Zur Rezeption der Stellungnahmen zu „Publikum“ und „Spielbetrieb“ des Instituts für Sozialmedizin und Epidemiologie der Charité
Am 17.08.20 erschien mittags eine Pressemeldung, die die Klassikmusikszene aufhorchen ließ: geringere Abstände zwischen Orchestermusikern, mit Publikum vollbesetzte Säle mit Maskenpflicht Prof. Stefan Willich im RBB zitierend, dem Direktor des Instituts für Sozialmedizin und Epidemiologie der Charité. Des weiteren war von den Berliner Philharmonikern die Rede: ihre finanziellen Probleme sowie in Aussicht gestellte Hilfen der Bundeskulturstaatsministerin, vom Programm zum Saisonstart. Also eine Pressemeldung mit Ursprung Berliner Philharmoniker.
Wie es begann
Es ist die Rede von „neue Untersuchungen der Charité im Auftrag der Berliner Orchester“. Das war der erste Stolperstein. Denn es gibt tatsächlich zwei Stellungnahmen des Instituts von Prof. Willich zusammen mit dem Institut für Hygiene und Umweltmedizin. Die hier gemeinte, aber nicht deutlich genannte, ist die „Stellungnahme zum Spielbetrieb der Orchester während der COVID-19 Pandemie Aktualisierung 17. August 2020.“ Partner dieser Stellungnahme sind zudem die Berliner Philharmoniker, das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin (DSO), das Konzerthausorchester Berlin, das Orchester der Deutschen Oper Berlin, das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) und die Staatskapelle Berlin. Da geht es allein um eine neue Bewertung der Abstände zwischen den Registern der Orchestermitglieder: Streicher benötigen z.B. nur noch 1m statt zuvor 1,5m, Bläser nur noch 1,5m statt zuvor 2m Abstand untereinander.
Die eingangs erwähnte Pressemeldung mischt allerdings Elemente aus einem RBB-Interview von Prof. Willich mit Maria Ossowski hinein. Auch in diesem Interview, hier beim SWR nachzuhören, wird nicht ganz deutlich zwischen zwei Stellungnahmen unterschieden. Das hatte dann gravierende Folgen. Erst später kam noch ein Disclaimer dazu.
Die problematische Stellungnahme zum Publikum
Die zweite Stellungnahme, ohne Mitwirkung der Orchester, aber wieder der beiden Charité-Institute heißt „Stellungnahme zum Publikumsbetrieb von Konzert- und Opernhäusern während der COVID-19 Pandemie“
Daraus wurden Schlagzeilen wie „Charité Berlin: Klassikkonzerte mit voller Besetzung denkbar“ wie z.B. in der Zeit, bevor es abends ein Update gab. Hier wurde aus den Instituten gleich die gesamte Charité. Volle Konzertsäle in Zeiten der Pandemie, das klang zu schön um wahr zu sein. So in etwa kommentierte es z.B. Christian Höppner vom Deutschen Musikrat, der länger schon weitere Grundlagenforschung dazu einfordert. Der Deutsche Musikrat monierte einen fehlenden Peer-to-Peer-Prozess, schrieb das der Charité zu. Der Musikrat nennt zwar immerhin beide Stellungnahmen, differenziert hier aber nicht zwischen beiden. So klingt es, als ob in beiden Stellungnahmen die Vollauslastung durch das Publikum stattfände.
