Mit „Pet Sounds“ durch die Pandemie
Mit „Pet Sounds“ durch die Pandemie
eine Eloge von Jobst Liebrecht
Ich schätze mal, jede und jeder von uns hatte seine eigenen Wege, durch die Pandemie zu kommen. Meiner sah so aus: Mehrmals in der Woche setzte ich mich in mein Auto und fuhr in den Wald, um dort zu joggen. Auf dem Weg in den Wald hörte ich jedes Mal das Album „Pet Sounds“ der Beach Boys.
Es gehört zu den vielen Wundern dieser Musik, dass sie einen in allen Stimmungslagen auffangen kann. Die dreizehn Musiktitel, die sich Brian Wilson zum Jahreswechsel 1965/66 mit 23 Jahren in einem Schaffensrausch in wenigen Wochen erdachte, im Studio mit herausragenden Kreativmusikern einspielte, sodann mit dem Chorgesang seiner Beach Boys überwölbte, um ganz am Ende mit der Solostimme und einem Songtext nur noch zuzuspitzen – diese dreizehn Musiktitel sind jeder für sich ein Meisterwerk, ein Edelstein, ein Juwel, und sie sind dieses in einer lyrisch und formal derart geschlossenen und auf den Punkt gebrachten Form, dass mir dafür nur der Vergleich mit Anton Webern einfällt.
Ich setzte mich also mehrmals in der Woche in den Wald in Bewegung und suchte ein Vehikel für die mich in der Pandemie bedrängenden Gefühle. Gefühle des Scheiterns und der Depression, aber auch Gefühle der Sehnsucht nach euphorischem Aufbruch, nach Jugend. Die „Pet Sounds“ holten mich zuverlässig dort ab. Hier ist die Energie der Jugend aufbewahrt, wie sie auf die Schwere des Lebens geradezu aufprallt, dabei alle Schwierigkeiten noch überwindend, mit plötzlich einsetzendem Können und Metier bändigend – hier ist alles Gelingen.
Nr. 1 „Wouldn´t It Be Nice “, der Einstieg. Allein der Anfang: Eine zwölfsaitige Mandoline spielt direkt im Kontrollraum über die Eingangsbuchse in das Aufnahmegerät hinein – rätselhaft, orientalisch klingelnd, plötzlich ein Wumms von Pauke und Gran Cassa gleichzeitig, und dann schrammeln sie in einer anderen Tonart los: zwei Akkordeons übereinander und Glen Campbell und Barney Kessel an den E-Gitarren. Das kann man immer wieder hören, und immer wieder transportiert es die gleiche Freude, für immer aufbewahrt. Allerdings steht dieses euphorische Liebeslied im Konjunktiv, und spätestens beim Zwischenteil „It seems the more we talk about it, the more it hurts to live without it“ begeben wir uns in die Brian Wilson so vorzüglich eigene Grauzone des Schmerzes, die wie bei Mozart als „Melange“ in die Musik einsickert. Eine rätselhafte Rolle dabei spielen „triple bellow shakes“ im Akkordeon. Immer wieder flackern sie als emotionales Herzbeben über den Akkorden, Überbleibsel einer Nachtmusik, weinerliches Zittern, tränenvoll. Zum Glück gibt’s da die Kumpels, die Buddys – und der später in Verruf geratene „Bad Boy“ der Beach Boys, Mike Love darf das Lied beenden mit einem rauh in die Musik gerufenen „Good night Baby , sleep tight, Baby“.
