Die Einsamkeit der Musikkritiker

 

Die Einsamkeit der Musikkritiker

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Ein seltsamer Fall geht gerade durch die sozialen Netzwerke: da hat ein unscheinbarer und kaum bisher in Erscheinung getretener Musikjournalist, der für diverse Opernmagazine, klassische Musikblogs sowie den Katholischen Nachrichtendienst arbeitet, anscheinend seine Position genutzt, um junge Frauen zu kontaktieren und sie jahrelang auf allen sozialen Medien zu stalken und unverhohlen zu belästigen.

Bemerkenswert ist hierbei sein Modus Operandi – unter dem Deckmantel eines angeblich geplanten Artikels oder einer Recherche zu einem ausgedachten Thema kontaktierte er z.B.  junge amerikanische Sängerinnen, die natürlich am Anfang ihrer Karriere nicht unbedingt einem Journalisten aus dem Opernland Deutschland einen Korb geben wollten. War erst einmal der Kontakt aufgebaut, begann er die Sängerinnen erst scheinbar harmlos, dann immer aufdringlicher zu stalken und mit unzähligen Sprach- und Wortnachrichten zu bombardieren. Manchen lauerte er sogar am Bühneneingang bei Gastspielen in Deutschland auf, wobei es aber immerhin wohl nie zu physischen Belästigungen kam. Herr L. gab dabei jeweils vor, kein Englisch zu können und versuchte sich den Sängerinnen als eine Art „Deutschlehrer“ anzubieten, um ihnen eine Opernkarriere in Deutschland zu ermöglichen. Oder er dachte sich eine Recherche zum „Singen in Coronazeiten“ aus, zu der er weder von seinen Arbeitgebern noch sonst jemandem beauftragt war.

War erst einmal ein zunächst unschuldig scheinender Dialog hergestellt („Ich bin ein deutscher Journalist. Ich spreche Deutsch. Können Sie mich verstehen?“), blieb L. hartnäckig dran, schickte Sprachnachrichten und fragte die Sängerinnen z.B., ob ihre „hübschen Schwestern auch so gut deutsch sprächen wie sie“. Oder er verlangte ein Videointerview per Skype oder Zoom für seine „Recherche“, dann enttäuscht und beleidigt reagierend, wenn sich zum Beispiel der Freund der Sängerin als Deutschübersetzer anbot, was bei vielen seiner Opfer natürlich die Alarmglocken schrillen ließ.

In was für einem Umfang diese Methode angewendet wurde, ist schockierend, und man fragt sich, wo Herr L. eigentlich die Zeit dafür hernahm, so viele Menschen zu verfolgen, aber im Zeitalter der sozialen Medien wundert einen ja eh schon lange nichts mehr. In der minutiösen und aufwändigen Recherche des englischsprachigen Blogs „The Middleclass Artist“ ist Fall nach Fall detailliert aufgelistet, ganze 73 (!) Sängerinnen wurden gefunden, die von Herrn L. über viele Jahre belästigt wurden, wovon 19 ausführlich über ihre Erlebnisse Auskunft gaben. Es dürften noch viel mehr gewesen sein.

Erstaunlich ist, dass Herr L. anscheinend regelmäßig riesige Listen von Frauen „abarbeitete“, die er alle unablässig mit ständigen Nachrichten belästigte, allein der logistische Aufwand scheint immens. Einig sind sich alle kontaktierten Frauen, dass sie ihn „creepy“ fanden – L. fragte sie schon nach wenigen Sätzen nach ihrem Alter oder versuchte genaue Adressen von Hotels oder andere private Informationen herauszufinden. Viele blockierten ihn irgendwann, nachdem sie die Hoffnung auf einen Artikel aufgegeben hatten, aber schon bald fand er schon wieder neue Opfer, denen er sich als „Deutschlehrer“ anbot.

Irgendwann begannen sich die Sängerinnen auch bei seinen Auftraggebern zu beschweren, dies resultierte in kurzen Entschuldigungsschreiben von L. in perfektem Englisch, die wiederum eine neue Dimension seiner „Methode“ offenbarten, denn vorher hatte er vorgegeben, überhaupt kein Englisch zu könne! Vermutlich, um den Sängerinnen gegenüber sprachlich überlegen zu sein, und sie in eine Position der Hilfsbedürftigkeit für seine Ratschläge zu bringen.

Soweit es die Autoren von „Middleclass Artist“ erfuhren, kündigten renommierte Magazine wie „Das Opernglas“ und Blogs wie „Res Musica“ wohl nun die Zusammenarbeit mit L., schienen aber der Sache der Sängerinnen relativ wenig Empathie entgegenzubringen, wenn man bedenkt, dass der gute Name dieser Publikationen hier missbraucht wurde. Und wie fühlt sich nun wohl der nächste deutsche Journalist, wenn er tatsächlich Sängerinnen interviewen will und man sich vor ihm als dem „next German creepy guy“ fürchtet, ohne dass er Unlauteres im Schilde führt?

