Schlimmer als befürchtet: Sloterdijks Le Point Interview und weitere Erregte

Die FAZ und Moritz erwähnten das „Le Point“ Interview Peter Sloterdijks, das dieser mit der französischen Zeitschrift Mitte März 2020 führte. Daher machte mich neugierig, was der Philosoph dort sagte, da das Interview in den o.g. Quellen nur rudimentär paraphrasiert wird. Was ich vor in Le Point finde: es löst mein Entsetzen aus. Nun gab er auch der Zeit ein Interview, das sich mit dem Wissen um das März-Interview weniger versöhnlich gibt, als er sich dort zeigt. Man denkt auch: was interessiert mich, was ich gestern sagte.

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Die Headline
Gleich die Le-Point-Überschrift haut mich vom Stuhl: „Le système occidental va se révéler aussi autoritaire que celui de la Chine“. In etwa: „Das westliche System wird sich als ebenso autoritär erweisen wie das Chinas.“ Wie kommt er dazu? Zuvor äußerte er: „Die Pest des 14. Jahrhunderts hat den Aufstieg Europas nicht aufgehalten, und der tausendmal ungefährlichere Virus wird den Chinas nicht aufhalten.“ Le Point fragt ihn darauf, ob das die Rache des autoritären Regimes an den westlichen, laschen Demokratien sei. Darauf antwortet Sloterdijk mit der Headline dass der Westen, also die Demokratien des Westens, genauso autoritär wie China sein werde. Er behauptet, dass alle Personen Bewohner eingeschränkt würden, indem sie jetzt zuhause bleiben müssten, dafür aber Risikogruppen vernachlässigt würden.

In der Zeit aus der ersten Aprilwoche dimmt er es auf: „Ich bin nicht sicher, ob nicht auch er (laut Fragenden die duch Apps überwachten Chinesen) exportfähig ist. Wir werden vielleicht solche Produkte bald einführen. Sozialkybernetik ist ein Trendartikel.“ Wir wissen, dass unser Gesundheitsminister ein Handy-Tracking für Erkankte einführen wollte, das aber vorerst im Bundestag scheiterte. Und es zeigt auch die Verkürzung der Perspektive: wenn, nimmt sich die deutsche Exekutive nicht das autoritätr China, sondern die Demokratie Südkorea als Beispiel. Südkorea zwingt keinem die App auf, sondern bittet Infizierte, diese freiwillig zu nutzen. D.h., man kann das als Eingriffe in das Grundrecht auf Freizügigkeit sehen. Dieser Eingriff passiert aber im Konsens von Staat und Krankem, nicht einseitig oktryiert.

1:1 für die Realität
Mag Sloterdijk jetzt von der Realität im italienischen Bergamo und in Spanien wie Frankreich im April von der Existenz des neuartigen Corona-Virus überzeugt sein, findet er laut Zeit-Interview die deutschen Massnahmen „plausibel, streng, doch unfanatisch“, so klang das Mitte März, zweit Wochen vor dem deutschsprachigen Gespräch, so: Die Schließungen der Schulen findet er übertrieben, da die Kinder durch den Virus nur mindergefährdete seien. „Jetzt ist jeder, absolut jeder eingeladen, sich bedroht zu fühlen.“ Die Gesellschaft befinde sich in einer „Hyperallergologie“, das „Versprechen einer Lebenserwartung von 80 Jahren und mehr, das sie unbedingt einhalten müssen“, sei Richtschnur, weshalb der Staat zu drastischen Verfügungen greife und damit über das Ziel hinausschieße, wobei man ihm zugute halten muss, dass er damit v.a. Frankreich meinte.

Der Hammer kommt allerdings jetzt. Denn Peter Sloterdijk scheint nicht ganz der Verschwörungstheorie abhold zu sein, dass der Virus doch eine Bio-Waffe und keine tragisch-natürliche Übertragung vom Tier auf den Menschen wie im Falle von SARS und MERS ist: „Der Vorteil eines Virus – vorausgesetzt, es ist das Ergebnis einer spontanen Mutation und nicht mit seiner perfekten Rundheit eines Fußballs eine Schaffung von Laboratorien für biologische Kriegsführung – besteht darin, dass es dem Virus zugeschrieben werden kann Dimension, die wir „Natur“ nennen.“ Er rettet sich zwar sofort zu seiner „Natur“. Allerdings könnte man hier nun mit dem Lesen aufhören, da alle folgenden Äußerungen nur eine Projektion einer für ihn eigentlich sehr unsicheren Ansicht ist, wo er Verschwörungstheorien nicht ausschliesst.

