Missverständnis „Mainstream“

Missverständnis „Mainstream“

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Vor vielen Jahren hörte ich einen Vortrag von Morton Feldman bei den Ferienkursen in Darmstadt. Wie oft bei ihm handelte es sich um einen endlosen „stream of consciousness“, eine Mischung aus Anekdoten und philosophischen Betrachtungen, die einen ratlos hinterließen, aber auch faszinierten und enorm unterhielten.

Eine seiner Geschichten bleibt mir bis heute im Gedächtnis: Er erzählte, wie er mit einem Freund die Highways von Los Angeles entlangfuhr, ständig auf der Suche nach der richtigen Ausfahrt zu einem bestimmten Ziel. Immer wieder nahmen sie neue Abzweigungen und landeten in abgelegenen Käffern, wo sich Hund und Katz gute Nacht sagten – falsche Ausfahrt, wieder zurück, dasselbe Spiel, nächstes Kaff. Irgendwann wurde es Feldman zu bunt und er entschied, dass man jetzt auf der „main road“ bleiben müsse, um das Ziel zu erreichen. Und das war die überraschende Moral, die er den Zuhörerinnen und Zuhörern in Darmstadt präsentierte, mit erhobenem Zeigefinger: „always stay on the main road!“.

Mich hinterließ das damals zutiefst verunsichert, denn ich verstand „main road“ als eine Analogie zu „mainstream“. Morton Feldman empfahl mir, dem Mainstream zu huldigen? Das konnte doch nicht sein!

Als Komponist war „Mainstream“ immer ein Schimpfwort für mich. Normale Musik machen, die alle anderen auch machen? Langweilig. Mich interessierte schon früh das Abseitige, Seltsame, Andere. Das, was mich überraschte, nicht meiner Erwartung entsprach. Und natürlich ist das bis heute so. Warum den unendlichen „wilden Raum“ der Imagination dafür nutzen, um das zu erfinden, was es eh schon tausendmal gibt? Denn das ist die Definition von „Mainstream“, der „normale“ Geschmack, die Dutzendware, die tausend Filmmusiken, die klingen wie von Hans Zimmer, obwohl sie gar nicht von ihm sind, Hans Zimmer selbst, da das was er macht, ja auch größtenteils nicht von ihm ist. Das durchschnittliche „Neue Musik Festival“-Stück mit den typischen immergleichen Legenden und Zeichenerklärungen, den typischen Spezialeffekten, den typischen ins Leere laufenden Gesten. Der typische Popsong mit dem typischen Groove, den typischen Sounds und den typischen Refrains.

All das ist Mainstream.

All dies ist aber nicht das, was heute typischerweise gemeint ist, wenn man vom „Mainstream“ spricht. Denn dann spricht man von den bösen „Mainstreammedien“, die einem angeblich nur Lügen erzählen. Oder man bezeichnet sich als „Querdenker“, der einfach „alles außer Mainstream“ (Bodo Schiffmann) denkt, der die Dinge durchschaut, der die „Wahrheit“ kennt.

Kurzum: die Aluhüte von heute haben einen Begriff wie „Querdenker“, der einmal in der Kunst positiv konnotiert war (wer „querdenkt“ ist „originell“) okkupiert und missbrauchen ihn nun für ihre eigenen Zwecke. Das ist zutiefst verstörend für uns Künstler, denn das „Querdenken“ ist ja unser tägliches Metier, von dem wir leben.

Diese Taktik ist nicht neu – diejenigen, die man vorher als „Nazis“ bezeichnete, bezeichnen einen plötzlich ebenfalls als Nazi, Damit wird der einst kritische Begriff in seiner Wirkung abgenutzt, denn plötzlich sind alle und jeder „Nazi“, und alles kann damit begründet werden, auch ein Krieg in der Ukraine. „Querdenker“ zu sein, dass müssten sich früher Künstler wie Erik Satie oder Marcel Duchamp mühsam verdienen, heute gibt es das „Querdenken“ im Sonderangebot als billigen Schleuderartikel.

Bei dieser zunehmend falschen Verwendung von Begriffen fühlt man sich plötzlich wie in der berühmten Geschichte von Peter Bichsel „Ein Tisch ist ein Tisch“. Plötzlich ist ein Tisch ein Bild und ein Nazi ein „Querdenker“. Plötzlich ist ein Angriffskrieg eine „spezielle Operation“. Plötzlich ist eine Lüge die Wahrheit.

Und die größte Lüge derjenigen, die den Begriff „Mainstream“ als Schimpfwort verwenden, ist, dass sie gar nicht „Mainstream“ meinen, wenn sie den Mainstream beschimpfen. In Wirklichkeit meinen sie nämlich „Konsens“.