Nr. 2 „You Still Believe in Me“ beginnt schräg mit einer sowohl gesungenen als auch im Inneren des Klaviers angezupften Melodie, was wie nach einer Sitar klingt. Wenn die Band einsetzt, schunkelt es fast – oder ist es eine zärtliche Rumba? Wir sind in H-Dur, nicht in C-Dur. Der Sänger schmachtet seine Ehefrau an, die immer zu ihm hält, obwohl er immer wieder Mist baut. Nach und nach kommt eine, ich möchte sagen: prickelnde Irritation in den Song, indem alle Arten von Laut- und Klanggeräten wie Fahrradklingeln und Autohupen fröhlichen Urstand halten. Die Idylle wird irgendwie irrwitzig überhöht. Dieses Lied, das so harmlos beginnt, wird besser und widerständiger, je häufiger man es hört. Die der Ehefrau zugesprochene unerschütterliche Treue und Zuverlässigkeit strahlt ab, macht es standfest und unverwüstlich. Und dann hört es auf, bleibt auf einem tiefen Akkordeonton stehen und beginnt nach einem kurzen Moment einfach wieder, als würde es ewig so weitergehen. Bei allem hört man bereits in voller Glorie, welche Rolle die exorbitante Bass-Spielerin Carol Kaye mit ihrem Sound, ihrer Präzision, ihrem Timing auf „Pet Sounds“ einnimmt.
Nicht nur ein Vehikel suchte ich ja, wenn ich zum Joggen in den Wald fuhr, sondern auch einen Anker, etwas zum Festhalten, etwas, was einfach stimmte, was einfach richtig ist.
Das war für mich der gesamte Sound auf „Pet Sounds“. Angefangen mit diesem gloriosen Bass, der voluminös, aber durch Plektrumgebrauch präzise zugespitzt, das Fundament liefert. Wobei Carol Kaye intuitiv die „Feels“ von Brian Wilson komplett versteht und jede Kurve dieser Achterbahn der Klänge mit Einfällen anreichert. Wer von beiden kam zum Beispiel bloß auf die Idee, den Bass so häufig in den höchsten Oktaven zu spielen? Aber dieser Bass ist ja nur der Anfang. Am Schlagzeug lauter Ausnahmekönner: der Hallodri Hal Blaine, musikalisch aufgewachsen in Spelunken und Unterhaltungsvarietés, gibt den ans Ordinäre streifenden, rüpelig-direkten Band-Drive her ( er war auch der Erfinder des Namens „Wrecking Crew“ für diese Studioelite von Los Angeles ) –Perkussionisten wie Frank Capp und Terry Melcher steuern viele Extraeinfälle bei. Dann die überlegen musikalisch gebildeten Keyboarder Larry Knetchel, Al de Lory und Don Randi, die alles können: Orgel, Cembalo, Klavier – und die maßgeblich mitverantwortlich sind, dass diese Musik plötzlich so „arty“, so nach Kunstmusik klingt. Die tollen Gitarristen, die Akkordeonisten, Trompeten und Saxofone, die Holzbläser – sie alle sitzen dort bei jeder Nummer. Und es findet sich immer etwas für sie, denn Mr. Wilson ist ein Fan des „wall of sound“: eine Vielheit von Klang springt einen an, lässt einen bei jedem Hören Neues entdecken.
Nr. 3 „That´s Not Me“ beginnt noch wie ein halber Surf-Song mit einer fast gebrochenen jugendlichen Stimme, was am ehesten nach der „Garage Band“ klingt, die die Beach Boys am Anfang ihrer Karriere waren. Tatsächlich haben die Barden bei diesem Song auch alle selbst an den Instrumenten mitgewerkelt. Darunter aber liegt schon eine surreal anmutende Hammondorgel, und es kommen immer wieder leicht psychedelische E-Gitarreneinschübe dazwischen, wenn die Band anfängt zu singen über den irgendwie auch im Schlagzeug hoppelnden Aufbruch in die Stadt, über die Suche nach sich selbst. Je häufiger man dieses Lied hört, umso mehr durchlebt man seine ständigen, unsteten Harmoniewechsel, zu denen auf höchst virtuose Weise der Chorgesang hinzugemischt ist.
Häufig stellte einen diese Pandemie vor ungelöste Gefühlslagen. Es bedrängten einen Kummer, Aussichtslosigkeit, Sprachlosigkeit.