N-TV hatte ähnliche Zweifel und fragte nach eigener Angabe dann beim Vorstand der Charité nach. N-TV äußert sich zudem kritisch darüber, dass Stefan Willich auch als Dirigent tätig sei. Es folgt dann die Bemerkung, dass der Vorstand der Charité sich scharf distanziere. Es wird korrekt der Wortlaut wiedergegeben, der auch mich einen Tag später erreichte und den ich in dieser Fassung zitiere, wie man ihn übrigens auch auf dem Twitter-Kanal der Charité wiederfand: „Sehr geehrter Herr Strauch, vielen Dank für Ihre Anfrage. Bei der „Stellungnahme zum Publikumsbetrieb von Konzert- und Opernhäusern während der COVID-19 Pandemie“ zur Wiederaufnahme des Oper- und Konzertbetriebs unter Corona-Bedingungen handelt es sich um ein nicht abgestimmtes Papier. Dieses gibt nicht die Position des Charité-Vorstands wieder. Der Entwurf berücksichtigt nicht die aktuelle Dynamik des Infektionsgeschehens und der damit verbundenen Risiken. Das Papier ist daher nicht als Handlungsvorschlag, sondern als Grundlage einer weiteren kritischen Diskussion im Rahmen der Berliner Teststrategie zu betrachten.“
Das Kommunikations-Tohuwabohu und seine Folgen
Durch die Vermischung der beiden Stellungnahmen in den ersten Berichten und Pressemeldungen unterschied die weitere Berichterstattung zum Teil sträflich nicht mehr zwischen „Spielbetrieb“ und „Publikum“ – so fasst fälschlicherweise auch N-TV beides in einem zusammen. Aus zwei Stellungnahmen wird nach Paraphrase des RBB-Interviews zum Publikum eine Studie: „Auch die Musiker selbst dürfen nach Willichs Studie wieder fast so eng wie vor Corona zusammenrücken.“ So las auch Jan Brachmann am 19.08.20 in der FAZ nicht korrekt das Statement des Vorstands, der sich nun nach dieser Darstellung von beiden Stellungnahmen distanziere: „Nun herrscht in der Öffentlichkeit große Verwirrung um diese beiden Positionspapiere, weil sich der Vorstand der Charité von ihnen sofort distanziert hat.“
So wurde die Verwirrung immer größer. Nur zur Erinnerung, nochmals, der Vorstand schrieb eindeutig mehrfach nur über die „Stellungnahme zum Publikumsbetrieb“. Die „Stellungnahme zum Spielbetrieb“ wird dort mit keinem Sterbenswörtchen genannt. Woher die beide Stellungnahmen die ziemlich abwertenden Bemerkungen über den fehlenden „Peer-to-Peer-Prozess“ angeheftet bekamen, ist zumindest aus der Meldung des Charité-Vorstands nicht abzuleiten. Es wird immerhin als Basis weiterer Diskussionen ausdrücklich anerkannt.
Dass man sich in der ersten Kommunikation wohl durch die nicht eindeutige Unterscheidung zwischen beiden Stellungnahmen einen Bärendienst erwies, ist jedenfalls ziemlich klar und eine der Ursachen der Kette an Missdeutungen. Anscheinend löste die Vorstellung voller Konzertsäle bei einigen eine große Unruhe aus. Das ist natürlich vollkommen verständlich. Denn das wichtigste wird demnächst vor allem sein, das Vertrauen des Publikums zu gewinnen, dass es sich in peu à peu wieder voller werdende Säle überhaupt traut. Manche kommentieren z.B. auf social media, dass doch jeder selbst entscheiden kann, ob man sich in das Innere eines Konzertsaales traut. Das mag stimmen. Doch als Veranstalter habe ich damit höchstwahrscheinlich nicht einmal den Saal mit der Hälfte der möglichen Publikumszahl gefüllt, wenn ich nicht Alles tue und damit kommuniziere, dass mir das Wohlbefinden und die Gesundheit auch der schwächeren Konzertbesucher ein Herzensanliegen ist.
Manche Ungerechtigkeit gegenüber dem Leiter der Stellungnahmen
Befremdlich ist jedenfalls, dass man Prof. Willich zum Teil Befangenheit vorwirft, weil er eben auch noch eine Musiker-Seite hat. Am 10.07.20 z.B. führte Deutschlandfunk ein Gespräch mit Prof. Dirk Mürbe von der Audiologie-Phonologie der Charité über Aerosolbildung beim Singen und ersten Hoffnungen für Singende in Kammerchören in großen Räumen zu jener Zeit. Ohne zu werten wurde erwähnt, dass „Dirk Mürbe… selbst ausgebildeter Sänger und leitet die Klinik für Audiologie und Phoniatrie an der Charité Berlin“ ist. Genauso wohlwollend bemerkte man in BR-Klassik, dass Prof. Matthias Echternach von der Phoniatrie der LMU München ein begeisterter Freizeitsänger sei.
Klar, zu Anfang der Corona-Pandemie gab es Infektionsgeschehen mit Verstorbenen in Chören und Kirchenkonzerten. Als es im Tonhalle-Orchester Zürich bei fortgesetztem Probenbetrieb trotz erster Vorkehrungen einen Infektionsfall gab, stellten viele Berufsorchester ihren Probenbetrieb umgehend ein. Das sollte man nicht vergessen, wenn es um den Streit der Wiederaufnahme des Proben- und Konzertbetriebs geht. Zurecht verweist Prof. Willich auf die planbaren und ruhigen Umstände eines Klassikkonzertes, was Widerspruch bei nicht ganz so Klassik-Affinen auslöst, wenn speziell für diesen Bereich eine eigene Veranstaltungsöffnung gefordert wird. Allerdings ist das auch okay, wenn man bedenkt wie für Veranstaltungen im Gottesdienst, Sport und Lokalen je eigene Regeln getroffen wurden. Da kann man sehr wohl zwischen Klassik-Konzert mit ruhigen Sitzenden oder Rockkonzerten mit wild Tanzenden und Mitsingenden unterscheiden.
