Blog of Bad Virus: Philosophieren in der Krise

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Philosophieren in der Krise

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Wir hadern alle mit den Corona-Maßnahmen. Immer wieder erhebt sich der Tenor einer großen „Ungerechtigkeit“, es machen sich Ängste vor einer neuen totalitären Kontrolle der Menschheit breit, aus Urängsten werden hanebüchene Verschwörungstheorien. Besonders unter Musikern wird an allen Maßnahmen der Regierung gemäkelt – immer wieder werden anklagend Listen von ausgefallenen Konzerten gepostet (meistens die eigenen, denn man ist sich selbst am nächsten) oder eine „schlimme Beschneidung der Grundrechte“ angeprangert, andere wiederum regen sich auf, wenn trotz Corona noch in großen Gruppen geprobt wird, wie zum Beispiel bis vor kurzem noch an der Bayerischen Staatsoper. Gerade Intellektuelle tun sich mit der Rolle des stillen Beobachters sehr schwer und stolpern polternd und unbedacht in die üblichen Idiotien, so z.B. in die der gefährlichen Verharmlosung „nicht schlimmer als Grippe“ (Precht, Sloterdijk). Andere prangern die „Politik der Angst“ (Juli Zeh) an, was letztlich nichts anderes besagt als das inzwischen auch schon hohle Schlagwort „Die Panik ist schlimmer als das Virus“. Nein, das Virus ist erst einmal schlimm, und weil es schlimm ist, kann auch Panik entstehen.

Zweifellos herrscht eine große Verunsicherung darüber, dass man der ganzen Krise nicht mit den erprobten Waffen der Dialektik und des leidenschaftlichen Diskurses beikommen kann, mit dem man sich normalerweise als Kulturschaffende/r beweisen konnte. Wogegen ein Jürgen Klopp als Fußballtrainer (zu Recht) bewundert wird, wenn er eben bewusst keinen halbseidenen Quatsch zum Thema vom Stapel lassen will, fühlen sich Intellektuelle jetzt hilflos, denn man erwartet ja, dass sie zu allem etwas zu sagen haben. Aber sie verstehen die fortgeschrittenen Infektionsstatistiken und die komplexen medizinischen Analysen eben auch nicht viel besser als die meisten anderen Bürger.

Vielleicht hilft es daher, eines der spätestens seit Platon bewährten Mittel der Philosophie zu verwenden, um eine Haltung zu den momentanen Vorgängen zu erlangen, die weder dumm noch hysterisch ist: das Gleichnis.

Man stelle sich folgendes vor: Man fährt auf einer Straße, von einer Mauer umgrenzt, mit zwei Spuren in zwei Richtungen. Plötzlich kommt einem auf der eigenen Spur ein Fahrzeug entgegen, ein Geisterfahrer. Ich habe nun folgendes Problem: Weiche ich dem entgegenkommenden Fahrzeug aus, riskiere ich, mit einem Fahrzeug der anderen Fahrbahn zusammenzustoßen, das in die gleiche Richtung fährt (tatsächlich sehe ich ein solches Fahrzeug auf der Gegenspur). Weiche ich nicht aus, stoße ich aber sicher mit dem Geisterfahrer zusammen, und überlebe den Unfall nicht. Es gibt noch eine dritte Möglichkeit: Ich könnte versuchen, exakt in der Mitte beider Fahrzeuge zu fahren, da sich dort eine winzige Lücke auftut. Es wird sehr schwer sein, diese Lücke zu finden, und es kann sein, dass es mir links und rechts Schrammen am Wagen erzeugt, aber die Lücke gibt mir die höchste Chance, diese Situation zu überleben.

Es sollte klar sein, wie diese Analogie mit der jetzigen Situation korrespondiert. Der Geisterfahrer symbolisiert den Corona-Virus oder auch den „Black Swan“, also ein nicht vorhersehbares, plötzliches und gefährliches Ereignis. Da der Geisterfahrer mit einer bestimmten Geschwindigkeit auf mich zufährt (die exponentielle Verbreitung des Virus) bin ich unter Zeitdruck, ich kann nicht ewig über die Situation nachdenken und philosophieren, sondern muss in einem gewissen Zeitrahmen reagieren.