In der Zeit freut er sich zwar über die Realität des Solidarischen in der deutschen Gesellschaft: „Normalität erscheint momentan fast utopisch, und die Frühlingssonne wirkt seltsam ironisch. Doch lässt sich auch eine große Solidaritätsstimmung beobachten, spontane Nachbarschaftshilfe beispielsweise, das ist schon beeindruckend.“ Aber wie kann es sein, dass der Virus wirklich z.B. eine US-amerikanische Biowaffe gegen China sei, wo diese so unkontrollierbar ist, dass die Pandemie sogar auf die USA übergreifen könnte, wie es diese nun am härtesten von allen betroffenen G7-Staaten trifft? Mein Gedankenspiel zeigt: Das Virus ist nicht anderes als beinharte real existierende, existentiell gefährliche mikrobiotische Natur.

Was kümmert mich das gestern Gesagte
Wie leitete ich ein: man könnte nun sagen, was interessiert mich Anfang April, was ich vor zwei Wochen sagte. Dem Normalbürger mag es vielleicht so widerfahren, da sich die Situation sukzessiv mit den Ausgangsbeschränkungen verschärfte, so dass man gar nicht mehr genau weiß, wann die vorige Allgemeinverfügung in Kraft trat, mag das nicht einmal eine Woche her gewesen sein. Der Philosoph Sloterdijk sollte sich da schon treuer bleiben. Zollt er der jetzigen Realität, so machte er Mitte März die damalige Realität, die keine andere als die jetzige war, da das Virus auch da schon und davor präsent war und es genauso nun ist, lächerlich. Und damit kann man ihn weder Mitte März noch zwei Wochen später Anfang April ernst nehmen.

Immerhin reicht es in der Zeit zur Selbsterkenntnis, nachdem er zuvor wieder im übertragenem Sinne den Medien Hyperallergologie unterstellt: „Wir zählen Leichen, für Übertreibung ist kein Platz mehr. Die Medien würden jetzt lieber die Probleme verkleinern, statt zu dramatisieren. Die Zahlen steigen, die Bilder halten sich zurück. Sehr ungewohnt.“ Damit hat seine Philosophie vor der nackten Realität vorerst kapituliert. Aus der autoritären Aneignung des Westens im Le Point windet er sich, sich selbst verzeihend mit, darauf angesprochen: „Macron hat den Kriegszustand be- schworen. Das war eine rhetorische Figur, sie floss aber unmittelbar in politisches Handeln ein. Frankreich hat extreme Hausarrestregeln.“ Dass er rhetorisch hier wieder daneben liegt, sei noch erwähnt: auch die strengeren französischen Ausgangsbeschränkungen, die eben auch Ausnahmen, wenn auch engere als in Deutschland kennen, sind eben Ausgangsbeschränkungen und kein Hausarrest, unter dem nur juristisch Verurteilte stehen können.

Er versucht in beiden Interviews mit einer Abwendung von Camus‘ „Die Pest“ zu trösten. Aber er beschreibt nur, führt nicht zu tieferen Erkenntnissen. Obwohl, im Le Point kreiert er die utopische Wissenschaft einer Labyrinthologie: jetzt stünde man mit all den Verordnungen und Reaktionsmustern vor einer geschlossenen Tür. Allerdings schlägt er damit die Tür eines gerade jetzt notwendigen Diskurses der Vernunft zu. Jetzt sieht er die Sinnhaftigkeit von Ausgangsbeschränkungen, um das Leben von Erkankten zu retten und Zeit zu gewinnen. Vor zwei, drei Wochen argumentiert er so schwarz-weiß, wie andere Intellektuelle es tun und puren Autoritarismus vermuten.