Jetzt gibt es vermehrt Studien, die auch tatsächlich den „Peer-to-Peer-Prozess“ durchlaufen. Die ersten Entscheidungen für Wiederzulassung von Proben und Konzerten von Ensembles und Chören von Profis wie Laien beruhten in Bayern aber z.B. neben ersten Stellungnahmen von der Musikhochschule Freiburg oder einiger Charité-Institute auf Erfahrungen und Regelungen mit Gottesdiensten mit und ohne Musik, Lokalöffnungen und vor allem dem politischen Wirken des Bayerischen Musikrats, der Orchester und des Blasmusikverbandes samt ihren Verbindungen in die staatstragende Partei hinein.
Fazit der betroffenen Orchester
Auch wenn es am Ende für Berlin Sache des dortigen Senats sein wird, signalisierte Bundeskulturstaatsministerin Monika Grütters großes Wohlwollen für beide Studien. Ich fragte auch bei den Berliner Orchestern an, wie sie das einschätzen. Sie antworteten dann unter Federführung der Presseabteilung der Berliner Philharmoniker gemeinsam, betonten die Mitwirkung an der „Spielbetrieb“-Stellungnahme, aber auch für sich die Wichtigkeit der „Publikumsbetrieb“-Stellungnahme: „An der „Aktualisierung der Stellungnahme zum Spielbetrieb von Orchestern“ waren wir aktiv beteiligt, an der zum Publikumsbetrieb nicht. Wir begrüßen aber die Diskussion über eine weitere Öffnung der Konzertsäle für Publikum, die dadurch ausgelöst worden ist. Sie sollte aus unserer Sicht dringend geführt werden, da hier aktuell mit die strengsten Auflagen gelten… Wir begrüßen den Diskurs, der durch wissenschaftliche Erkenntnisse und Stellungnahmen angeregt wird. Sie sollten ausgewertet werden und in die weiteren politischen Überlegungen einfließen. Wir sind jederzeit bereit, uns an Gesprächen zu beteiligen und unsere eigenen Erfahrungen einzubringen.“
Wie gesagt, es gab die Infektionsgeschehen im klassischen Musikleben weltweit. Tatsächlich sind die Auflagen mit nur zu einem Viertel gefüllten Sälen hier strenger als z.B. für Restaurants. Bei aller Merkwürdigkeit und auch erstaunlich zwei dünnen DinA 4 Seiten der „Publikum“-Stellungnahme, führt sie einen Punkt aus, der bisher unterging: Nach dieser Stellungnahme muss er nun während der gesamten Veranstaltung aufbehalten werde. Jetzt darf das Publikum am Platz den Mund-Nasen-Schutz abnehmen. Das macht es für dieses im Musikerleben sehr angenehm. Was ist aber mit der Gesundheit der Interpretierenden? Die atmen als Bläser oder Singende bei allem konzentrierten Ausatmen die Aerosolwolke des Publikums ein. Daher kann man darin einen Schutzgedanken Pro-Musiker sehen, den bisher die aktuellen Hygienekonzepte nicht verfolgten.