Nr. 4 „Don´t Talk ( Put Your Head on My Shoulder )“ fängt das auf, einer der schönsten Popsongs, die je geschrieben wurden. Waren die ersten drei Nummern auf „Pet Sounds“ noch von jugendlichem Impetus geprägt, durchaus nicht immer unbekümmert, aber doch lebhaft sich austauschend, emsig beredt über die im Leben auftretende Probleme und Schwierigkeiten, tritt das Album mit „Don´t talk“ auf eine andere Stufe. Und zwar gleich mit dem allerersten Einsatz von Bass und Orgel mit lastenden Mollseptakkorden – ja welchen, das ist einem ganz egal, denn sofort ist die ganze Lage da mit dem ersten Klang. Dann die Schüchternheit im Gesang, die Zurede: sag einfach nichts und leg deinen Kopf auf meine Schulter, das ist mein Trost, „listen to my heart beat“. Wenn die Akkorde sich dann so forttasten, setzen auf einmal Streicher ein. Es sind die Sid Sharp Players. Brian Wilson hatte ihnen unbeholfen die Klänge, die er in seinem inneren Gehör hatte, aufs Papier zu bringen versucht bzw. einzeln vorgesungen. Diese Streicher setzen ein, und nach „listen, listen, listen“ verstummt die Gesangstimme völlig, und alle hören gebannt zu, wie Streicher klingen, was nur Streicher sagen können, wie nur Streicher singen können. Es ist ein altmodisches Espressivo aus der jüdisch-östlichen Geigentradition, es ist ein Klang, wie für mich Streicher klingen, wenn man sie klingen lässt. Es ist die schönste Streicherstelle in der Popmusik. Keine Kulisse, kein Klangbad, nur höchste Zeichenhaftigkeit wie bei Gustav Mahler. Und dann setzt auch der Heart Beat mit einer tiefgestimmten Pauke ein. Das ist alles im perfekten Gleichgewicht austariert, immer im richtigen Moment anfangend und endend.
Nr. 5 „I´m Waiting for the Day“ fegt die Stille mit synkopierten Pauken/Bass-Trommelklängen hinweg, die zum ersten Mal so etwas wie eine rockige Atmosphäre in den Raum stellen. Umso erstaunlicher, wenn das Lied dann sofort mit einem Englisch Horn und einer lyrischen Flöte seine elegischen Nebenstimmungen entfaltet. Dann aber sofort auch wieder zupackt mit „doo doo“-Silben im Scatgesang. In Folge ist es genau dieser nicht aufgelöste Gegensatz zwischen gefühlvoller Ballade und Rocknummer, zwischen denen es immer hin- und herpendelt. Selbst eine Coda mit dem Streichquartett wird von den Schlagzeugern prompt wieder zertrommelt.
In wieviel Situationen in der Pandemie blieb auch einfach nur Ratlosigkeit? Ich weiß es nicht mehr.
Nr. 6 „Let´s Go Away for Awhile“ ist ein reines Instrumental und wird nicht nur von seinem Komponisten überaus geschätzt. Es ist die perfekte abstrakte Popnummer. Nicht einmal der Text ist darin verblieben. Brian Wilson entschied, ihn wegzulassen. Und zu den nicht vorhandenen Melodien sagte er nur triumphierend „try to hum it!“. Es war übrig geblieben nur in seiner reinen Form einer dieser „Feels“, die für Wilson immer die Grundlage einer jeden Komposition waren. Beim ersten Hören, möchte man, obwohl untergründig fasziniert, noch denken: nun ja, da spielt eine Jazz-Band cool und relaxed ein paar Töne und eigentümlich fesselnde Harmoniefolgen vor sich hin, und es kommen dann Streicher dazu. Aber bei weiterem Hineinhören kommt dann gerade hier der Vergleich mit Anton Webern ostinat in den Sinn. Denn es finden hier extrem verdichtete Ereignisse statt. Sie basieren auf äußerster Diskretion und Reduktion. Sie bringen Ausdruck in höchst kondensierter Form aufs Tonband – und wie ja schon für die Lyrik der Wiener Moderne der damals zeitgleich erfundene Suppenwürfel zum Vergleich herangezogen wurde, so wäre es hier im Pop-Bereich vielleicht die Tomato Soup-Dose Andy Warhols. Eine Colaflasche war direkt beteiligt als Klangverfremder bei der E-Gitarre.