Andere Erregte: Anselm Lenz
So auch das Kollektiv z.B. um Anselm Lenz, der Wolfgang Wodarg Eva Hermann nicht scheute vor Rubicon und KenFM nicht zurückschreckt. Erstaunlichweise sprang auch das 3Sat-Kulturmagazin Kulturzeit vom 6.4.20 (ab Minute 1:40) auf den Lenz-Zug auf mangels anderer Intellektuellen-Proteste im öffentlichen Raum. Lenz behauptet, seine Demonstrationsaktion mit Verteilen des Grundgesetzes und Zweierpaaren vor der Berliner Volksbühne angekündigt zu haben. Dass er dabei die Allgemeinverfügung übersah, die unter engen Voraussetzungen sogar Versammlungen unter freien Himmel, also Demonstrationen zulassen würde, wenn man das mit den Kreisverwaltungsbehörden unter Einbezug des Gesundheitsamtes bespricht. In seiner Fundamentalopposition hat er das nicht getan. Oder aus Unwissenheit? Wie andere in Kreuzberg für die Aufnahme von Geflüchteten ohne spezielle Genehmigung demonstrierten, so taten es auch Leute vor über einer Woche in Karlsruhe, woran sie dann die Polizei dort hinderte. Sie wandten sich sofort an das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Doch sollte jeder halbwegs intellektuell Begabte doch wissen: erst der Weg durch die Instanzen, dann vor‘s BVG.

Da erregen sich nun Einzelne über die derzeitigen Massnahmen, scheinen sich aber in Normalzeiten noch nie mit dem Demonstrationsrecht auseinandergesetzt zu haben. Sie springen auf den selben Zug auf, wie es Sloterdijk im Le Point tat und sehen sofort den Untergang des Abendlandes, statt die Notwendigkeit der kollektiven gesundheitlichen Solidarität, die sich nun angesichts momentan mit sinkenden Infektionsraten als das derzeit Beste erweist. Sehr wohl kann man demonstrieren: zwei Künstler konnten das auf dem Alexanderplatz, ein Kollektiv in NRW wusste den Klageweg im Eilverfahren einzuhalten und konnten gegen den Einsatz von Atomkraft auf die Strasse, wenn auch unter infektionsgesetzlichen Auflagen.

Unbehagen und falsch Verstandenes
Ich möchte nicht mein Unbehagen unerwähnt lassen, dass mich insgesamt eine größere Einheitlichkeit der Allegemeinverfügungen in Details wie dem „Sitzen auf der Bank“ zwischen Berlin und München befällt, sollten die Massnahmen alle noch über den 20. April hinaus dauern: da könnte man doch einiges angleichen. Mein Unbehagen ist aber viel größer, wie jetzt schon wieder jeder wie kurz vor den Beschränkungen „Mein Recht“ schreit, statt „Meine Vernunft“ zu gebrauchen. Es ist ja der berühmte aristotelische Mittelweg, nicht die platonische Intellektuellenrepublik, die der Demokratie und ihren Kompromissen am Nächsten ist. Man muss nicht Ostasien und deren Erfolg gegen die Pandemie mit China als Vorbild für uns hernehmen, man findet auch darin erfolgreiche Demokratien wie Südkorea, die in der elektronischen infektionsgesetzlichen Überwachung auf Freiwilligkeit setzen. Man muss nicht vom Verlust seiner Rechte reden, man muss wissen, wie man sie sich holt, wie es die philosophisch-literarischen Spontanerreger weder wissen noch darlegen können, sondern es in den demokratischen Spielregeln viel Erfahrenere kurzum auch in diesen Zeiten vormachen.

Mutmasslich falsche Vorsicht 2020 wegen Wodarg 2012?
Man muss nicht die Gefährlichkeit der Pandemie nivellieren, um ihre Realität zu verschleiern. So tut es Wolfgang Wodarg, der überall nur „Big Pharma“ befürchtet: da er 2009 zu den schärfsten Gegnern der Massnahmen gegen die Schweinegrippe gehörte und tatsächlich dann viele auf Vorrat beschaffte Mittel um 2012 vernichtet werden mussten, kann sein Agieren damals und dessen damalige Folgen vielleicht auch mitunter einer der Gründe sein, warum jetzt z.B. Schutzbekleidung nur mäßig vorrätig staatlicherseits ist, weil niemand mehr den politischen Supergau nach glimpflicher verlaufenden verantworten will, resultierend aus den Massnahmen der Schweinegrippe: damit würde die jetzige Situation, die er wieder verharmlost, zu Teilen auch auf seine Füsse, vielleicht sogar größer als auf die der Politik fallen.

