Ein paar Gedanken zu Dekadenz
Für ein Bachelorkonzert von Benedikt Holnaicher beantwortete ich vor kurzem drei Fragen zu „Dekadenz in Musik“, hier meine leicht überarbeiteten Antworten:
Welche Musik(en) kommen denn ganz spontan als „dekadent“ in den Sinn?
Eigentlich gar keine besondere. Ich glaube nicht, dass Musik an sich „dekadent“ ist, allein die Umstände, unter denen sie stattfindet können dekadent sein. Wobei es für mich egal ist, ob es sich um ein hochsubventioniertes Neue Musik – Konzert handelt (bei dem sich ein kleines Fachpublikum selbst gratuliert), oder um eine Sauf-und Grölveranstaltung auf Ballermann. Beides hat für mich definitiv etwas „dekadentes“. Dekadente Umstände erzeugen meistens auch Musik, die irgendwann immer nur noch um dieselben Themen kreist. Das ist dann künstlerisch nicht mehr sehr ergiebig und eine Form von Plattheit setzt ein. Die kommt aber aus den Umständen, nicht so sehr aus der Musik selbst.
In direkter Folge: Wie könnte eine über das alltägliche hinausgehende Definition von „Musikalischer Dekadenz“ aussehen? Wann ist Musik dekadent?
Wie oben schon gesagt: in dem Moment in dem eine selbstreferentielle „Szene“ entsteht, die nur noch um sich selbst kreist und von der nur noch wenige bis keine neue Impulse mehr ausgehen, wird Musik „dekadent“. Wenn also nur noch das erfüllt wird, was alle erwarten. Dann wird es sofort öde.
In diesen Schlafzustand kann jede Art von Musik übergehen, ganz unabhängig vom Genre. Als Beispiel könnte man zum Beispiel sagen, dass der Jazz in dem Moment, in dem er an Musikakademien ordentlich unterrichtet wurde und die Studierenden brav Jazzskalen- und Akkorde übten (die vorher von genialen Musiker:innen eher intuitiv gefunden wurden), aufgehört hat, „Jazz“ im Sinne von „Jazz“ zu sein. Er wurde zu etwas anderem und eine Form von Manierismus setzte ein. D.h. aber nicht im Umkehrschluss, dass es keinen guten Jazz mehr gibt, es ist nur schwieriger geworden, guten„Jazz“ zu machen, weil man in tausende akademische Fallen tappen kann. Die besten Jazz-Musiker haben also ganz neue Stile kreiert, die den überkommenen Schemata entgegenlaufen. Ist das noch „Jazz“ im traditionellen Sinne? Wahrscheinlich nicht, aber so bleibt es lebendig.
Ebenso läuft ein Neue-Musik-Komponierender stets Gefahr, mehr für Stipendien und Preise zu komponieren, anstatt wirklich interessante Musik zu schreiben, die aus einem dringenden inneren Wollen entsteht (wie zum Beispiel bei einem Schumann, der wenig Auftragsarbeiten ablieferte und vornehmlich seine eigenen musikalischen Visionen verfolgte). Aber es ist nicht einfach: eine etablierte Schlagersängerin wie Helene Fischer würde Schwierigkeiten bekommen, wenn ihre Songs nicht mehr dem entsprächen, was ihre Fans von ihr erwarten. Stellen wir uns vor, bei ihr säße plötzlich ein Streichquartett auf der Bühne und ihre Songs wären 8 Minuten lang! Ich persönlich fände das übrigens ganz toll und alles andere als dekadent…
Wie kann sich „Dekadenz“ niederschlagen in der „Komposition“, dem geschriebenen, und wie in der „performance“? Wie verhalten sich diese beiden Pole zueinander?
Schauen wir lieber, wie Dekadenz überwunden wurde musikhistorisch. Es gab immer wieder Phasen in der Musikgeschichte, in der es einen gewissen „manieristischen“ Stillstand gab. Dieser Stillstand kann durch starke künstlerische Impulse überwunden werden, die alles bisherige in Frage stellen. Die Oper zum Beispiel brauchte immer wieder Persönlichkeiten wie Gluck, Mozart, Verdi oder Wagner, um nicht in Manierismen zu erstarren. Das hat sich auch heute nicht geändert.
In dem Moment als zum Beispiel Popmusik ein Riesengeschäft und damit „dekadenter“ wurde, da eine Multiplikationsmaschinerie immer dieselben Arten von Hits produziert, gab es erfolgreiche musikalische Gegenbewegungen wie Prog-Rock, Punk, Grunge usw. die der Sache wieder Leben einhauchten. Mit jeder dieser „Revolten“ kam auch ein Umdenken in den Performancepraktiken – zu den Beatles wurde nicht mehr so getanzt wie zu Elvis Presley, weil man eher zuhören wollte. Nach Jahrzehnten eher verkopfter Musik kam dann der Punk und damit wieder extrem wildes aber ganz anderes Tanzen als früher (Pogo).
Aber in jeder dieser Revolutionen lauert wieder ein neuer Schlaf. Die Neue Deutsche Welle war erst einmal ein musikalisch interessanter Gegenentwurf zum Deutschen Schlager, dann wurde sie selbst zum Schlager. Man kann es auch anders sagen: Am Anfang jedes neuen Entwurfs gibt es interessante Pioniere und Bilderstürmer, die etwas vollkommen Verrücktes wagen. Danach kommen die Opportunisten, die sich quasi schon ins gemachte Bett setzen. Wenn die Opportunisten überhandnehmen, setzt die Dekadenz ein.
Jede Kunstform wartet immer wieder aufs Neue auf Pioniere, die sie aus einem Dornröschenschlaf wachküsst. Man muss ein Gespür dafür entwickeln, wann das wieder einmal nötig ist. Zu denken, dass immer alles so bleiben soll wie es ist, DAS ist das eigentlich Dekadente.
Moritz Eggert
Komponist