Ratlosigkeit kann Lösungslosigkeit bedeuten. Plötzlich aber kamen Lösungen in der Pandemie auch einfach so daher spaziert, es fanden sich Wege. Ich persönlich finde beim Laufen im Wald häufig auch innere Lösungen.
Nr. 7 „Sloop John B.“ hängt für mich mit innerer Lösung zusammen. Dieser einzige wirklich große Hit der „Pet Sounds“, den wahrscheinlich jede/r im Ohr hat, bringt mich mit seinen Klängen in das Zimmer in meinem Elternhaus, in dem ich aufgewachsen bin. Es bringt mich vor einen kleinen orangefarbenen Plattenspieler, den ich mittags nach der Schule sofort anzuschalten pflegte, und auf dem schon damals die Hits der Beach Boys liefen. Der, wie ich heute weiß, berühmte „Mono-Klang“, den Brian Wilson mit seinem nur auf einem Ohr funktionierenden Gehör auf die Platte gebannt hatte, prägte mein Klangempfinden in einer Weise, wie es mir heute immer mehr bewusst wird. Ebenso der sowohl nasal attackierende, als auch süßliche und reine Vokalklang der Chorarrangements, über deren Geheimnisse und Tricks ich mir vielleicht heute Rechenschaft ablegen kann, dem ich aber damals erlag, ohne zu wissen, warum. Ja, viele Jahre holte ich gelegentlich fast verschämt eine Beach Boys-CD hervor, um mich wieder an dieser Grund-Klangerlebnis meiner Jugend anzuschließen. „Sloop John B.“ kam mir da in jeder Hinsicht entgegen. Als Hamburger liebte ich diesen Song schon mal, weil er im Grunde ein SHANTY ist. Im Unterschied zu den anderen Songs von „Pet Sounds“ ist er ein „Original“, ein Lied, was schon ein Jahrhundert davor in vielen Versionen gesungen worden war. Es wurde verschiedentlich behauptet, es sei ein Fremdkörper in den „Pet Sounds“ und überhaupt nur auf Verlangen der Plattenfirma dort gelandet. Dieser Meinung bin ich nicht. Die Beach Boys hatten es unter seinem Folksong-Titel The John B. sails schon jahrelang gesungen, bevor sie überhaupt berühmt wurden. Und tatsächlich kann dieser Song wunderbar sozusagen am Lagerfeuer auf der Gitarre gespielt werden, ich selbst tat das auch viele Male. Hier jedoch kommt er im prächtigen Gewand eines ausgetüftelten Brian Wilson-Arrangements daher und wurde ein Schlüsselerlebnis für den Beginn der „Pet Sounds“-Kompositionen. Nachdem nämlich sein Freund Al Jardine das vertraute Lied angebracht hatte, hatte Brian Wilson, obwohl zunächst skeptisch über dessen Folkcharakter, in „Sloop John B.“ ein derartiges Meisterstück seiner Instrumentationskunst hingelegt, dass die anderen Bandmitglieder aus dem Staunen nicht mehr herauskamen und ihm für alles weitere sozusagen andächtig freie Hand ließen. Die eingängige Melodie, die sofort zum Nachsingen animiert, wird von Wilson mit einer Kombination von klingelndem Orchestrion-Ensembleklang und euphorischen Shantychor-Harmonien auf eine Stufe gehoben, auf der Strawinsky guten Tag sagt. Insbesondere fasziniert mich immer wieder das durchgängige Crescendo, das von Wilson unter das an sich gleichbleibende Strophenlied gebaut ist – und vor allem dabei die fantastische Bass-Stimme, die das alte Schiff sozusagen immer mehr ins Rollen bringt. Und nicht zuletzt ist in diesem Lied auch ein klares As-Dur ohne Eintrübungen glorios zu hören.