Der Fahrer auf der Gegenspur (der etwas weiter entfernt ist) symbolisiert die möglichen Konsequenzen meines Ausweichens – der Crash mit dem anderen Auto repräsentiert die Kosten meines Ausweichens vor dem Corona-Geisterfahrer: ein kompletter wirtschaftlicher Einbruch und härteste soziale Konsequenzen durch dauerhaften Epidemie-Shutdown.

Das Entscheidende an dieser Analogie ist nun der Mittelweg, der idealerweise exakt zwischen beiden entgegenkommenden Autos hindurchführt. Im Vergleich zum jeweiligen Totalschaden auf beiden Spuren stellt er die beste Alternative dar, denn der Mittelweg ist der Versuch, die schlimmsten Konsequenzen der Epidemie wie auch die schlimmsten Konsequenzen des ökonomischen Zusammenbruchs zu vermeiden. Wenn er gelingt, kommt man mit leichtem Blechschaden davon.

Das Problem dieses Mittelwegs ist nun, dass er relativ wenige Alternativen bietet. Fährt man ein paar Zentimeter weit rechts (weniger Maßnahmen gegen das Virus um wirtschaftliche Schäden zu vermeiden) gibt es mehr Schaden, ebenso aber auch, wenn man einige Zentimeter weiter nach links fährt (besonders starke Maßnahmen gegen das Virus ohne Rücksicht auf Verluste).

Die entscheidenden Erkenntnisse aus diesem Gleichnis sind daher:

  • Man hat nur wenig Zeit, zu reagieren (der Geisterfahrer setzt einen unter Zeitdruck, den er kommt unerbittlich auf einen zu, ob man es will oder nicht)
  • Der Spielraum möglicher Handlungen ist sehr gering (wenige Zentimeter), wenn man einen Totalschaden vermeiden will

Wie nah dieses Gleichnis an der Wirklichkeit ist, ist leicht festzustellen. Während der ursprünglichen Ausbreitung von Covid-19 wurden unterschiedlichste Ansätze diskutiert, wie man der Seuche begegnen könnte. Diese deckten das gesamte Spektrum von „Ignorieren“ bis „entschiedene und möglichst frühe Reaktion“ ab. Im Laufe der letzten Wochen ist das Spektrum entschieden enger geworden. Am Besten war und ist dies bei den USA zu beobachten: hatte Trump das Virus erst noch als „demokratische Verschwörung“ kleingeredet und mehr oder weniger ignoriert, ist das Land inzwischen bei fast den gleichen Maßnahmen wie in Europa oder Asien angekommen. Auch Großbritannien fuhr erst einen anderen Kurs und ist nun umgeschwenkt, bei Schweden ist es nur noch eine Frage der Zeit.

Es zeigt sich also, dass es im Umgang mit dem Virus tatsächlich eine Art Flaschenhals (oder Lücke zwischen zwei Autos) gibt – man mag sich diesem Flaschenhals aus den unterschiedlichsten Richtungen nähern, aber am Ende müssen alle durch. Denn letztlich wollen alle diese Maßnahmen dasselbe: Millionen von Toten und den Crash des Gesundheitssystems mit einhergehender gesellschaftlicher Destabilisierung zu vermeiden und zusätzlich Zeit gewinnen, um Gegenstrategien (z.B. Impfstoffe) zu entwickeln. Es gibt – und das liegt in der Natur einer Katastrophe – äußerst wenig Spielraum. Wenn ein Vulkan ausbricht, muss man sich möglichst schnell von ihm wegbewegen, damit einen die Gase oder die Lava nicht erledigen, es gibt kaum Handlungsmöglichkeiten, erst einmal geht es ums nackte Überleben. Man kann sich nicht  hinsetzen und herumexperimentieren, man muss sofort handeln, um sich zu retten. So ähnlich ist es mit dieser Pandemie. Und es ist inzwischen auch eindeutig zu sehen, dass die Strategie des „social distancing“ -also der Mittelweg zwischen den zwei Autos – überall dort, wo sie eingeschlagen wurde, erfolgreich ist, weil sie Zeitgewinn und damit wieder mehr Spielraum bringt.

