Arbeitsstrategien für Komponisten im 21. Jahrhundert
Arbeitsstrategien für Komponisten im 21. Jahrhundert
In der letzten Zeit beschäftigt mich zunehmend das Problem des Zeitmanagements und des Onlineverhaltens. Jeder von uns kennt das Problem: mit der zunehmenden Erreichbarkeit steigt auch der Stress, alle zur Verfügung stehenden Kommunikationsformen zu “bedienen”, auf Nachrichten zu reagieren oder einfach nur den Überblick zu behalten, wer jetzt genau wo und warum etwas von einem will.
Zumindest mich treibt hier auch immer ein vielleicht irrationales Gerechtigkeitsgefühl um: ich will keine Ranglisten aufstellen, auf wen ich jetzt schneller reagiere, sondern alle Menschen, die mit mir kommunizieren, respektvoll und gleichberechtigt zu behandeln. Hierbei macht man manchmal den Fehler, zu viel auf eine vernünftige Kommunikation zu hoffen mit Menschen, die eine solche Kommunikation gar nicht wollen, siehe dieses Beispiel hier:
Aber der Zeitaufwand, einfach nur den Überblick zu behalten, ist manchmal enorm. Aktuell bekomme ich im Schnitt etwa 120 Emails pro Tag, darunter natürlich Spam und Quatsch, da ich es mir aber nicht leisten kann, z.B. wichtige Nachrichten einer aktuellen Produktion zu verpassen wegen eines Spamfilters, muss ich alles durchgehen.
Dann kommt der Zeitaufsauger par excellence: das Smartphone. Hätte man Menschen vergangener Epochen erzählt, dass die Zukunft der Menschheit so aussieht, dass man ständig ein winziges Rechteck in der Hand hält, auf das man ständig starrt, hätten sie uns ausgelacht. Fliegende Autos und gigantische Raumschiffe waren irgendwie spannendere Zukunftsvisionen. Wie hätte man damals “Star Wars” empfunden, wenn Luke Skywalker alle 3 Sekunden ein Telefon aus der Tasche geholt hätte, um mit Prinzessin Leia zu chatten, die ihm süße Emojis aus der Zelle im Todesstern sendet? Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie einmal war (ok, Star Wars – Fans, mir ist bewusst, dass die Filme in einer futuristischen “Vergangenheit” spielen, ist ja nur ein Beispiel).
Auf meinem Smartphone empfange ich aktuell Nachrichten per Email, Facebook Messenger, Whatsapp, Twitter, SMS, MMS, Skype, linkedin, Skype,Instagram und gottseidank nicht mehr von google+, das dichtgemacht hat. Aber dafür seit kurzem von meiner Fitnessgurt(Herzfrequenzmessungs)-App. Jedes dieser Medien wird von Freunden und beruflichen Kontakten benutzt, und es erfordert schon einiges an Konzentration, sich zur jeweiligen Kontrolle der aktuellen Kommunikation zu zwingen, damit man nicht vergisst, irgendwo zu antworten. Auf whatsapp und Messenger habe ich gleich mehrere Kommunikationsgruppen, die um meine Aufmerksamkeit buhlen – meine Studenten wollen über Unterricht informiert werden, chatten aber auch fröhlich untereinander, auf anderen Kanälen tauscht man sich über diverse Themen aus, die immer wieder in Terminvereinbarungen münden, usw. Egal wo ich hinklicke, es ist garantiert eine neue Nachricht da.
