Plädoyer für eine stärkere Corona-Kunst

Plädoyer für eine stärkere Corona-Kunst

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Die letzten Monate waren für uns Musiker von unendlichem Frust geprägt. In der ersten Phase der Corona-Epidemie wurde es in den sozialen Medien zum Sport, all die abgesagten eigenen Projekte minutiös aufzulisten, meistens mit anklagendem und mitleidheischendem Unterton. Darauf folgte die bis heute anhaltende „Trotz“-Phase, mit der kämpferischen Haltung „Wir spielen trotzdem!“. Umsonst Live-gestreamte Konzerte mit mieser Akustik und Wackelkamera aus dem Wohnzimmer (oder auch etwas edler aus dem Theaterfoyer) sind seitdem an der Tagesordnung, ganze Festivals (wie zum Beispiel die Münchener Biennale) wurden kurzerhand ergebnisoffen ins Internet gelegt und finden größtenteils nur noch als Tweets statt. Igor Levit spielte tapfer jeden Tag stundenlang sein Klavierrepertoire als Trost für die Massen, bis selbst er einmal eine Pause brauchte von der ständigen Online-Präsenz, andere traten sofort an seine Stelle.

Tatsächlich erhalte ich momentan jeden Tag dutzende Nachrichten, die mich auf das eine oder andere Online-„Ersatz“-Event hinweisen. Ich könnte den ganzen Tag damit verbringen, kostenlose Livestreams von Neue-Musik- oder Klassikkonzerten aus dem Internet anzuschauen, und wenn mir das langweilig wird, kann ich mir endlose Monologe von Opernintendanten anhören, die über die neue künstlerische Weltordnung philosophieren oder dagegen aufbegehren.

Das ist alles löblich und verständlich, aber ich habe das Gefühl, dass ich nicht der Einzige bin, der sich denkt, dass das irgendwie nicht alles sein kann. Und man sich eigentlich über jede Kollegin, jeden Kollegen freut, der einfach Mal Pause macht, oder – wie Helge Schneider es schön ausdrückte – keine Lust hat, „vor Autos zu spielen“ oder sich in endlosen Home-Videos zum Affen zu machen. Insgesamt leidet nämlich die Kunst darunter, dass man ständig versucht, sie als eine Art kreativen Widerstand in der Not zu etablieren, oder einfach nur verzweifelt sagt „Es gibt uns noch! Bitte vergesst uns nicht!“. Es ist zwar verständlich, dass in zahllosen Onlineaktionen KünstlerInnen darum betteln, dass die Politik sie doch bitte nicht vergessen möge, und wie wichtig sie doch für die Gesellschaft sind, aber es wirkt auch verzweifelt und ohne Selbstbewusstsein. Selbstverständlich sind wir wichtig für die Gesellschaft, daran müssen wir nicht verzweifeln. Wer sich ständig legitimieren muss, wirkt schwach.

Und bei denjenigen ganz Verwirrten, die nun der Meinung sind, der Staat wolle die Kunst mittels einer Weltverschwörung insgeheim abschaffen (gemeinsam mit den Grundrechten), frage ich mich oft, wie sie denn vorher überhaupt diesem Staat das Vertrauen schenken konnten, als er ihnen großzügig Stipendien, Fördergelder und die weltweit günstigsten Studienmöglichkeiten zur Verfügung stellte. Da schienen sie nämlich alles noch ganz ok zu finden!

Oft liest man auch den (wegen der nicht überall funktionierenden finanziellen Künstlerhilfen) den frustrierten Satz „Jetzt sieht man, wie viel Kultur unserer Gesellschaft wert ist – nämlich nichts!“. Aber das stimmt nicht, denn bis hin zu Corona wurde tatsächlich in Deutschland sehr, sehr viel Geld für Kultur (im weltweiten Vergleich auch an oberster Spitze) ausgegeben, und es zeichnet sich nicht ab, dass hier ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel ins Haus steht. Keine Seuche der Weltgeschichte hat je dauerhaft die Kultur zerstört (wenn auch vielleicht umständehalber länger Kultur beeinträchtigt) – ganz im Gegenteil, nach der Überwindung einer Seuche gab es normalerweise sogar eher Blütezeiten der kreativen Produktivität.

Wie auch immer: Das Selbstbewusstsein der hiesigen Kulturszene ist auf einem historischen Tiefpunkt. Und leider ist kein Ende in Sicht, solange Corona-Maßnahmen unser tägliches Leben voraussichtlich zyklisch dominieren und kein wissenschaftlicher Durchbruch ins Haus steht. Gerade deswegen fände ich es wichtig, dass ein Umdenken stattfindet. Und dieses Umdenken könnte damit beginnen, dass wir die Umstände, unter denen Aufführungen und Konzerte momentan stattfinden können, pragmatisch annehmen, anstatt sie ständig zu hinterfragen oder gar zu thematisieren.

