Schnittke, Bruckner, mphil, Gergiev – endlich Ankunft und Aufbruch im bunten München

Screenshot des Titels der ersten Sinfonie Alfred Schnittkes aus einem Youtube-Film

Am Mittwoch dieser Woche eröffneten die Münchner Philharmoniker mit ihrem Chef Valery Gergiev nach einer Vorabtournee in der Heimatstadt München die Saison 2019/20. Bemerkenswert: der Aufbruch erfolgte nicht mit Konventionellem, sondern Wagnis und Experiment. Alfred Schnittkes 1. Sinfonie, 1974 in Gorki uraufgeführt, als Saisonopener sprengt Alles weg, was sich ein Publikum normalerweise als Konzertanfang vorstellt: höflich den Auftretenden applaudieren, etwas begeisterter für den Dirigenten. Hier nicht möglich!

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Schnittke lässt zu Röhrenglockenklängen den ersten Trompeter zuerst aufs Podium, zu dessen Fanfare alle Spielenden je einzeln im Auftritt blasend, streichend oder klopfend diesem peu a peu folgend. Was für ein viriler, polystilistischer Lärm dabei entsteht, ganz anders als das gewöhnliche Einstimm- und Einspielwirrwarr. Verzweifelt suchte das Publikum nach Möglichkeiten, den Auftritt mit Applaus zu begleiten, darin ein letztes Aufbäumen, als Gergiev die Bühne betrat, wobei das Klatschen keine Chance gegen die individuelle Polychromie der Musiker hatte.

Erinnert das eher an Sonne, Süden, Italien – an die Postmoderne eines Luciano Berios, vollzog Gergiev in seinem Auftritt eine Geste, die den Wolgadeutschen Schnittke wieder mitten nach Russland zurückwarf: der Dirigent trug einem orthodoxen Geistlichen gleich die grün gebundene Riesenpartitur wie eine Ikone hochhaltend auf die Bühne. Nachdem er sein Notenpult erreicht hatte, legte er sie ab und beendete mit einem Wink die bunte Klang-Prozession des Orchesters. Das versuchte nochmals sein Spiel fortzusetzen, wurde wieder gestoppt, Cembalo und Harfen zirpten verlegen weiter. Dann haute der Dirigent ein Beethoven-C aus dem Klangkörper heraus.

Schnittke fegt die Freude auf Bekanntes sofort beiseite und tischt atonale Gesten tiefen Ernstes auf. Der Dirigent versuchte es mit einem Strauss-Tutti-Moll, doch blieben danach nur barocke Erinnerungsfetzen übrig, wenn wieder atonale Fanfaren und Sprünge und Flächen mobileartig kurvten oder reine Leere gähnte, Cluster in Ligeti-Mikroplastik und Ligeti-Mikroployphonie in einen Ton mündeten. Hörte man mal das Cembalo durch, wenn nicht gerade Kontrabass und Klavier rumjazzten oder der Solo-Posaunist improvisierte, dem just das ganze Orchester applaudierte, ja, hörte man wie gesagt das Cembalo, schwankte die Wucht der auf einen einstürzenden Stile (Allusionen wie Zitate) zwischen Dramatik und Ablauf eines Vollwäscheprogrammes.

Screenshot des Titels der ersten Sinfonie Alfred Schnittkes aus einem Youtube-Film

Das befördert natürlich den beissenden Sarkasmus Schnittkes, der hier viel politisierter und widerständiger wirkt, als der rheinische Marienschmerz von Bernd Alois Zimmermann. Das kreist dann auch mal recht nervig vor sich hin, begeistert aber nach einer halben Minute Stillstand gerade wieder hierin im Gegensatz zum Disney-Zeitstrom mancher westlicher Post-Post-Postmoderner.

Nach einer Hotelbar-Jazz-Episode wird es auch Schnittke mit Schnittke zu viel und er schmeisst die Bläser aus dem Saal. Übrig blieben Saiten- und Perkussionsinstrumente. Und die Streicher, die einen leisen, riesenhaften und langsam in sich kreisenden Kontrapunktteppich auffalteten, in dem jedes Instrument doch Solist ist. Dagegen sprenselten Cembalo, Gitarre und Co. Konventionssentimentalitäten ein, die angesichts der edlen Streicherwand aber genauso überflüssig und abgenudelt wirkten, wie sie es im normalen Repertoirebetrieb auch sind. Die Streicherwand wurde immer mehr zum Teilchenstrom, der sich zur Mitte weitete, dann teilte und sich zugleich wie ein Meta-Bartok ins hohe wie tiefe Extrem windete und peu a peu die neun anderen Töne auswringte bis die drei restlichen sich als das strahlendste A-Dur aller polystilistischen Schwarzen Löcher aufleuchteten.