Mit Nr. 8 „God Only Knows“ kommen wir direkt darauf zum Herzzentrum des „Pet Sounds“-Albums. Der Legende nach geschrieben in einer Dreiviertelstunde und von einer unbezweifelbaren Autorität wie Paul McCartney als „bester Song aller Zeiten“ bezeichnet, kommt in God only knows tatsächlich eine ganz einmalige Mischung von Innigkeit, Leichtigkeit und auch einem religiösen Gemeinschaftserlebnis zusammen. Das Lied beginnt mit seiner Anfangsmelodie im Waldhorn, einem nicht nur damals in der Popmusik unerhörten Instrument. Unterlegt ist diese Melodie sogleich mit einem eigentümlich heiter klappernden Percussion-Part, für den Hal Blaine auf Plastikkanistern herumspielte. Die Schlittenschellen wurden vom Textdichter Tony Asher selbst eingespielt. Auch ein Cembalo und Streicher kommen zum Einsatz.
Wie dann auch bei den Beatles macht sich der Pop hier auf ins zeitlos Klassische, sucht die gesamte Bandbreite der Musik aufzunehmen. Diese Bandbreite wird einfach ineinander montiert, ineinander geblendet. Das Ergebnis kann entweder schwere Irritationen auslösen, oder eben pures Entzücken, wenn zum Beispiel hier das Ensemble mitten in der sanften Ballade plötzlich vier Takte lang ein strawinskyartiges, synkopiertes, fast marsch-mäßiges Fill-In spielt. Ein weiteres dieser zeitlosen Stilmittel ist der KANON. Er wurde in vielen von Brians Wilsons Liedschöpfungen zum krönenden Abschluss eines Songs benutzt, hier in God only knows“ auf besonders bezaubernde Weise ( vielleicht nur noch übertroffen von dem Schlußkanon seines späteren Songs „Surf´s up“ ) Ein interessanter Nebenaspekt, der das historische Momentum dieses Liedes beleuchtet, ist die Tatsache, dass God only knows zunächst von vielen Radiosendern in Amerika boykottiert wurde wegen der Nennung Gottes im Stücktitel. Auch der Textanfang „ I may not always love you“ wurde als Beginn eines ehelichen Liebesliedes als nicht opportun empfunden.
Wenn ich etwas zu erreichen versuchte in dieser Pandemie, dann eine heitere Gelassenheit, mit der ich das Nichtpassieren des äußeren Lebens zu ertragen versuchte. Ich versuchte, von mir und meinen Wünschen und Beunruhigungen abzusehen.
Nr. 9 „I Know There´s an Answer“ ( im geänderten Original ursprünglich “Hang On To Your Ego”- Mike Love weigerte sich, diese Zeile zu singen ) versucht einerseits, genau an dieses Loslassen vom eigenen Ich zu appellieren, drückt andererseits aber eine getriebene Beunruhigung aus, die auf die 68er-Bewegung vorausdeutet. Getragen von dem energischen, fast einpeitschenden Rhythmus der Tamburine kommen besonders in der Mitte des Songs immer wieder ruppige, tiefe Klangereignisse zustande, die nicht von einem Saxofon , sondern von einem ganz merkwürdigen Instrument, einer unikaten Bass-Mundharmonika hervorgebracht werden. Begleitet von einer Ukulele und Honkytonk-Klavier, mit Pauken und Bass-Drum, die immer wieder tiefe Gegenakzente setzen, verbreitet diese Bass-Mundharmonika eine unvergleichlich aufrührerische Stimmung.