Denn mag es absurd erscheinen, dass auf Dauer Konzertsäle nur zu einem Viertel belegt werden dürfen, verlangt momentan niemand zu 100% ausgelastete Säle. Die Orchester sehen das in Berlin so, auch im Unterschied zu den Regeln der Salzburger Festspiele, wo die Künstler quasi abgekapselt werden, es unterschiedliche Kontaktstufen gibt, mindestens einmal wöchentlich ein Corona-Test stattfindet und die Kontakte genau zu notieren sind. Denn im Konzertbetrieb einer ganzen Saison ist eine solche Abschottung von Musikern mit Familie und Kindern sowie Unterrichtspflichten und Teilnahme in Kammermusikensembles kaum durchzuführen, da es sich ja nicht um ein solitäres Konzertprojekt wie einem Festival handelt: „Der bisherige Erfolg der Maßnahmen der Salzburger Festspiele ist sicher ein wichtiger Diskussionsbeitrag, der zusammen mit anderen Expertisen von Fachleuten ausgewertet werden wird und in die weitere politische Diskussion einfließen sollte. Für komplett übertragbar halten wir das Konzept aber nicht, insbesondere im künstlerischen Bereich.“
Mit Vorsicht nach vorne
Man will also auch bei der Publikumsbelegung vorsichtiger vorgehen als es die „Publikumsbetrieb“-Stellungnahme ausmalt – Vorbild sind hier zu erwartende Erfahrungen mit den Berliner Kinos: „Für uns wesentlich übertragbarer ist das Experiment, in den Kinos in Berlin jeden zweiten Platz zu belegen. Dies beobachten wir mit großem Interesse und erwarten, dass das Konzept bei Erfolg auch auf die Konzerthäuser übertragen werden wird.“
So eröffnen beide Stellungnahmen neue Diskussionen, schließen den wissenschaftlichen Prozess allerdings nicht ab. Sehr befremdlich ist in der „Spielbetrieb“-Stellungnahme z.B. von den wenigen Fussnoten bereits die erste: es wird auf ein Video eines Blechbläser-Musikwissenschaftlers verlinkt, der einen der vielen Kerzentests zum geordneten Ausatmen vorführt. Das ist aber kein medizinisches Experiment wie die Laboruntersuchungen zum Singen und Spielen der o.g. LMU oder der Universität der Bundeswehr in München, sondern eher eine Art Garagen-Spielerei, auch wenn Dr. Matthias Bertsch über die Tonerzeugung der Trompete musikwissenschaftlich promovierte. Das Experiment ist sehr schlüssig durchgeführt, aber eher ein Anfang denn ein Bezugspunkt einer abgeschlossenen längeren medizinwissenschaftlichen Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung von Sars-CoVid-2. Auch wenn ich nur Komponist bin, würde ich mir von einer so gewichtigen Stellungnahme, die Auswirkung auf alle öffentlichen Berufsorchester in Berlin hat, mehr an Bezügen zu anderen, v.a. experimentell und peer-reviewed oder in dessen Vorbereitung abgeschlossenen Studien erwarten.
Womit die „Spielbetrieb“-Stellungnahme sowie die „Publikumsbetrieb“-Stellungnahmen aufräumen, ist der unwürdige Flugzeug/Konzertsaal-Vergleich. Es werden schlicht moderne Filteranlagen für moderne Säle verlangt, im besten Falle die besagten HEPA-Filter. Die werden womöglich nicht überall einbaubar sein, so dass es in diversen Sälen bei kleinen Programmen mit kleinem Publikum bleiben könnte. Aber wo es möglich ist: bitte einbauen, Masken für das Publikum, halbe Belegung, vielleicht irgendwann bei guten Erfahrungen sogar 2/3-Belegung. Bitte dennoch niemals vergessen, was im März 2020 in Proben und Konzerten an Problemen auftraten und keine unnötigen Risiken eingehen. Denn wie ich sagte: es gilt nicht nur das Publikum als zahlende Masse wiederzugewinnen, es gilt das Wohlbefinden und Vertrauen des Publikums aufzubauen. Dazu sollte man jedenfalls demnächst die Stufen von Pressemeldungen besser abstimmen, genauso innerhalb der Charité nicht nur auf die Eigenständigkeit eines Instituts beharren, sondern auch z.B. mal bei der Virologie anklopfen: zuerst medizinisch intern und extern abstimmen, dann nicht von Geldsorgen und Programmen, sondern nur der Wichtigkeit dieser Stellungnahmen für ein Orchester sprechen, danach eigens den größeren Bogen spannen.
Komponist*in
Im Berliner Theater besteht ab 27. 09. die Pflicht zum Tragen einer Mund- und Nasenbedeckung auch während der Vorstellung.
Die bisherige Regel „Ohne-Maske am Sitzplatz im Theatersaal“ ist bedenkenlos und fahrlässig, da sie die Besucher in Aerosol-Gefahr Gefahr bringt, zumal die meisten Besucher zur Risikogruppe gehören. Hoffentlich ziehen Theater in anderen Bundesländern dem Beispiel Berlin nach.
Wer Corona verharmlost, wird vom Virus kalt erwischt. Das bekannteste aktuelle Beispiel aus der Theaterszene ist die russische Sopranistin Netrebko. Hoffentlich bleiben bei ihr keine Langzeit Auswirkungen zurück.