Stellen wir uns vor, eine Regisseurin bekäme den Auftrag, eine Oper an einem großen und angesehenen Haus zu inszenieren. Zuerst freut sie sich, aber dann teilt ihr die Intendanz mit, dass sie die elektronische Lichtanlage nicht benutzen darf und allein offenes Licht auf der Bühne verwenden muss. Des Weiteren erfährt sie, dass weder die Inspizientin noch sie ein Mikrophon benutzen darf, um den Bühnenarbeitern und Darstellern bei den Proben Anweisungen zu geben, dass alle Noten handgeschrieben sein müssen und nicht kopiert werden dürfen und dass Probenpläne allein handschriftlich oder mündlich überbracht werden müssen. Außerdem bestünde striktes Handy- und Computerverbot im Bühnenraum, es dürften keine Fotos oder Videos bei den Proben gemacht werden, auch ein dickes Programmheft mit Fotos und Artikeln dürfte nicht gedruckt werden, Pressearbeit fände nicht statt, es gäbe keinerlei Ankündigungen im Internet und nur gedruckte Plakate ohne Grafik, die man an Litfaßsäulen aufhängen muss. Dramaturgen wären weder bei den Proben noch bei Konzeptionsgesprächen zugelassen. Es gäbe noch nicht einmal Dramaturgen und Konzeptionsgespräche, sondern man würde Tag für Tag entscheiden, was man nun probt, je nachdem, wer gerade krank ist. Es wäre möglich, dass Orchestermusiker jederzeit durch Laien aus der örtlichen Feuerwehrkapelle ersetzt werden, da man nicht genügend Ersatzspieler bereithalten könne. Die vorhandene Drehbühne hätte keinen Strom, auch Video- und Toneinspielungen wären strikt verboten. Als letzte und vielleicht schlimmste Zumutung käme noch ein absolutes Verbot von elektrischen Kaffeekochern hinzu.

Spätestens jetzt würde unsere hoffnungsvolle Regisseurin das Handtuch schmeißen. Sie würde sich gegen diese vollkommen sinnlosen Beschränkungen wehren und aufbegehren. Selbst bei guter Bezahlung würde sie höchstwahrscheinlich ablehnen, unter solch „unerträglichen“ und „menschenunwürdigen“ Bedingungen zu arbeiten.

Wir müssen uns aber klar machen: exakt unter solchen Bedingungen entstanden die größten Opern der Musikgeschichte. In der Hochphase der Oper – als es quasi in jedem italienischen Dorf ein Opernhaus gab – herrschten genau die oben beschriebenen Bedingungen, und es fanden fast täglich Aufführungen vor großem Publikum statt, während Komponisten fröhlich und ohne Hemmung zahlreiche Meisterwerke schrieben, von „Orfeo“ bis „Aida“ oder dem „Ring der Nibelungen“. Weil es keine Flugzeuge gab, reisten die Opernstars von damals mit Pferdekutschen oder irgendwann mit langsamen Dampfloks an. Generalmusikdirektoren verblieben normalerweise ihr ganzes Leben am selben Haus, Reisen ins Ausland waren selten oder fanden nie statt, das örtliche Orchester unternahm keine Tourneen und von vielen Uraufführungen erfuhr man erst Monate später durch eine handverlesene Anzahl von Auslandskorrespondenten, und auch nur, wenn man die richtigen Subskriptionsmagazine abonnierte. Klavierauszüge waren populär wie heute Stephen King – Romane, weil sie für viele Menschen die einzige Möglichkeit waren, bestimmte Stücke kennenzulernen.

Ich erzähle all dies nicht aus einer Nostalgie für die gute alte Zeit a la „früher war alles besser“. Nein, dieses Beispiel soll zeigen, dass Kunst stattfindet, egal unter welchen Umständen. Die KollegInnen von früher jammerten nicht über die Umstände, weil sie es nicht anders kannten und schon die Gründung von bürgerlich finanzierten Opernhäusern und Orchestern als ziemlich moderne und erfreuliche Entwicklung wahrnahmen. Sie waren künstlerisch in keiner Weise beschränkt durch Umstände, die wir heute als inakzeptabel empfänden. Auch in der jüngeren Vergangenheit gab es immer wieder erzwungene Rückschritte in den Aufführungsumständen, z.B. durch Krieg oder Naturkatastrophen, und Kunst war auch dann möglich, bis sich die Umstände wieder verbesserten. Und danach natürlich auch.

