„Das kenne ich schon“ – über eines der größten Missverständnisse der neueren Musikkritik

„Das kenne ich schon“ – über eines der größten Missverständnisse der neueren Musikkritik

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Viele Musikkritiken lesen sich wie ein Kompendium dessen, was die Kritikerin/der Kritiker alles in der gehörten Musik erkannt hat. Daran ist grundsätzlich erst einmal nichts Schlechtes – die Kritikerin benutzt die Assoziationen zu schon bekannter Musik, um dem Leser einen anschaulichen Eindruck zu geben, der die Begrenzung der Sprache überwindet – bekanntlich kann man ja genauso schlecht über Musik sprechen, wie man über Architektur tanzen kann.
Bei Popkritiken ist dies meistens positiv gemeint. Wenn zum Beispiel die Musik einer Band als „schrille Melange aus Bebop, Country und Heavy Metal“ beschrieben wird, setzen sich diese Assoziationen im Kopf des Lesers zu einem durchaus interessanten Bild zusammen, das vielleicht sogar besonders neugierig macht. Wenn ein Kritiker in einer Neuen Musik-Kritik allerdings Begriffe wie „Musical-Anklänge“ oder „Filmmusikartig“ verwendet, oder gar Namen nennt („erinnert an…z.B. Kurt Weill, Zappa, etc.) ist dies höchstwahrscheinlich derogativ und abwertend gemeint, a la „ganz nett, aber kennt man doch schon“ oder (noch schlimmer) „will sich beim Publikum anbiedern“, selbst wenn die Musik in der Kombination dieser Klangwelten mit artfremden Parametern ganz neue Wege geht oder überhaupt erst mit der Kombination des Bekannten mit dem Unbekannten Fallhöhen und Überraschungen erzeugt, die ansonsten gar nicht möglich wären.

Es existieren also in der “Neuen Musik” – Kritik nach wie vor die Klischees, die ständig absolute Extreme und radikale Praktiken fordert, damit etwas als „neu“ anerkannt wird. Musik gilt nur dann als „unerhört“, wenn sie am Rande der Klangerzeugung herumknirscht, in immer neue Mikrotondifferenzierungen vordringt oder den möglichst großen Kontrast zu allen anderen Musiken besitzt, der vorstellbar ist, also z.B. kein erkennbarer Rhythmus mehr, auf keinen Fall Melodik, keine Harmonik die auch nur annähernd an irgendetwas erinnert, Algorithmen, die quasi zufällige Linien erzeugen, die vom Ohr nicht mehr als erinnerbares Melos erkannt werden kann, usw.

Wie wir alle wissen, erzeugt die Erfüllung dieser unausgesprochenen aber latent weiterhin wirksamen Forderungen eine oft relativ einheitlich und ähnlich klingende Musik, die dem typischen „Neue-Musik-Festival“-Standard entspricht, auch wenn sich dieser Standard schon seit vielen Jahren erfreulicherweise in der Erosion befindet. Das heißt gerade in der Vermeidung entsteht wieder ein neues Klischee, die Stücke klingen zwar anderer Musik unähnlich, aber dafür sich selbst so ähnlich, dass es wieder langweilig wird. Die Pionierleistungen der Klangforschung ragen heraus, danach wird von vielen Epigonen endlos dasselbe Gebiet abgegrast. Diejenigen, die es abgrasen, bilden zusammen mit der sie kommentierenden Kritik ein Gespann, das auf bestimmte Reizworte abzielt wie auch reagiert, in einer Zweckgemeinschaft natürlich, denn mit den guten Kritiken erhöhen sich die Chancen auf gute Preise und Stipendien, umgekehrt erhöht sich das intellektuelle Gewicht eines Kritikers, wenn die von ihm beschriebene Musik ein großes Spezialwissen und Fachkompetenz fordert.

Ein Stück, das zum Beispiel „schwierig“ oder „komplex“ ist, oder irgendeinen Parameter besonders extrem „auslotet“, ruft im Kritiker die Assoziation hervor, dass dieses Stück vielleicht besonders mutig ist, da es sich den meisten nicht sofort erschließen wird. Es entsteht in diesem Moment eine Art Schutzreflex, denn die Kritikerin kommentiert einerseits die „Szene“, ist aber andererseits auch Teil von ihr, sie wird also diese Aspekte als besonders positiv darstellen, denn damit beweist sie höhere Kennerschaft als die meisten Hörer, andererseits bestätigt sie den geheimen Bund mit dem Konzept des „Unerhörten“, das überhaupt erst die Szene definiert und von anderer Musik abgrenzt.