Natürlich habe ich schon alle Benachrichtigungen abgeschaltet – wenn mein Handy ständig vibrieren oder piepsen würde, wenn mal wieder auf einem der tausend Nachrichtenkanäle irgendwo was reinkommt, würde es ständig vom Tisch fallen und einen einzigen Dauerton von sich geben. Soll man also die Nachrichtenkanäle drastisch reduzieren? Geht nicht – einige meiner wichtigsten Kontakte kommunizieren ausschließlich per SMS oder MMS, es gibt Opernhäuser und Orchester, die mich über Messenger (nicht etwa per Telefon oder Email) wegen Aufträgen kontaktieren, und sogar auf Twitter kommen inzwischen ständig relevante Inhalte herein, die man nicht ignorieren kann. Es würde mich zum Beispiel auch inzwischen nicht mehr überraschen, wenn man mir Konzerttermine in einem youtube-Video-Kommentar anbietet, schon oft bekam ich über solche Kommentare Anfragen wegen bestimmter Stücke, die sogar in konkreten Aufführungen resultierten.
Man switcht also ständig zwischen diesen vielen Kanälen hin und her, und darunter leidet das, was wir als Komponisten am meisten benötigen: Ruhe und Konzentration.
Komponieren ist mehr als viele andere Tätigkeiten ein Geschäft, das eine gewisse Abschottung und Ruhe braucht. Wenn ich musikalische Gedanken verfolge, will ich dabei nicht unterbrochen werden von Chats oder anderen Ablenkungen, denn sonst verliere ich den Faden. Es ist auch kein Multitasking möglich, wenn man ernsthaft schöpferisch tätig ist – Korrekturen oder Kopistenarbeiten kann man vielleicht unternehmen, während ein Podcast läuft, aber keineswegs eine Orchesterkomposition.
Inzwischen bin ich dazu übergegangen, sehr früh morgens aufzustehen, um sofort in eine Phase des komplett ungestörten Arbeitens überzugehen, denn nur um 5 Uhr morgens kann ich davon ausgehen, dass niemand anruft und keine wichtige Nachrichten reinkommen. Ich muss also eine eigentlich eher unmenschliche Arbeitszeit wählen, damit ich nicht von den Menschen gestört werden kann, die anscheinend gleichzeitig arbeiten und chatten können.
In diesem sehr interessanten Buch (Deep Work) untersucht der Autor das Phänomen der zunehmend verlorengehenden Fähigkeit, ruhig und konzentriert an einer Sache zu arbeiten. Das Problem dieser Ablenkungen ist gar nicht so sehr der Inhalt der Ablenkungen, sondern die Rückstände, die die Ablenkung im Gedächtnis erzeugt. Denn wenn einen ein Freund mitten in der Arbeit wegen irgendetwas kontaktiert, kehrt nur ein Teil der momentanen Konzentration zurück zur aktuellen Arbeit, der andere Teil des Unterbewusstseins arbeitet selbstständig weiter an dem gerade entstandenen Ablenkungsthema. Es werden also nicht mehr alle Ressourcen des Gehirns zur “deep work” genutzt, und das bedeutet Qualitätsverlust.
Neulich ließ ich zwei Studenten mit einer kompositorischen Aufgabe allein (16 Takte für Streichquartett mit schon vorgegebener Melodie) die sie in einer Stunde erledigen sollten. Als ich zurückkam, fand ich lediglich zwei unfertige und abgebrochene Arbeiten mit einer Handvoll Tönen vor, die Studenten chatteten auf ihren Smartphones, vielleicht, weil sie die Einsamkeit mit der Partitur nicht ertrugen. Diese Studenten sind keineswegs faul oder renitent, sondern beide sehr fähig (und in der Lage, schöne Partituren zu schreiben), aber in ihrer Lebenswirklichkeit halten sie es ohne konstante Ablenkung nicht mehr aus, sie brauchen also länger als frühere Komponisten, um eine Arbeit zu erledigen. Dies fällt ihnen aber nicht auf, weil sie ihren Arbeitstag insgesamt viel fragmentierter erleben – sie sind wahrscheinlich wegen ständig durch Chats und Messages hereinkommende Nebenthemen mehr unter Stress als früher zum Beispiel ein Schubert, müssen aber dann auch länger und härter arbeiten um trotz der ganze. Ablenkungen dasselbe zustande zu bringen.