Konsens ist eine der tragenden Säulen jeder demokratischen Gesellschaft. Konsens ist etwas mühsam Errungenes, das sich in einem längeren Prozess aus tausenden von unterschiedlichen Binnenmeinungen herauskristallisiert. Erst sagt jemand A, dann sagt jemand B, dann sagen hunderte Stimmen C, D, E, F…Irgendwann stellt jemand fest, dass A und T gar nicht so weit auseinanderliegen und findet einen Kompromiss zwischen diesen Positionen. Dann findet eine andere Stimme heraus, dass man B, G und X auf einen gemeinsamen Nenner bringen kann, usw. Irgendwann kristallisiert sich aus all diesen Positionen ein funktionierender Konsens heraus, der nicht unbedingt von allen, aber von den meisten innerhalb einer Gesellschaft akzeptiert wird. Dann kann man zum nächsten strittigen Punkt weitergehen. Der „Mainstream“ einer öffentlichen Meinung ist also in Wirklichkeit eine langsame Auslese von besseren versus schlechtere Ideen. Der Wunsch, dass es möglichst vielen Menschen innerhalb einer Gesellschaft gut gehen sollte und eine Chancengleichheit herrscht, ist zum Beispiel so ein „Mainstream“-Konsens, und zwar deswegen, weil er interne Konflikte und Machtkämpfe minimiert und die Entfaltung des Nachwuchses statistisch effizienter macht, als nur diejenigen zu bevorzugen, die aufgrund von Macht und Stellung eine bestimmte Position geerbt haben. Auch wenn dieser Gedanke ganz einfach klingt – es dauerte Jahrtausende, bis die Menschheit an einem Punkt angekommen ist, wo dies – wenn auch stets unvollkommen – in einigen Ländern dieses Planeten realisiert wurde, u.a. in unserem.

Grundsätzlich ist es nämlich erst einmal richtig, dass ALLE Positionen zu Wort kommen. Dies steht am Anfang jeder Konsens-Diskussion. Auch die schrägsten Ideen müssen auf den Tisch, und die Natur (beziehungsweise unsere Gene) sorgen dafür, dass immer wieder eine große Auswahl an Denkmodellen zur Verfügung stehen.  Das heißt aber keineswegs, dass alle diese Positionen Recht haben, es setzen sich tatsächlich immer eher die durch, die uns ein friedliches Zusammenleben garantieren. Das mag angesichts grauenhafter Kriege zynisch klingen, dennoch herrscht auf der Welt insgesamt eindeutig mehr Frieden als Krieg, sonst würden wir uns ständig und täglich an allen Orten niedermetzeln.

Die menschliche Geschichte ist voll von diesen Konsensprozessen und natürlich nie linear. Es gibt Rückschläge und Konflikte, vor allem wenn unterschiedliche Gesellschaften aufeinandertreffen, die an einem unterschiedlichen Punkt dieser internen Konsensverhandlungen sind. Historisch gab es Jahrhunderte, in denen ein gesellschaftlicher Konsens sich kaum oder nur langsam veränderte. Es dauerte Jahrtausende, bis zum Beispiel ein gesellschaftlicher Konsens das Sklaven- oder Leibeigentum grundsätzlich ächtete, auch die Überwindung von zu bestimmten Zeiten vollkommen gängigen und gesellschaftlich tolerierten Praktiken wie Selbstjustiz oder Hexenverbrennungen war ein Konsens.

Die Menschheit ist nicht auf einer Treppe, bei der jede Stufe uns einem besseren Leben entgegenbringt. Aber es gibt nachweislich einen Konsens, der uns weitergebracht hat, sowohl gesellschaftlich als auch wissenschaftlich (dort funktioniert das Spiel von Positionen und Gegenpositionen genauso wie in der Gesellschaft, nur dass diese Positionen nicht einfach behauptet werden, sondern empirisch begründet werden müssen).

Schauen wir uns einmal an, was z.B. heute gängiger Konsens in unserer Gesellschaft ist:

  • Frauen sollten nicht schlechter behandelt werden als Männer
  • Wir sollten mit unserer Umwelt vorsichtig umgehen, da Klimawandel und Umweltverschmutzung ernstzunehmende Gefahren sind
  • Jeder Mensch sollte über seine Sexualität selbst bestimmen und sich frei entfalten können
  • Jedes Leben sollte gleichberechtigt geschützt werden, auch das von alten, kranken oder körperlich beeinträchtigten Menschen
  • Niemand sollte gegen seinen Willen zu sexuellen Handlungen gezwungen werden.
  • Niemand sollte aufgrund seiner Hautfarbe oder seiner Herkunft diskriminiert werden

Wir leben keineswegs in einer perfekten Gesellschaft, in der all diese Punkte stets beachtet werden. Aber wir leben definitiv in einer Gesellschaft, die sich das grundsätzlich mehrheitlich wünscht. Also in einer anderen Welt als um 1900, wo über kein einziges der oben genannten Themen ein gesellschaftlicher Konsens wie heute herrschte.

