Kollaboration

Collectie SPAARNESTAD PHOTO/NA/Anefo/Eric Koch (Creative Commons)

Tagebuch der Wörter (21)

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Kollaboration

Collectie SPAARNESTAD PHOTO/NA/Anefo/Eric Koch (Creative Commons)

Die klassische Musikgeschichte ist voller Individuen. Wir assoziieren jeweils eine Person mit seinem oder ihrem Werk, auch wenn dies vielleicht historisch nicht immer korrekt ist. So bildeten Fanny und Felix Mendelssohn-Bartholdy sowie auch Clara und Robert Schumann sicherlich zumindest teilweise kreative „Teams“, auch wenn historisch bedingt der männliche Partner nach außen hin repräsentativ war. Aber es ist unbestritten, dass es sich hier um künstlerische Partnerschaften handelte, die einen großen Einfluss auf das jeweilige Werk hatten.

Wie genau es z.B. in der Bach-Familie aussah, ob Komponisten wie Vivaldi oder Mozart vielleicht teilweise auch eine „Werkstatt“ betrieben, bei der Schüler oder Familienmitglieder zumindest an einigen kompositorischen Aufgaben beteiligt waren, können wir nicht bis ins letzte Detail sagen, es ist aber sicher, dass diese Komponisten z.B. Abschriften und Klavierauszüge auf neudeutsch gesagt teilweise „outsourceten“. Dennoch ist es ebenso sicher, dass die individuelle kompositorische Handschrift dominierte und sich schlüssig entwickelte.

Das 20. Jahrhundert sah eine enorme Beschleunigung der wissenschaftlichen Entwicklung in allen Sparten – damit einher ging eine größere Spezialisierung auf immer komplexer werdende Fachgebiete. Man ist nicht mehr einfach „Physiker“, sondern Spezialist für ein bestimmtes Fachgebiet der Physik, genauso wie man sich schwertun wird, eine Historikerin zu finden, die sich in absolut allen Menschheitsepochen gleich gut auskennt. Daher ist es in der Wissenschaft schon lange üblich, bei Veröffentlichungen („research papers“) im Team zusammenzuarbeiten. In der Ökologie zum Beispiel waren 85% der Veröffentlichungen zwischen 1998-2000 von mehreren Autorinnen und Autoren verfasst, es gibt auch Anzeichen dafür, dass diese Arbeiten mehr zitiert wurden als andere.

Popmusik ist keine Wissenschaft, aber auch hier gibt es schon seit vielen Jahrzehnten einen starken Trend zur multiplen Autorenschaft. Beim GEMA-Autorenpreis marschieren schon seit einiger Zeit ganze Fußballmannschaften auf die Bühne, wenn ein bestimmter Song prämiert wird, so „kollaborativ“ sind schon seit längerem die Produktionswege geworden. Einer der erfolgreichsten Produzenten und Komponisten unserer Generation – der den meisten Menschen her vom Namen vollkommen unbekannte Schwede Max Martin – hat sich sogar darauf spezialisiert, mit anderen zusammenzuarbeiten. Er gilt als der „Mann fürs Grobe“, der als einer der letzten ins Studio kommt und dem Song den feinen Schliff gibt, der ihn zum Erfolg macht.

Dieser Trend zieht nun auch langsam in die zeitgenössische Musik ein. In den 80er Jahren gab es erste „Teams“, bei denen die Grenzen zwischen den jeweiligen Stückproduktionen verschwammen, als Beispiel sind hier zum Beispiel Babette Koblenz und Hans-Christian von Dadelsen zu nennen. Bei den jüngeren Studierenden-Generationen ist dieser Trend noch ausgeprägter geworden – immer öfter finden sie sich zusammen in Ensembles, Komponistenkollektiven oder ähnlichen Initiativen. In der Filmmusik stehen inzwischen manchmal mehr Namen hinter einer bestimmten Filmmusik als Darstellerinnen und Darstellern aufgelistet sind, vor allem, wenn darüber Hans Zimmer steht (bei dem man manchmal gar nicht mehr weiß, ob er überhaupt noch etwas selbst komponiert, oder einfach in seinem Stil komponieren lässt).