Es gäbe noch viele weitere Beispiele:  Theateraufführungen bei Kerzenlicht unter fast gleichen Umständen wie anno dazumal (also ohne Strom, Licht usw.) im zerbombten Sarajevo der Neuzeit, Stravinskys „Geschichte vom Soldaten“ zu Kriegszeiten als wanderndes Kleinspektakel mit Mini-Aufwand konzipiert, damit man 1917 etwas spielen konnte, die Uraufführung vom „Quartett zum Ende der Zeit“ von Messiaen in einem Gefangenenlager auf einem verstimmten Klavier, Broadway-Shows im Schatten des Eindrucks der Attentate vom 11. September usw.

Kunst fand statt. Kunst kann immer stattfinden, selbst wenn sie sich zum Nachdenken zurückzieht, findet sie statt.

Wir müssen nicht an ihr zweifeln, nicht wegen den Umständen hadern, unter denen die Kunst stattfinden muss. Diese können wir uns nicht aussuchen, aber unsere Fantasie und unsere Imagination bleibt auch unter schwierigsten Umständen immer eines: absolut frei. Daraus schöpft die Kunst mehr als von Fördergeldern und günstigen Umständen, auch wenn diese natürlich wünschenswert sind. Verzweifeln an dem Verlust von Möglichkeiten ist zwar verständlich, bringt uns aber nicht weiter. Wenn wir die momentane Situation so pragmatisch wie möglich nehmen, müssen wir uns nicht ständig fragen, was jetzt alles momentan NICHT möglich ist. Sondern eher erkennen, was möglich ist, und das ist dann doch sehr viel. Wir verfügen selbst in der Coronakrise über mehr konkrete und direkt umsetzbare Ausdrucksmöglichkeiten, als sich unsere Vorfahren je hätten träumen lassen.

Ich plädiere daher dafür, schon vor Corona geplante Projekte eher nicht krampfhaft auf Corona-Zeiten anzupassen (wenn dies nur unter extremen Beeinträchtigungen möglich wäre), sondern lieber zu verschieben. Verschoben ist nicht aufgehoben, und diese Stücke werden ihre Zeit bekommen, genau wie manches, was in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs komponiert wurde, erst viele Jahre später aufgeführt werden konnte, dann aber zur großen Freude der Menschen.

Jetzt wäre – wie noch nie – die Zeit für komplett Neues. Wenn man die Corona-Umstände nicht als Einschränkung, sondern eher als Status Quo versteht, kann man sehr wohl Neues erfinden und umsetzen. Konzerte wie wir sie kennen, machen in abgespeckten Distanzversionen mit Kammerensemble oder als Streaming-Videos mit schlechtem Audio keinen Spaß, das ist klar. Das Repertoire passt dann meistens nicht zu den Umständen. Aber was wäre, wenn man diese neu denkt und sie als Ausgangspunkt für eine neue Schöpfung nimmt, bei der genau diese Umstände nicht als Hinderung wirken, sondern integraler Bestandteil des Werkes sind? Wenn zum Beispiel hygienische Distanzregeln wirklich komponiert sind – also zum Beispiel wie bei Nonos großartigem „Prometeo“ als Verteilung der Gruppen im Raum als integraler Bestandteil der Komposition – stören sie auch nicht, sondern erfreuen uns.

Auch eine Darbietung im Internet könnte spannender sein als ein „gefilmtes Notkonzert“, wenn man die Möglichkeiten des Mediums mitdenkt und darauf eingeht. Jetzt wäre der Zeitpunkt für Internetopern, die von unseren Opernhäusern speziell für diese Situation beauftragt werden könnten, schnelle und unaufwändige Stücke, die auf das Zeitgeschehen reagieren können und nicht verlieren, wenn man sie auf youtube – vielleicht in mehreren Folgen wie bei einer Serie oder sich zerfasernd mittels Hyperlinks – verfolgt. Genau wie man sich momentan zunehmend an Videokonferenzen – und Anrufe gewöhnt könnten hier ganz neue Ausdrucksformen entstehen, die Bestand haben. Und man müsste auch keine Angst haben, dass solche Lösungen – wenn sie denn überzeugend sind – nur momentan Sinn machen, denn schließlich spielen wir ja auch heute noch die Opern, die unter ganz anderen Aufführungsbedingungen entstanden als die, die heute herrschen.

Kunst findet einen Weg.

Wir müssen darauf vertrauen, dann wird unsere Kunst auch stark bleiben. Und diese Zeit braucht definitiv starke Kunst.

Moritz Eggert

 

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