Und ich kann mich ja auch fragen: warum hörte ich in der Pandemie so wenig klassische Musik? Unvergessen für mich das letzte Konzert der Berliner Philharmoniker mit Simon Rattle vor dem ersten Lockdown und der wuselig-lebendigen und dadurch beklemmenden Aufführung von Luciano Berios „Sinfonia“ im TV. Solche Musik – und mit ihr sind wir nicht so weit weg vom Thema – schien zu passen zur Situation. Dagegen mit Leidensmiene die „Metamorphosen“ von Richard Strauss zu zelebrieren, wie es im letzten Herbst vor dem dritten Lockdown mit dem gleichen Orchester geschah, schien mir eine unpassende Antwort auf die Zeit zu sein. Mitten im Lockdown Aufführungen der Kurt Weill – Sinfonien aus Schweden unter HK Gruber zu hören, das wiederrum passte für mich. Ich fand, wir hatten eine tragisch-schwierige, aber durch und durch moderne Situation vor uns. Ich fand dafür keine Antworten in herkömmlichen klassischen Orchesterkonzerten. Wohl in der eigenen Zwiesprache mit Klassikern am Klavier, aber nicht im Apparat. Und ich hatte ein symbiotisches Gefühl mit der Situation, in der Brian Wilson damals in den 60er Jahren die „Pet Sounds“ erfand. Auch damals war eine äußerlich stabile und wohlstandsgesättigte Gesellschaft plötzlich auf dem Weg in eine innere und äußere Krise, für die dann der Vietnam-Krieg stehen sollte. Die überkommenen Antworten von Kirche, Gesetzbuch, Institutionen reichten nicht mehr aus. Das, was zunächst daherkam wie eine persönliche Adoleszenz-Krise reichte bei einem sensiblen und psychisch labilen Künstler wie Wilson viel tiefer, wurde zur existenziellen Bedrohung. Es schlitterte mit ihm bergab. Hier in „Pet Sounds“ war er aber noch obenauf.
Nr. 10 „Here Today“ , die sinfonische Feier des Kommens und Gehens der Liebe bringt alles zusammen: die fetten Orgel- und tiefen Saxofonklänge , das hier frappierend quirlig-virtuose Spiel von Carol Kaye, das Girlanden mit dem Bass knüpft, der euphorische Falsettklang von Brian Wilson in der Blüte seiner Stimme, ein wunderbar verstimmtes altes Klavier, die gesamte Session-artige Stimmung von Chorgesang und fast wie improvisierten Instrumentalzwischenteilen, in die auch hineingerufen wird – alles das verbindet sich zu einer Wolke, wie der Berliner sagt.
Dagegen ist in Nr. 11 „I Just Wasn´t Made for These Times“ das Gefühl des völligen Fremdseins in der Welt auf herzergreifende Weise gestaltet und aufbewahrt. Wenn einer sich fragen sollte, wie Weltschmerz in der Musik überhaupt Erfolg haben kann, muss er hier nur genau hinhören: Es ist dieser hymnisch-selbstgewisse Ton, mit dem die Melodie anhebt, der dann abgebogen wird in entfernte Tonarten, dem sozusagen sein positiver Zahn gezogen wird, der sodann sich trotzig erheben und aufbegehren will und zu einer Art Refrain gelangt:“Sometimes I feel very sad“, bevor er sich am Ende doch resignierend in den unteren Regionen einpendelt und aufgibt. Höchst artifiziell durchgängig das gesamte Arrangement als perfektes Beispiel für einen „wall of sound“: die komplizierten Akkordverbindungen für die komplizierte innere Gefühlslage werden gemischt von Orgel, Cembalo und Saxofonsatz gespielt, die innere Unruhe wird im Schlagzeug durch nachhallendes, agitiertes Spiel auf zwei Coladosen artikuliert, gelegentliche Beruhigungen finden durch eine Querflöte statt, der Bass ist völlig losgelöst von seiner Fundamentfunktion, klimpert sozusagen im Raum herum. Brian Wilson führt für die Melodie außerdem prominent das Theremin in die Popmusik ein, das hier als Beispiel radikaler Individualität „Luft von anderem Planeten“ ( Schönberg, 2 . Streichquartett op. 10 ) erzeugt. Definitiv ist dieser Song das Piece de Résistance des „Pet Sounds“-Albums.