Luigi Nono, Hans Werner Henze, Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen waren allesamt ausgeprägte Individualisten, die das Musikleben der Nachkriegszeit entscheidend geprägt haben. Undenkbar wäre gewesen, dass sie jemals offen im „Team“ zusammengearbeitet hätten. Selbst die Gruppenkompositionen der einen wesentlich familiäreren Umgang pflegenden „Group des Six“ waren streng nach Autoren getrennt. Ist diese Zeit vielleicht endgültig vorbei? Steuern wir auf eine zunehmend kollaborative Musik zu, in der die Einzelnamen zunehmend verschwinden hinter einer künstlerischen Gesamtleistung?

In der Konkurrenz um Aufmerksamkeit haben sich unterschiedliche Trends in der Musik manifestiert. Mainstream-Popmusik wird zunehmend auf das perfekte Produkt hin designt, wobei nicht nur die Musik, sondern auch die PR ein mindestens genauso wichtiger Teil des Gesamtprodukts sind, an dem dutzende Personen beteiligt sind. In der Independent-Musik sind kollaborativ arbeitende Bands schon lange gang und gäbe, um einen individuellen Sound zu kreieren.

Die zeitgenössische Musik behauptet oft eine Gegenwelt der besonders „raffinierten“ Musik, die sich mit der Untersuchung von bestimmten Klangphänomenen oder umfassenden außermusikalischen Konzepten beschäftigt. Unsichtbarer Partner solcher „Forschungen“ sind schon lange Computer und elektronische Klangmodulationen (oder angeheuerte „Fremdarbeiter“, wie in Johannes Kreidlers bekanntem Stück). Es ist wahrscheinlich nur noch eine Frage der Zeit, bis es vollkommen üblich sein wird, kreative Großteams einzusetzen, vor allem wenn man – wie einst noch Stockhausen – Komposition als eine Art Wissenschaft versteht. Dann wären immer größer werdende Teams unerlässlich, um immer größere Komplexität zu bewältigen.

Kann gut sein, dass man dann als komponierendes Individuum bald in der Minderheit ist und als skurriler Außenseiter verlacht wird, wenn man exzentrische und eigenwillige Ideen verfolgt. Vielleicht ist es auch umgekehrt, und man bewahrt sich wie in der Literatur eine Art Autonomie der eigenen „Stimme“.

Aber leider ist die Literatur ein schlechtes Gegenbeispiel – denn auch da ist schon lange Teamwork angesagt, zumindest wenn man es mit hochwertigem Lektorat zu tun hat. Bei vielen Büchern ist es fraglich, ob sie solche Erfolge gefeiert hätten, wenn es dieses Teamwork nicht gegeben hätte. Keine Autorin ist eine Insel.

Aber verzweifeln wir nicht daran, auch wenn die Vorstellung von künstlerischen Gruppenarbeiten nicht wirklich dem Sturm-und-Drang-Ideal des mutigen Individualisten entspricht, das immer noch unser romantisches Ideal des „klassischen Komponisten“ prägt.

Der Mensch ist nämlich zweifellos ein soziales Tier.

 

München, 21.9.2021

 

Meine liebe Frau ist unterwegs, um ihr neues Buch zu promoten und ich manage den Kinderhaushalt. Gerade eben gab es großes Geschrei, weil eine von der Urgroßtante geschenkte Pralinenpackung anscheinend nicht gerecht genug aufgeteilt wurde, aber das wird die Familie überleben. Ich beginne – trotz weiterhin leicht ziehendem Schmerz im Rücken – wieder zaghaft zu laufen und mich auf den doppelten Halbmarathon am Chiemsee vorzubereiten, der dieses Wochenende stattfindet. Ich erwarte keine Bestzeiten, aber schauen wir Mal.