Man wird in einer Kritik nie lesen, dass ein Stück den Kritiker überfordert hat, dass er bestimmte Aspekte nicht verstanden hat, dass er sich gelangweilt hat (was ja alles ehrliche und vielleicht auch für den Leser interessante Statements wären), denn damit würde er sich als eventuell inkompetent outen, denn das Hauptklischee ist ja das „Unerhörte“, das uns überfordern soll. Da dies ein in der Szene positives Attribut ist, nimmt die Kritikerin also in Kauf, sich eventuell also tatsächlich zu langweilen oder etwas nicht zu verstehen, denn die Absicht ist in diesem Fall viel wichtiger als das tatsächliche Klangerlebnis oder dessen Qualität, Aspekte wie „Musikgenuss“ oder „Freude“ spielen hier einfach keinerlei Rolle in diesem Regelsystem.

Dass einem Nichtkenner der Neuen Musik diese ganze Diskussion unverständlich und fast unfreiwillig komisch vorkommen würde, zeigt genau das eigentliche Problem darin auf. Der Sprung zu einer spontanen Vermittlung von Musik, der vor allem über deren Erlebnischarakter; ihre narrative Qualität oder deren Poesie und Emotionalität funktioniert (Aspekte, die zu allen Zeiten der Musikgeschichte eine größere Rolle spielten, als Aspekte der Konstruktion oder Regeltreue) ist durch die komplette Verweigerung dieser Parameter innerhalb des Dogmas des „Unerhörten“ unmöglich geworden, deswegen baut sich die Szene ihr eigenes Gefängnis, das sie von der Kommunikation abschneidet. Wir müssen uns also eigentlich fragen, warum etwas überhaupt „unerhört“ sein muss, und warum das „Erkannte“ eigentlich schlechter ist.

Musik ist nie außerhalb von Kommunikation, auch in der Verweigerung von Zugänglichkeit kommuniziert sie exakt dies und wird dementsprechend eingeordnet, im Guten wie im Schlechten. Kommunikation funktioniert aber immer mittels dem, was schon bekannt ist, aber in einen neuen Kontext gestellt wird. Gäbe es keine allgemein bekannten Wörter, keine Begriffe, auf die sich alle einigen können, wären neue Konzepte und Ideen nicht vermittelbar. Für die meisten Nicht-Kenner von zeitgenössischer Musik spricht diese Musik zu ihnen stets in einer undurchschaubaren Fremdsprache, bei der sie nirgends andocken können. Die Inhalte würden sie vielleicht sogar interessieren, aber es fehlt der Schlüssel dazu.

Wenn wir in der Musikgeschichte die großen originellen Neuerer unter den Komponisten betrachten, so fingen diese keineswegs bei einem imaginären “Punkt Null” an und betraten in jedem einzelnen Takt absolutes Neuland, sogar ganz im Gegenteil.
Beethovens Klaviersonaten z.B. sind voll von Alberti-Bässen, voll von Akkordfolgen und Kadenzen die absolut in der Tradition seiner Zeit stehen, Motiven und Melodien, die an seine Vorgänger erinnern (z.B. Haydn) und den Hörern seiner Zeit stets Aha-Erlebnisse bescherten, an die sie andocken konnten. Diese Vertrautheit benutzt er aber, um die kompositorischen Mittel seiner Zeit radikal zu erweitern, sie in neue Zusammenhänge zu bringen, Fallhöhen und Überraschungen zu erzeugen, die Grenzen der Klaviertechnik auszuloten usw. Es ist aber nie auch nur in einem einzigen Takt Musik, die sich komplett dem Moment der Wiedererkennung verweigert oder sich per Dekret davon abgrenzt, nein gerade in der oft unerwarteten und genialen Neukombination wie auch Erweiterung von schon existierenden Topoi liegt die Stärke von Beethoven, wobei wir heutzutage nur noch einen Bruchteil der Anspielungen und Anverwandlungen verstehen, die er in seiner Musik benutzt. Eine zeitgenössische Hörerin hätte zum Beispiel sicherlich ständig gesagt “ach, das erinnert mich an…” und es war auch kein naserümpfender Kritiker in Sicht, der Details als zu “vertraut” bemängelte. Und – darüber gibt es nicht den geringsten Zweifel – es kam ja auch etwas sehr Neues und noch nie Dagewesenes heraus, nämlich die Musik von Beethoven, über die wir bis heute staunen können. Dabei hatte Beethoven auch nie Angst, banales Material zu benutzen, wie die genialen Diabelli-Variationen beweisen. Gerade mit der Benutzung des konventionellen Themas von Diabelli konnte er bei seinen Hörern davon ausgehen, dass sie dieses Thema als Eintritt in einen neuen (und komplett verrückten und unkonventionellen!) musikalischen Kosmos nutzen konnten.