Die Bläser durften wieder rein und setzten dem in ihrer vier- bis sechsfachen Registerbesetzung unmittelbar ein Alpen-Sinfonie C-Moll entgegen. Doch die Streicher umfassten die Bläser in ihrer Zartheit und überführten das Geschehen in einen Zustand über, als hätten zwei Schnecken mit zwei Mahlersinfonien als Wurfgeschosse ihr weinendes und juchzendes schmerzverzücktes Liebesspiel. Danach blieb nur Verdi-Kondukt, Wienerwald, Pop und Jazz, alles säuberlich zu einem zerbrechlichen Bauklotzturm aufgestapelt mit Ab- und Aufbrüchen, Ein- und Ausreissern, als träfen alle Schostakowitsch-Sinfonien auf alle Free-Jazz-Platten, beendet von der größten Tarkowski-Solaris-Filmmusik-Orgel, an der Ameisen rauf- und runterrennen, bis C-Dur sie vertilgt und sich Haydns Abschiedssinfonie aus der Konserve verabschiedet. Was blieb? Das bunte Treiben des Anfangs, als wäre der russische Chefdirigent endlich in der bunten Stadt München angekommen.

Danach ging es zerrissen weiter: Bruckners Sechste, die sich so gern im philharmonischen Gewohnheitsohr rundet, war das Sinnbild der inneren Zerrissenheit ihres Komponisten. Doch gemach. Es geht wie immer um die Perspektive: schaut am auf Bruckners sechste Sinfonie von der Siebten bis Neunten herab und von der Fünften ein wenig herauf, fällt sie aus dem Rahmen dieser Werke heraus. Kein pfundiges Finale, keine schraubenden Dauersteigerungen im langsamen Satz, kein wuchtig pochendes Scherzo oder gar seliges Trio. Ja, das Alles ist sie nicht

Die Sechste ist vielmehr die Rückschau auf die frühen Sinfonien und hier vor allem auf die vielfachen Werkfassungen dieser, die Bruckner angesichts seines Spätwerks überarbeitete und rund walzte. Das Scherzo der Sechsten zum Beispiel erinnert in seinen Anfangstakten an das chromatische Geigenwanken des später zurückgezogenen ersten Finalversuches der Vierten. Das Trio dieses Scherzos sucht mit jedem weiter einsetzenden Orchesterregister den Anfang und hat dann eben viermal angefangen und ist schon wieder vorbei.

Das große Adagio, das in den Übergängen seiner Teile doch schon die stehenden Momente des Adagios der Achten vorwegnimmt, Bachoboen hier vor Wagnerblech bevorzugt, das immer wieder in kurzen Hornklang ummünzt, der erstaunlicherweise manchmal an Brahms angelehnt zu sein scheint, kennt sehrende Streicherstrecken, die auf Mahler hinweisen. Und doch nur einem Zweck dienen: Raum für den Trauermarsch zu öffnen, der nach einer Überleitung beginnt, die Gergiev im verlorenen Klarinetten-Fagott-Unisono, von den Streicherbässen kontrastiert hinbekam, als würde man nie den Ural erreichen. Ja, mit diesem Trauermarsch wurde es im Publikum ganz leise, selbst der lauteste Asthmarentner verstummte.

Da hätte nun Schluss sein können, wirkte das Scherzo wie eine Zugabenverbeugung vor Schnittke. Und das Finale war ein wenig zu langsam. Die Münchner Philharmoniker sind übrigens genauso ein Schnittke- wie Brucknerorchester: beides pflegten sie bereits mit Akribie und Permanenz zur Zeit Celibidaches, man erinnere sich an die weiteren Sinfonien des deutschen Russen oder das Cellokonzert mit der damals legendären Natalja Gutmann.

Mit Bruckner und Schnittke in einem Programm wurden somit wertvolle Fragen gestellt und wunderschöne Antworten gefunden. Da aber nicht Alles beantwortet wurde, entstand ein Leerraum der nun endlich gefüllt werden kann, wenn der lange hier in München umstrittene Dirigent und das Orchester nun von hier an zwischen sehr neu und gewohnt alt weitergehen.

Wie gesagt: in der bunten Stadt München scheint Gergiev in seiner ganzen, merkwürdigen Eigenart angekommen zu sein. Jetzt heißt es: nicht aufhören, nicht zurückfallen, von hier aus gemeinsam mit dem Orchester und den befreundeten Klangkörpern welcher Szenen auch immer weiterzumachen, ja, das gerade als Großtat im Philharmonie-Provisorium, wenn man 2021 aus dem Gasteig an den Flaucher umzieht.

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