Hier sind wohl viele geschädigt, und auch Herr L. selbst macht fast eine bemitleidenswerte Figur, wenn er jetzt wahrscheinlich versucht, über – was wie die Faust aufs Auge passt – den Katholischen Nachrichtendienst neue Opfer zu akquirieren (oder dies schon längst tut, denn anscheinend gehören nicht nur Sängerinnen zu seinen Opfern, wie der „Middleclass Blog“ am Schluss des Artikels herausfand) und sein gigantisches Belästigungsimperium vielleicht nun wieder von ganz vorne aufbauen muss.

Auch wenn ich sein Verhalten keineswegs nachahmenswert finde, sind doch zwei Dinge daran bemerkenswert. Zuerst einmal scheint das klassische Musikgeschäft eine unglaublich einsame Welt zu sein, in der Musikkritiken vielleicht auch ein Schrei nach Liebe und Aufmerksamkeit sind. Das ist wörtlich zu verstehen – es trifft sicherlich nicht auf alle Musikkritiker zu, aber ich habe tatsächlich Exemplare dieser Gattung erlebt, die mit fast flehendem Blick nach der Premiere am Bühneneingang stehen, um die geheime Location der Premierenparty zu erfahren. Einmal hatte ich Mitleid mit einem solchen Kritiker und nahm ihn mit, er dankte es mir mit einem Verriss.

Aus dieser Erfahrung heraus ahnte ich, wie ich einen anderen Kritiker erreichen konnte, der sich trotz mehrfacher Anrufe von mir nie zurückmeldete (ich hatte eine Frage an ihn). Als ich ihm auf Band sprach, dass ich ihn zu einer Feier des Tölzer Knabenchors mitnehmen könnte (was ich schlicht und einfach erfunden hatte), rief er innerhalb von 15 Sekunden zurück, so groß war seine Sehnsucht nach Gemeinschaftlichkeit mit jungen Musikern.

Zweitens zeigt es aber auch, wie sehr sich das Metier des „Stalkens“ verändert hat, seit es das Internet gibt. Denn kostete es früher sicher Überwindung, jemand Wildfremden anzuschreiben oder anzurufen, ist es bei Facebook nur eine Sache von ein, zwei Klicks. Einerseits sinken die Hemmschwellen, andererseits sind Menschen inzwischen auch gewohnt, dass ihnen vollkommen unbekannte Menschen Nachrichten senden. Aber auch die Opfer können sich jetzt besser wehren. So zeigt die Geschichte von Herrn L., wie wirksam es sein kann, wenn sich vorher nicht untereinander bekannte Sängerinnen über Belästigungen austauschen und sich dagegen solidarisieren – über soziale Medien ist eine solche Belästigungsgeschichte schnell geteilt und Herr L. wird mit seinem Namen daher ab jetzt ziemliche Probleme bekommen, da zukünftige Opfer vorgewarnt sein werden.

Als ich – mehrere Jahrzehnte ist es her – von einem Journalisten auf ähnliche Weise wie Herr L. gestalkt wurde, war es harmloser. In den Tagen vor Facebook und E-Mail musste dieser Stalker nämlich immer bei mir anrufen und tat dies auch gerne mal spätnachts, aber insgesamt dann doch nicht oft. Irgendwann hörten seine Anrufe dann auch auf, und so richtig mit der Angst zu tun bekam ich es auch nicht, denn mein Stalker blieb letztlich höflich und lauerte mir auch nie irgendwo auf. Und vielleicht ist auch Herr L. in Wirklichkeit harmlos und wäre dies auch gewesen, bevor es das Internet gab, aber nun, da der Kontakt zu hübschen jungen Frauen immer nur einen Mausklick weg ist, kann er einfach nicht widerstehen. Und das ist auch irgendwie tragisch. In einer anderen Epoche wäre er vielleicht zum Troubadour geworden und hätte den Angebeteten Lieder gesungen. Das Schicksal will, dass manche Menschen erst unter bestimmten Umständen und in bestimmten Epochen zu Unholden werden, nämlich wenn es ihnen – wie zum Beispiel im Internet – zu leicht gemacht wird, sich schlecht zu benehmen.

Aber auch das können wir hieraus lernen: natürlich wollen auch Musikkritiker in Wirklichkeit nur geliebt werden. Daher sollten wie sie vielleicht ab und zu Mal in den Arm nehmen. Vorsichtig natürlich.

Aber wir dürfen ihn dann auch nicht böse sein, wenn es trotzdem keine gute Kritik gibt!

 

Moritz Eggert

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Eine Antwort

  1. 15. Februar 2021

    […] „So zeigt die Geschichte von Herrn L., wie wirksam es sein kann, wenn sich vorher nicht untereinander bekannte Sängerinnen über Belästigungen austauschen und sich dagegen solidarisieren – über soziale Medien ist eine solche Belästigungsgeschichte schnell geteilt“…https://blogs.nmz.de/badblog/2021/02/15/die-einsamkeit-der-musikkritiker/ […]