Dies soll keine Entschuldigung dafür sein, dass einem in der Musik nichts mehr Neues einfallen muss – es gibt auch so etwas wie die banale Nutzung des Banalen. Und es ist auch kein Ruf zurück zur Tradition, nur eine Verteidigung der grundsätzlichen Möglichkeit von Kenntlichkeit in Musik, und dass diese keineswegs qualitätsmindernd ist.

Eine Anverwandlung die nicht mehr ist als eine Anverwandlung, die nirgendwo hinweist durch Aspekte des Kontextes oder der Intention als auf das, was eh schon gesagt wurde, ist letztlich uninteressant und zu leicht. Aber nur weil etwas oberflächlich so klingt wie etwas, das man “schon kennt”, heißt es noch lange nicht, dass es dem entspricht. was man schon kennt. Es kann etwas völlig Neues sein, so wie auch ein völlig neuer Cocktail aus Zutaten gemixt werden kann, die man eigentlich schon alle kennt, die aber in der Zusammenwirkung ein neues Resultat ergeben. Ein Dogma, das Musik stets klangliche Neuerungen enthalten muss um “neu zu sein” ist genauso dumm wie ein Dogma, dass Musik stets möglich so klingen sollte, wie man sie schon kennt.

Im Graubereich dazwischen finden die eigentlichen Neuerungen statt. Wir müssen nur genauer hinhören.

Moritz Eggert

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2 Antworten

  1. @Moritz: Danke für diesen Artikel, das musste einmal wieder gesagt werden. Nicht zu vergessen, was der hierzulande viel zu wenig bekannte französische Musikphilosoph Vladimir Jankélévitch (gleicher Geburtsjahrgang wie Adorno, aber GANZ andere Musikphilosophie) bereits 1961 feststellte: „Es gibt eine musikalische Sprache genau in dem Sinn, in dem es eine Blumensprache gibt.“

    Es ist also sowieso von vornherein Unsinn, die Arbeit einer/s KomponistIn „lesen“ bzw. „decodieren“ zu wollen wie einen Roman. Und wer sich darauf beschränkt, erkannte Elemente mehr oder minder korrekt einzuordnen, beweist bestenfalls Bildungswissen, aber noch lange keinen Geschmack oder gar ästhetisches Urteilsvermögen (klingt arrogant, ist aber so).

    Nicht zuletzt die Konzeptmusik hat durchschlagend bewiesen, dass es in Musik eben nicht *ausschließlich* um Klang geht, genausowenig, wie es in der Malerei ausschließlich um Farbe geht.

    Wer sich für Jankélévitchs (der übrigens eng mit dem Komponisten Frederic Mompou befreundet war) Musikphilosophie interessiert, kann auf meinem Blog eine kurze verständliche Einführung finden, viel Vergnügen (es ist unbekanntes Gebiet): https://wp.me/p1MYy1-6KM

  2. Thomas Wunsch sagt:

    „Im Graubereich dazwischen finden die eigentlichen Neuerungen statt“. Das ist das selbstillusionierende nostalgische Statement von jemanden, der nicht wahr haben will, dass seine Zeit vorüber ist.

    Denn die Diagnose ist in vielen Teilen durchaus zutreffend. Innovation und Steigerung war ein zentrales Momentum des bürgerlichen Phänomens „Klassische Musik“. Doch kann dieses Prinzip nur wirksam sein, solange es soetwas wie einen Mainstream und allgemein akzeptierte und verstandene Codierungen gibt, an dem sich der Künstler produktiv abarbeiten kann. Während es die in der Popmusik, die der Autor auch zitiert, durchaus noch gibt, haben sie sich in der Klassischen Musik inzwischen aufgebraucht.

    Die beschriebene Hilflosigkeit der Kritik ist einerseits durchaus zutreffend, doch eben weniger die Schuld der Kritiker als vielmehr Teil des Phänomens, dass in einer Ästhetik, die sich in endlose Subjektivierungen und Spezialisierungen aufgelöst hat, jene Vermittlerfunktion, das Neue an den Mainstream anzubinden, redundant geworden ist. Wenn alles nur noch das sein will, was es ist, und sich gegen nichts und niemanden mehr rechtfertigen muss, braucht man es auch nicht mehr zu kommentieren oder kritisieren.

    Niemandem, der mit offenen Augen durch die Welt geht, kann entgehen, dass die bürgerliche Kultur und alles was mit ihr verbunden ist, Klassische Musik und Theater, Feuilletons mit Kritikern, Literatur über ästhetische Inhalte in Auflösung ist. Und auch wenn man darüber traurig und nostalgisch sein kann, es ist nun mal der Lauf der Welt, dass nichts ewig währt.