Und so entlarvt sich vieles, was im Moment an intellektuellen Beiträgen zum Thema „Corona“ geliefert wird, als ein Scheingefecht. Da wird alles Mögliche „hinterfragt“, man diskutiert endlos Details, malt apokalyptische Schreckensszenarien aus, aber all dies ist in diesem speziellen Moment vollkommen sinnlos und „versendet“ sich in den geduldigen Tiefen des Internets als hysterisches Blabla, genauso wie das dumme Geschnatter von Hobbyexperten in den sozialen Medien. Dabei scheint vielen der eifrigsten Dampfplauderer das Schicksal von Menschen vollkommen egal zu sein, sie ignorieren, dass Erkenntnisse dem Menschen dienen, nicht schaden sollen.

Oder anders gesagt: Würde Sokrates noch leben, würde er als den Menschen zugewandter Philosoph wahrscheinlich versuchen, uns innere Stärke und tiefgründige Einsichten in der notwendigen momentanen Isolation zu vermitteln, ein Sloterdijk oder Precht dagegen rät uns, das Virus zu ignorieren und gefährdet damit einfach nur Menschenleben ohne Erkenntnisgewinn. Manchen Rednern ist es sichtlich wichtiger, dass sie nicht „Mainstream“ sind und als individuelle Stimme um Aufmerksamkeit heischen können, als dass sie tatsächlich Nützliches oder Hilfreiches zum Besten geben. Hier zeigt sich unsere Kultur des medialen Hypes von ihrer dunkelsten Seite: Eitelkeit ist wichtiger als Vernunft.

Dabei gibt es eine konstruktive Haltung zur Katastrophe, die man auch als Intellektueller einnehmen kann. Denn die Erkenntnisse, die dieser Schockmoment der Corona-Krise uns beschert, werden eine große Rolle spielen, sobald man den beiden entgegenkommenden Autos so gut es ging ausgewichen ist und den Flaschenhals passiert hat. Denn dann wird es viele Fragen geben, auf die Antworten gebraucht werden. Kunst und Kultur werden eine wichtige Rolle spielen, das Trauma des Erlebnisses zu überwinden. Durch den Flaschenhals mussten alle, Diktaturen wie Demokratien, aber genauso kommen sie auch erst einmal wieder aus der Krise heraus, außer es gab einen Zusammenstoß, der alles zum Einsturz brachte. Es ist möglich, dass einige Länder diesen Einsturz erleben werden, und wir können nur hoffen, dass es uns nicht trifft.

Wenn wir uns nun hysterisch – und viel zu früh – einreden, dass allein das Passieren des Flaschenhalses uns auch zu einer Diktatur macht, dann reden wir die Diktatur tatsächlich erst herbei. Denn unsere kritischen Kräfte werden NACH dem Flaschenhals gebraucht. Genau dann müssen wir aufmerksam sein und das in unserer Gesellschaft richten und wiederaufbauen, was in Schieflage geraten ist, z.B. die entstandenen ökonomischen Ungerechtigkeiten. Es müssen auch Konsequenzen gezogen werden, die uns für zukünftige Krisen wappnen. Jetzt – in diesem Moment, in dem wir den Flaschenhals passieren – sollten unsere Sinne also sehr geschärft sein. Wir müssen weniger reden als sehr genau empfinden, was in diesem Moment passiert. Wir müssen es uns einprägen, damit wir nachher davon erzählen können.

Engagiertes Denken wird also sehr gefragt sein, sobald der Flaschenhals passiert ist, davor aber gestikuliert man einfach nur aktionistisch ins Leere. Nicht umsonst bemerkte der französische Philosoph Alain Finkielkraut vor kurzem in einem Interview mit der FAZ: „Man stelle sich eine Schrecksekunde lang vor, die allwissenden Intellektuellen würden an die Stelle der Regierenden treten: Dann hätten wir zusätzlich zum Albtraum der Epidemie das Grauen schlechthin.“.

Oder man stelle sich einfach vor, dass – während man versucht den beiden Autos auf der Autobahn auszuweichen –  das eigene Auto voller kreischender Menschen ist, die ständig auf einen einreden, jeweils mit unterschiedlichsten Ansichten, und egal wohin man lenkt, zetern und klagen sie, dass es die falsche Richtung sei. Ein Zusammenstoß wäre unausweichlich, und es wäre auch kein Trost, dass man vorher „darüber geredet hat“.

