Wir sind das Kollektiv
Wir sind das Kollektiv
Vor kurzem bekam ich eine Einladung von Sven Holm und der Musiktheaterkompanie „novoflot“, die schon seit langem erfolgreich tätig sind und mit denen ich vor vielen Jahren auch einmal als Komponist zu tun hatte („Kommander Kobayashi“).
Man liest da folgendes:
Nach Aufführungen beim Kunstfest Weimar und dem CPH Opera Festival in Kopenhagen kommen die Teile #2 und #3 der Novoflot-Trilogie DIE OPER endlich nach Berlin. Und damit erste performative Antworten auf die Frage, wie sich die titelgebende Gattung entwickelt hätte, wären die Partituren der 15 Musiktheaterwerke, an denen der Erfinder der Oper Claudio Monteverdi neben Orfeo, Ulisses und Poppea gearbeitet hatte, überliefert geblieben.
Klingt doch spannend! Da lese ich gleich weiter:
Würde Oper heute anders aussehen oder klingen? Eindeutig: ja! Und wie? Novoflot macht einen Vorschlag und präsentiert mit #2 IN DEN SEILEN (VOM ENDE) im Oktober die erste verschollene Oper Monteverdis an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.
Als Komponist stelle ich mir natürlich beim Lesen eines solchen Absatzes sofort die Frage: welche Kollegin, welcher Kollege hat das komponiert? Wer hat die verschollene Oper des großen Monteverdi zum Leben erweckt?
Aber das erfahre ich nicht, denn weiter heißt es:
Bereits zwei Monate zuvor gilt Novoflots Aufmerksamkeit in #3 DIE OUTTAKES dem Aussortierten der Operngeschichte.
Ok, aber wer hat denn die „#3 Die Outtakes“ komponiert? Novoflot sicherlich nicht, denn Sven Holm ist kein Komponist. Wer denn nun? Ich lese weiter, in der Hoffnung, endlich mehr über die Komponierenden zu erfahren, die sich diesem Thema widmen…
Warum nahm Claudio Monteverdi zahllose bereits komponierte Arien, Chöre, Sinfonien und Rezitative letztlich nicht in seine Partituren auf? Was waren seine Beweggründe? Und wo sind diese Opernreste geblieben? Dazu gibt es interessante Neuigkeiten, denn die musikalisch Unberücksichtigten könnten nun erstmals wieder auftauchen – an einem äußerst ungewöhnlichen Ort.
Ja, warum nur, warum nur? Ich weiß es auch nicht, wo diese Opernreste verblieben sind. Aber anstatt, dass ich erfahre, wer den nun eigentlich diese imaginären Reste wohlfeil kompositorisch dem Vergessen entreißt, erfahre ich, dass das alles an einem „äußerst ungewöhnlichen Ort“ auftaucht. Klar, ich verstehe, dass heute aufregende Locations das A und O bei der PR sind, aber darf ich denn nicht wissen, wer denn nun…?
Genau dort jedoch steht Novoflot bereit, um die verloren geglaubten Klänge in Empfang zu nehmen und mit ihnen zusammen die endgültige Neuschreibung der Operngeschichte einzuleiten!
Und das war’s! Novoflot wird aber nun nicht allein „die endgültige Neuschreibung der Operngeschichte“ vollführen können, denn dazu bräuchte es ja jemanden, der…nun…äh, diese Neuschreibung tatsächlich auch schreibt bzw. komponiert. Oder anders gesagt: man widmet einen ganzen Abend der Oper, aber in dem einladenden Anschreiben geht es kein einziges Mal um die Musik oder die Person, die diese Musik geschrieben hat.
Nun würde ich sagen, dass es sich bei der Musik in der Gattung Oper – bei allem Respekt vor den großartigen Leistungen der Regie, des Bühnenbildes, der Autor:innen usw. – um ein nicht unwesentliches, ich würde sogar wagen zu sagen um das allerwichtigste Element des Ganzen handeln könnte. Oper ohne Musik ist wie ein Film ohne Bilder, ein Buch ohne Worte, ein Tanz ohne Tänzer…es geht einfach nicht ohne. Und genauso wie man bei einem Buch wissen will, wer es denn nun geschrieben hat, ist es bei einer Oper bzw. Musiktheater keineswegs vermessen oder überzogen, nach den kompositorischen Urhebern zu fragen.