Man stelle sich einfach mal vor, Beethoven hätte nicht zu Hause komponiert, sondern sein Klavier auf einen Marktplatz in Wien gestellt, wo alle 3 Minuten ein Freund vorbeikommt und ihn irgendetwas fragt. Was wäre dabei herausgekommen? Oder Gustav Mahler, der anstelle in seinem Komponierhäusl seine Sommerfrische in einem überfüllten Starbuck‘s. verbringt, direkt neben einem Bildschirm, über den ständig Werbung flackert, während im Hintergrund Muzak nudelt. Die Tiefe und Intensität seiner Musik wäre nie zustandegekommen.
So in etwa ist es aber, wenn man komponiert und das Smartphone daneben liegt. Wir holen uns den Marktplatz ins Haus, sind nicht mehr effizient und nicht mehr konzentriert. Ich kenne viele Komponisten die wegen der täglichen Ablenkungen erst ganz spät abends komponieren, aber der Körper hat es auch mal ganz gern, wenn man sich einfach mal nur entspannt und nicht mehr arbeitet, die Ruhephasen sind genauso wichtig wie die Arbeitsphasen. Diese Kollegen sind den ganzen Tag gestresst, weil sie wissen, dass sie die eigentliche Arbeit erst abends machen müssen, dann aber verzichten sie am Abend auf die für den Körper so wichtige Entspannung.
Ich bin ziemlich sicher, dass unsere Vorfahren nicht nach einem Tag der Jagd hektisch durch die Höhle liefen, sondern die verbliebene Zeit zur Muße nutzten, so entstand ja überhaupt erst Kunst und Musik: als Zeitvertreib. Und die wunderbaren Höhlenmalereien waren art pour l‘art, sie kannten keine Deadlines oder Verträge, keinen Produktionsdruck. Das war dann ein anderes kreatives Arbeiten als das abendliche panische Arbeitserfüllen, das viele umtreibt.
Wie man es auch dreht und wendet: die richtige Strategie zur eigenen Arbeitsorganisation ist wahrscheinlich wichtiger denn je, denn die falsche Ethik führt zu immer größerer Oberflächlichkeit und Schlampigkeit, es fehlt die „Tiefe“, die qualitativ hochwertige Arbeit ausmacht.
Genau dies sei die Stärke von „deep work“, argumentiert Cal Newport, gerade weil es immer weniger Menschen gibt, die diese Art von Arbeit beherrschen, kann dieses Alleinstellungsmerkmal ihnen die Chance geben, mit ihrer Arbeit erfolgreicher zu sein als die anderen. Die Strategie der Schildkröte besiegt die Strategie des hektisch hoppelnden Hasen sozusagen.
Ich will keineswegs vorgeben, hier selbst die perfekte Strategie zu kennen. Mein Onlineverhalten ist ständig im Fluss, immer wieder probiere ich neue Methoden, um möglichst große Freiräume für ruhiges kreatives Arbeiten zu finden. Dazu gehört auch, dass man sich in anderen Dingen möglichst komplett auf etwas einlässt, und es nicht en passant erledigt, das intensive Erleben des jeweiligen Moments, das Zulassen von kreativer Langeweile (=Tagträumen), Sport, tiefsinnige Gespräche, usw.
Wir leben dieses Leben vermutlich nur einmal (und selbst wenn nicht, sollten wir so leben, als ob es so wäre), und diese Zeit ist viel zu schade; um sie mit Oberflächlichkeiten und Halbherzigkeiten zu verdaddeln. Zwischenmenschliche Wärme und hingebungsvoll konzentrierte Arbeit (egal ob künstlerisch oder handwerklich) machen uns glücklich. oberflächliche Kontakte und schnelles Hingedaddel dagegen nicht. Deswegen ist es klar, dass die Herausforderung der Zukunft darin bestehen wird, wieder mehr Tiefe und Inhalt in unser Leben zu bekommen, es wieder intensiver wahrzunehmen. Das können wir auch beim Komponieren erleben, dann macht es uns (und andere) glücklich.
Moritz Eggert
Komponist