-Sachen, die Waxman-Carmen-Fantasie. Wie ich mit etwas schlechtem Gewissen (ob der reinen Virtuosität) dasaß – und mich an den Fingerübungen erfreute. Herrlich! Das Ganze wurde zu einem Sog. Jedes Gefühl einer Anstrengung wich. Ich musste unbedingt weiterhören!

Und so weiß ich heute, dass ich den richtigen Job ergriffen habe. Häufig vergleiche ich einfach in Texten verschiedene Interpretationen miteinander, verliebe (und verliere) mich in Musik – und in bestimmte Details. Hören ist auf diese Weise keine Arbeit mehr. Sondern Sucht und Freude.

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Arno Lücker wuchs in der Nähe von Hannover auf, studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hannover, Freiburg - und Berlin, wo er seit 2003 lebt. Er arbeitet als Autor (2020 erschien sein Buch »op. 111 – Beethovens letzte Klaviersonate Takt für Takt«, 2023 sein Buch »250 Komponistinnen«), Moderator, Dramaturg, Pianist, Komponist und Musik-Satiriker. Seit 2004 erscheinen regelmäßig Beiträge von ihm in der TITANIC. Arno Lücker ist Bad-Blog-Autor der ersten Stunde, Fan von Hannover 96 und den Toronto Blue Jays.

Eine Antwort

  1. Karl Rathgeber sagt:

    Lieber Herr Lücker, wenn Sie von komplizierten Partituren nicht genug bekommen können, dann empfehle ich Ihnen die Werke von Kaikhosru Shapurji Sorabji oder die „Gotische Sinfonie“ von Havergal Brian. Viel Spaß und gute Augen wünsche ich Ihnen.