Ich habe dann tatsächlich noch sehr lange lesen müssen, bis ich in der Mail von novoflot diese für mich wichtige Info fand. Zuerst liest man nämlich eine lange Liste der Mitwirkenden (darunter der Chor der Sportler:innen und der Spielmannszug Pankow), Regie, Dirigent…bis ich dann endlich die ersehnte Information fand. Komponiert hat das Ganze nämlich:
Michael Wertmüller, Johnny La Marama (Chris Dahlgren, Kalle Kalima, Eric Schaefer), Antonis Anissegos
Und das erklärt natürlich alles: Wenn 2 Komponisten und ein Komponistenkollektiv bestehend aus 3 Komponisten ein Werk gemeinsam geschrieben haben, dann gibt es keinen besonders sexy Weg, das in einem Einleitungstext knallig wie den kurzen Namen „novoflot“ zu bringen. Also lässt man es lieber weg.
Und ich weiß: würde ich die Aufführung besuchen, würde ich nie wissen, wer denn gerade das geschrieben hat, was ich höre. War das von Antonis Anissegos? Oder von „Johnny La Marama“? Aber von welchen der Johnnys: Chris, Kalle oder Eric? Vielleicht war aber auch gerade Michael Wertmuller dran. Vielleicht war die Musik auch nicht das Wichtigste des Abends (warum es dann aber OPER nennen?).
All dies ist aber vollkommen typisch und keineswegs außergewöhnlich – bei Musiktheaterfestivals wie auch Theaterfestivals begegnen einem zunehmend „Kollektive“ und Künstlergruppen. Was früher eine seltene historische Okkasion darstellte, die selten lange Bestand hatte (man denke an die „Six“ in Paris oder das „mächtige Häuflein“ in Russland), ist heute geradezu inflationär geworden. Wie viele „Opern“ habe ich schon gesehen, bei denen so viele Komponierende beteiligt waren, dass ich ihre Namen alle schon vergessen habe, bevor ich das Programmheft überhaupt gelesen habe. Wandelkonzerte, bei denen in jedem Raum jemand anders am Laptop sitzt, der/die etwas klanglich steuert, was drei Räume weiter erklingt. Oder ist das ein „Remix“ von wieder etwas anderem? Die Grenzen der Individualität verschwimmen zusehends und Kollektive werden wie Sand am Meer gegründet, bestehen dann vielleicht nur für ein Projekt, um sich dann wieder neu für das nächste zusammenzusetzen.
Kollektive bieten Chancen wie auch Gefahren. Vor ein paar Wochen erzählte ich von meinem Besuch im „Omega Mart“ in Las Vegas, einer sehr beeindruckenden Kunstinstallation mit über hundert Urheber:innen. Dieses Ding war nun tatsächlich so gigantisch und riesig, dass es eine Person allein gar nicht hinbekommen hätte, es kann überhaupt nur durch ein Kollektiv entstehen.
Die Schattenseiten einer „Künstlergruppe“ erleben wir gerade bei der documenta in Kassel. Ein Künstlerkollektiv namens „Ruangrupa“ kuratiert die documenta, ein weiteres Kollektiv namens „Taring Padi“ stellt antisemitische Kunst aus. Aber wer von „Taring Padi“ ist denn nun der Antisemit? Wer hat die unsäglichen Schweinefratzen gemalt?
Man wird das nie erfahren, denn selbst auf der Website von „Taring Padi“ sind, außer sehr vagen politischen Statements, keinerlei Namen zu finden. Diesem Kollektiv, das „the middle strata of society“ sein will, kann anscheinend jeder beitreten, der zufällig mal vorbeiläuft oder lustig guckt. Das können Laien, Hobbykünstler oder Aktivisten sein, Hauptsache sie verzichten anscheinend auf jegliche Namensnennung und ordnen sich der in diesem Fall antisemitischen Agenda des „Kollektivs“ unter.
Und wer von „Ruangrupa“ fand es nun eine gute Idee, „Taring Padi“ einzuladen? Immerhin finden wir da auf der Website Namen, wenn auch wieder einmal sehr viele. Wer hatte nun die Schnapsidee, das antisemitische Banner ausgerechnet in Deutschland aufzuhängen? War es Iswanto oder Julia, Mirwan oder Narpati? Oder kamen eines Morgens Reza, Ade und Ajeng bei Daniella vorbei und sagten „Hey, Fareng hat da einen wirklich coolen Vorschlag gemacht…“.