Es gibt also eine Entwicklung in unserer Gesellschaft, und es ist keineswegs eine schlechte Entwicklung. Wenn die oben genannten Punkte angeblich böser „Mainstream“ sind (und ja, es gibt Menschen die ihnen nach wie vor widersprechen), dann soll der Mainstream ruhig kommen, denn er macht mir keine Angst. Übergroße Political Correctness passiert, wenn das Pendel zu sehr in die andere Richtung ausschlägt, aber auch das gehört zum Diskurs, der zu einem Konsens führt.

Nicht zu verwechseln ist dieser freie Diskurs einer demokratischen Gesellschaft mit dem aufgezwungenen Konsens einer Diktatur. Man kann den frei errungenen Konsens daran erkennen, dass er stets auch die Gegenposition zulässt und nicht verfolgt. Man kann heute viel Blödsinn glauben und erzählen, ohne dass einem schlimmeres als ein Lächeln droht. Man kann auf „Spaziergängen“ mit der Polizei in Konflikt geraten oder ein Bußgeld bekommen, man kommt aber weder in ein Arbeitslager noch wird man für seine andere Meinung umgebracht werden. An diesen einfachen Zeichen kann man erkennen, dass man sich in einem Umfeld eines freien und nicht aufgezwungenen Diskurses befindet. Deswegen muss man auch unter den momentanen Umständen weder ein neues Drittes Reich noch die Errichtung einer Diktatur fürchten, auch wenn das immer wieder ominös von Gegnern der herrschenden gesellschaftlichen Ethik behauptet wird.

In den letzten Jahrzehnten hat sich der Diskurs auf eine bisher nie dagewesene Weise beschleunigt durch eine zunehmende globale Vernetzung. Inzwischen nehmen wir nicht nur an gesellschaftlichen Fragen unserer direkten Umgebung teil, sondern auch an den Themen, wie sie sich in anderen Ländern darstellen. Massenvergewaltigungen in Indien, Massaker an Studenten in Mexiko sowie die Unfreiheit der Menschen in Ländern wie Nordkorea nehmen uns genauso mit, wie die Probleme unseres eigenen Landes. Damit hat der Diskurs eine Geschwindigkeit und eine Komplexität erreicht, die viele überfordert.

Viele der heutigen selbsternannten „Querdenker“ denken keineswegs besonders quer, sondern besonders langsam. Sie sind in Wirklichkeit überfordert von gesellschaftlichen Entwicklungen. Wen die komplexe Nachkriegsgeschichte Deutschlands überfordert, fühlt sich wohler bei einem Erklärungsmodell der Reichsbürger. Wen die Pandemie überfordert, fühlt sich wohler bei Thesen, die alles als ein Komplott darstellen. Wen die sich ständig neu ordnende Welt überfordert, braucht eine Verschwörungstheorie der „neuen Weltordnung“, die ihm diese Prozesse auf einen bösen Plan der „Eliten“ herunterbricht.

Ein Tisch ist kein Stuhl, sondern ein Tisch. Und Konsens ist kein „Mainstream“, sondern ein Konsens. Wir brauchen diesen Konsens in einer freien Gesellschaft. Wir brauchen ihn auch, damit diese Gesellschaft nicht nur frei ist, sondern auch frei bleibt. Dass sie heute einigermaßen frei ist, ist schon eine enorme kulturelle Leistung, die wir bewahren müssen. Auch diese Freiheit ist eine „Main Road“, denn der Gedanke einer freien Gesellschaft oder überhaupt von Freiheit als Wert hat sich bisher als widerständiger erwiesen als die vielen anderen Modelle, die wir als Menschheit bisher ausprobiert haben.

Die gängigen Verschwörungserzählungen werden nicht belächelt, weil sie quer oder „nicht Mainstream“ sind, so wie es viele „Querdenker“ meinen. Stattdessen werden sie belächelt, weil der Zug schon längst weitergezogen, das Thema schon längst gegessen ist. Man ist auf der „Main Road“ schon wesentlich weitergefahren als die, die sich auf den Nebenstraßen verirrt haben.

Man hält sich nur sinnlos damit auf, wenn man immer wieder aufs Neue verhandeln muss, dass ein Tisch ein Tisch, eine Pandemie eine Pandemie und ein Krieg ein Krieg ist (und keine „Spezialoperation“). Die Welt hat sich schon längst weitergedreht, der Konsens hat sich schon längst ergeben.

Auf der „Main Road“ warten die wichtigen Herausforderungen, die noch vor uns liegen, nicht auf den Seitenstraßen der ewig Gestrigen. Daher: „Always stay on the main road“.

Und: Überall Mäßigung, nur nicht in der Kunst.

Moritz Eggert

 

Foto: Mara Eggert

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