Und um eine Art passiven Widerstand ging es ja auch die ganze Zeit in der Pandemie. Ich hatte mich zu beugen einem zunächst unkontrollierbaren Geschehen. Uns blieb nur Geduld im Ertragen der Beschränkungen, der Absagen, des Verpassens von Chancen. Geduld im Zurückgeworfensein auf sich selbst, im Münchhausen-Gefühl des sich-selbst-aus–dem-Sumpf-ziehen-zu-müssens. Wohl dem, der dabei nicht nur fit blieb, sondern auch noch Coolness aufbringen konnte.
Dafür gab es die Nr. 12 „Pet Sounds“. Dieses ebenfalls reine Instrumental war tatsächlich unter seinem ersten Arbeitstitel „Run, James, run“ als Titelmusik für einen James-Bond-Film gedacht. Auf wundersam schräge Weise spiegelt es Brian Wilsons Begeisterung für Gershwin, Bacharach, Henry Mancini wieder. Auf der Grundlage lässig-heiterer lateinamerikanischer Percussion trägt eine
E-Gitarre eine kurze Melodie als fixe Idee immer wieder vor, so etwa wie Bond mit nur kleiner Geste seinen Hut geraderückt. Unnachahmlich schräge auch die einsetzenden Schlagzeugsoli, die geschwungenen Streichereinsätze, die Breaks der Brassband.
Das am Schluss stehende Nr. 13 „Caroline, No“ gehört zu Brian Wilsons persönlichsten Liedschöpfungen. Die fast noch scherzhaft aufzufassende Feststellung gegenüber der Freundin: „wo ist dein schönes Haar geblieben?“ wird unversehens erweitert zu einem existenziellen Loch des Verlustes, zu einem Sinnbild der Vergänglichkeit alles Lebens und auch der Liebe. Die ätherischen Gesangs- und Cembalolinien und süß-schwelgerischen Akkorde werden kontrapunktiert durch ein ostinat nachhallendes Percussionsereignis, das wie als Sinnbild für Trapattonis legendäres „Flaschen leer“-Zitat tatsächlich auf dem Boden einer leeren Plastikwasserflasche erzeugt wurde. „No“ ist das letzte gesungene Wort des Albums. Es ist ein vielschichtiges Nein. Zunächst das sentimental betrauernde „oh nein“ über Missgeschick, Verlust, über alles, was schiefgeht im Leben. Dann aber auch das protestierende Nein im Sinne von „das kannst du doch nicht machen – ich bin ganz und gar nicht einverstanden“ als klarer Einspruch, als Beharren auf der eigenen Meinung, als Beharren auf der eigenen Erinnerung, die etwas Anderes, Schöneres aufbewahrt.
Ich glaube, in all diesem Sinne war die Musik von „Pet Sounds“ für mich ein Nein zu der Pandemiesituation und bildete mir ein tägliches Gegengewicht.
Und es hörte ja auch gar nicht mit „Caroline, No“ auf. Den dreizehn Songs wurden von Brian Wilson als geisterhafter Nachklang noch angehängt zwei kleine Aufnahmen: die Klänge eines vorüberfahrenden Güterzuges mit Signalhörnern ( sounds ), gefolgt von zwei kräftig bellenden Hunden ( pets ). Wie eine Signatur auf ein besseres Morgen.
( Jobst Liebrecht, Oktober 2021 )
Unter dem LINK „Behind the Sounds“ können auf YouTube wunderbar instruktive Dokumentationen der Aufnahmesessions von „Pet Sounds“ für fast alle einzelnen Nummern angesehen werden.