Und damit habe ich noch nicht einmal alle Mitglieder dieses Kollektivs genannt (der grimmig dreinblickende „Indra“ möge mir verzeihen).
In dem verzweifelten Versuch, irgendeinen Ansprechpartner für dieses PR-Disaster zu finden, wird inzwischen sogar schon Claudia Roth angeklagt, die ja nun wirklich gar nichts für die ganze Scheiße kann, denn hätte sie Einfluss auf künstlerische Entscheidungen eines Kunstfestivals, würden wir tatsächlich in der „Diktatur“ leben, von der Bodo Dick- äh Schiffmann immer faselt.
Und das ist das Problem mit diesen ganzen Kollektiven – man kann sich wunderbar hinter ihnen verstecken. Und es hat sicher auch einen Einfluss auf die künstlerische Arbeit, wenn man weiß, dass die eigene Arbeit keineswegs im Rampenlicht steht, sondern nur als Teil eines größeren Ganzen gesehen wird. Gibt man sich dann genauso Mühe, wie es einst Monteverdi tat, als er seine Meisterwerke schuf? Sitzt man dann wie Bach detailverliebt über jedem Kontrapunkt? Oder wird die künstlerische Arbeit dann in gewisser Weise zum Selbstzweck – definiert man sich dann nicht mehr über die mögliche Identifizierbarkeit des Geschaffenen, sondern allein über die Arbeit an sich, für die es dann nie Applaus gibt?
Und es gehört schon extrem viel Disziplin oder eine versteckte Autorität dazu, um dem Ganzen eine klar erkennbare Richtung zu geben. Und irgendeinen geheimen „Chef“ oder eine geheime „Chefin“ gibt es immer – bei novoflot kommen und gehen Komponierende der verschiedenen Projekte, Sven Holm bleibt und bürgt für einen bestimmten identifizierbaren theatralischen Stil.
Dieser Text soll keine Polemik sein – vielleicht sind Künstlerkollektive die Zukunft und Konsequenz einer zunehmend vernetzten und komplexen Gesellschaft. Vielleicht sind auch die Herausforderungen inzwischen so groß, dass es die Verteilung auf viele kluge Köpfe (oder eher naive, wie im Fall von Ruangrupa) braucht, um Entscheidungen zu treffen? Ich habe rein gar nichts gegen novoflots Projekt und finde die Idee spannend und interessant, kann gut sein, dass der Abend ganz toll ist und fünf Komponisten nicht den Brei verdorben haben, sondern eine stringente und überzeugende musikalische Realisierung gemacht haben.
Nennt mich altmodisch, aber ich würde gerne besser benennen können, wer denn nun eigentlich was gemacht hat an einem solchen Abend. Ich bin ein Fan von individuellen Leistungen, ich bewundere Originalität und Einfallsreichtum, Witz und Genialität. Ich möchte einer bestimmten Person meinen Applaus schenken für eine bestimmte Leistung, nicht nur „der Gruppe“. Hunderte von Jahren verbrachten meine europäischen Vorfahren damit, Sklaverei, Leibeigentum und Knechtung des Volks zu überwinden. Noch in den Pyramiden und großen antiken Bauwerken schufteten anonyme „Kollektive“, die Namen der Architekten und vielen beteiligten Künstler:innen sind uns nicht überliefert. Aus der anonymen Masse hoben sich dann plötzlich außergewöhnliche Persönlichkeiten hervor, die die abendländische Kultur prägten. Für uns sind Bach und Clara Schumann individuelle Persönlichkeiten, und das ist doch eigentlich auch ganz schön so, denn dann können sie uns konkret Vorbilder sein, wir können ihnen nacheifern und direkt von ihnen lernen.
Aber vielleicht gehört die Zukunft tatsächlich den anonymen Werkstätten, wir werden sehen. Wie gesagt: nennt mich altmodisch, aber ich mache mein Ding (die Musik) gerne allein, denn dann macht es mir am meisten Spaß. Gerne im Team, gerne im Dienst eines größeren Ganzen (z.B. einer Oper). Aber die Musik möchte ich wirklich selbst schreiben und es nicht anderen überlassen. Denn die schönsten Sachen erlebt man am besten einfach selbst.
Moritz Eggert
Komponist