Land in Sicht
Tja, und wie kommen wir da raus? Indem wir uns jetzt noch ein paar Wochen, vielleicht auch bis Anfang Mai, zehn Tage hin oder her, das ist dann auch nicht mehr wichtig, wenn wir alle solidarisch sind, an uns halten. Wir befinden uns gerade in der Fastenzeit, vom katholischen Bayern her betrachtet. Lasst uns gemeinsam weiterfasten! Verhungern muss dabei keiner. Selbst Wohnungslose können immer noch draußen sich frei bewegen, wenn sie die Abstandsgebote einhalten. Wer schwerst depressiv ist, erhält auch jetzt noch ambulante wie klinische Hilfe, wie mir heute erst eine klinische Psychaterin bestätigen konnte. Wir leben eingeschränkt, aber nicht auf ewig. Der Ablauf der Massnahmen wird dann erfolgen, wenn das Gesundheitssystem nicht den Supergau erleben wird. Sprich: Land ist irgendwann im Laufe der nächsten Zeit wieder in Sicht. Nicht exakt voraussagbar, aber erahnbar.

Screenshot der Headline des Le Point Interviews mit Peter Sloterdijk vom 18.3.20

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5 Antworten

  1. Ulrich Ludat sagt:

    Haben Sie den „Le Point“-Artikel wirklich gelesen, der nur Abonnenten zugänglich ist?

  2. SH sagt:

    Guten Tag,
    ihre Deutungen bezüglich Peter Sloterdijk teile ich in keinster Weise.

  3. Paul sagt:

    Ja, auch ich habe Ihren Kommentar deshalb gefunden, weil ich die News zu Sloterdijk erhalte.
    Sind Sie ehrlich: das haben Sie einkalkuliert, aber mehr auch nicht. Da müssen sie schon auf Details hinweisen wie den Unterschied zwischen Hausarrest und Ausgangsbeschränkung, falls Sie französisch können. Mit der schwankenden Einschätzung
    steht er doch nicht alleine. Und wenn ein Präsident das „Krieg“ nennt, dann kann man nur
    vermuten das hier jemand eine Situation größer macht als notwendig um seinen „Kampf“ hervorzuheben
    oder das Volk noch gefügiger zu machen als sich doch die meisten im Angesicht der Gefahr selber schon machen.
    Der Vergleich mit der Pest ist doch angebracht: wir sitzen auf Mengen von Klopapier, Schränken voller Vorräte
    und schauen dem Wüten des Virus am Fernsehen oder im Internet zu. Welch eine Not im Komfort.
    Am Ende scheint dann Ihre „soziale“ Einschätzung durch: Obdachlose könnten sich immerhin frei bewegen.
    Na na na!

  4. Ich denke, diese Wendehalsmentalität hatten nicht nur weltfremde Philosophen: In Stuttgart wurde am 9. März 2020 noch ein grosses Fussballspiel im Neckarstadion offiziell von der Stadt und dem Gesundheitsamt bewilligt. Rund 55.000 Fans strömten ins Stadion, zusammengepfercht auf engstem Raum. Grölend, keuchend, spuckend, singend. An – und Rückfahrt hauptsächlich mit der Bahn und eng beisammen in Bussen. Später im April hiess es vom VFB nur lapidar, damals sei die Welt in Deutschland eben noch eine „ganz andere“ gewesen. Gesundheitsminister Lucha Manne (Grüne) betonte, die Gefahr einer Ansteckung sei bei Einhaltung der Hygieneregeln im Stadion gering. Zudem seien Freiluftveranstaltungen eher unbedenklich. Und dies alles, obwohl man vor dem 9. 3. schon die Empfehlungen Spahns hatte, Großveranstaltungen abzusagen. Zudem wusste man von den katastrophalen Folgen des Fussballspiels Bergamo – Valencia im Februar. Nach dem Spiel in Stuttgart (welches man auf youtube sehen kann) gingen die Fallzahlen in Württemberg steil nach oben. Von der Politik heiss es nur, man würde die Lage wohl heute anderes beurteilen als damals. Aber keine Entschuldigung für dieses idiotische und unverantwortliche Handeln! Es ging um viel Geld – und da wird in Deutschland Hirn ausgeschaltet.