Dabei gibt es nur die eine Richtung: Zähne zusammenbeißen und möglichst unbeschadet zwischen den zwei Autos hindurch. Beethoven würde sagen: „Es MUSS sein“.

 

Moritz Eggert

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3 Antworten

  1. Jan Erik sagt:

    Schöne Analogie, Moritz.
    Und doch meine ich, es gibt durchaus mehr als nur zwei Möglichkeiten.
    Um bei der von dir gewählten Situation zu bleiben, zum Beispiel: das zweite Fahrzeug erkennt die Gefahr und bremst, so dass der Blechschaden vermieden werden kann.
    Was ich meine ist, wir können die Möglichkeiten nur aus unserer Erfahrung beurteilen, befinden uns aber in einer bisher nie dagewesenen Lage. Ich könnte unbeschadet durch den Geisterfahrer hindurchfahren oder über ihn hinwegspringen, ein Quantensprung.
    Die Stimmen der alten Schulen werden deutlich leiser, vielleicht weil keiner sie mehr hören will. Und wir werden nicht mehr im gleichen Auto sitzen, „danach“, weder individuell noch kollektiv.

  2. Ein Minuspunkt für die Bezeichnung von Precht als Intellektuellen.

  3. Benjamin sagt:

    Lieber Moritz,

    zunächst einmal beruhigt es mich, zu lesen, dass du inzwischen auch mit den als Reaktion auf die COVID-19-Ausbreitung verfügten Maßnahmen haderst. Das Gleichnis, mit dem du hier argumentierst, deckt sich sehr gut mit einer recht umfangreichen Einlassung aus verfassungsrechtlicher Perspektive (Oliver Lepsius):

    https://verfassungsblog.de/vom-niedergang-grundrechtlicher-denkkategorien-in-der-corona-pandemie/

    Ich empfehle die Lektüre, wir haben ja grad alle Zeit zum Lesen. Für Eilige: Kernpunkt der Argumentation ist, soweit ich das als Nichtjurist verstehen konnte, der Vorwurf, dass die „Suche nach milderen Mitteln“ vernachlässigt wurde und wird. Und Lepsius weist sehr deutlich darauf hin, dass die Darstellung, die Maßnahmen würden „dem Schutz von Leben“ dienen, gefährlich verkürzt ist.

    Auch sonst finde ich die verfassungsrechtliche Debatte sehr viel erhellender als die Kleinkriege zwischen zwei Virologen und die Interpretation irgendwelcher Statistiken, von denen wir alle – auch diejenigen, die weitreichende Entscheidungen darauf stützen – wissen, dass sie keine wirkliche Aussagekraft haben, weil die Zahlen zu viele Unbekannte enthalten. Es sind nicht nur Spinner und Populisten, die die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen anzweifeln. Wenn ich sehe, dass eine Regierung zentrale Grundrechte auf der Basis eines einfachen Bundesgesetzes auf unbestimmte Zeit aushebeln kann und nicht einmal das Bundesverfassungsgericht ihr in den Arm fallen würde, macht mir das, ganz ehrlich, mehr Angst, als ich vor einem Virus je haben könnte. Und ich darf für mich in Anspruch nehmen, dass ich kein Verschwörungstheoretiker bin.

    Eine Demokratie braucht Öffentlichkeit, d.h. „[…] eine Gesellschaft, deren Mitglieder sich als freie Bürger begegnen“ (Uwe Volkmann). „Begegnen“ verstehe ich hier ausdrücklich auch als physisches Begegnen. Und auch wir mit unserer randständigen Kunst sind Teil dieser Öffentlichkeit. Dass die Öffentlichkeit auch uns braucht, mag man hin und wieder im Einzelfall bezweifeln, aber in der Gesamtheit des kulturellen Lebens doch sicher nicht. Wir sind ’systemrelevant‘, weil eine Gemeinschaft freier Menschen sich im innersten Kern auf mehr stützt als darauf, dass die Versorgung mit Nudeln und Klopapier gesichert bleibt.

    Schöne Grüße,

    B.