Title IX für deutsche Musikhochschulen – am Beispiel David Daniels 2018 und München 1996
Andrew Lipian, ein Student der University of Michigan, beschuldigt seinen universitären Gesangslehrer, den auch in Deutschland gefeierten Countertenor David Daniels, ihn sexuell missbraucht zu haben. Damit liegt nach den Anschuldigungen des Baritons Samuel Schultz, der Daniels und dessen Partner zusammen des Missbrauchs im Juli dieses Jahres beschuldigte, ein zweiter Fall vor. Beide Anschuldigungen weisen Daniels und sein Partner zurück. Lipian hatte neben den Stunden an der Uni Privatunterricht bei Daniels. Hier soll der Lehrer bereits sexuell anzügliche Bemerkungen gemacht haben. Zudem soll Daniels ihm SMSen gesendet haben, wo er den Schüler um Masturbationsvideos bat bzw. Lipian Videos mailte, auf denen Daniels masturbierte. Der heterosexuelle Student Lipian wirft seinem Lehrer Daniels vor, ihn unter dem Vorwand zusammen TV sehen zu wollen und über seine Karriere zu sprechen zu sich nach Hause einlud, ihn durch ein Schlafmittel ausser Gefecht gesetzt zu haben, ihn entkleidet und dann entsprechend begrabscht zu haben.
Bemerkenswert ist nun, dass der Student Lipian vor allem die University of Michigan verklagt. Konkret verklagt er das „Title IX“-Büro. Title IX ist ein Paragraf eines US-Bundesgesetzes zu Hochschulen. In diesem § 9, daher Tilte IX, wird in erster Linie die Gleichbehandlung der Geschlechter von Studierenden in Hochschulen geregelt. Dem Grunde nach schützt das Gesetz Studierende aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert, von Leistungen oder von Ausbildungsprogrammen ausgeschlossen zu werden, wenn eine Hochschule Bundesmittel bezieht. Das mögen zwar nur geringe Mittel sein, der Schutz aber durch jenen Title IX hoch. Dadurch soll ein gewaltfreies, sicheres und gleichberechtigtes Umfeld für Studierende geschaffen werden. Darüber hinaus wurde durch Rechtsprechung festgestellt, dass Studierende durch sexuelle Übergriffe seitens des Lehrkörpers in ihren Gleichheitsrechten verletzt werden, da hierdurch die Gleichheit in der Zugänglichkeit des Unterrichts gestört wird. Das dies nicht passiert, ist die Fürsorgepflicht der Hochschule.
Lipian wirft nun seiner University of Michigan vor, dass diese bereits länger das in Worten sexuell übergriffige Unterrichtsklima von Daniels kannte. Im Mai 2018 habe Daniels Lipian erzählt, dass ein anonymer Brief bei der Universität eingegangen wäre, der Daniels sexuelle Beziehungen zu Studierenden unterstelle. Später sagte Daniels Lipian, dass die Universitätsverwaltung dies als Fälschung interpretiere. Ein anderes Mitglied der Fakultät habe allerdings auch von diesen Vorwürfen Wind bekommen und das IX-Büro der Universität darüber informiert, wie es das Gesetz vorschreibe, wenn man solche Vorwürfe mitbekommt. Allerdings sei daraufhin keine Untersuchung erfolgt, Lipian nicht befragt worden, wie es auch schon zu den älteren Gerüchten und Vorwürfen keine Untersuchungen gegeben habe, da der Lehrer Daniels als weltweit renommierter Countertenor für das Renommee der Universität von enormer Bedeutung sei.
Das muss natürlich Alles nun untersucht werden. Wenn allerdings dabei herauskommt, dass die Universität tatsächlich nichts unternahm, obwohl ihr Gerüchte und Vorwürfe des mutmasslich sexuell übergriffigen Verhaltens ihres Lehrers bekannt waren, hat die Hochschule nicht das gewaltfreie Umfeld geschaffen und gefördert, zu dem sie verpflichtet wäre. Sollte das stimmen, wird sie Lipian finanziell entschädigen müssen. Dass es für die University of Michigan prekär werden könnte, zeigt die Freistellung David Daniels von seinen Lehrverpflichtungen für den Herbst 2018. Es gibt jedenfalls nun kriminalpolizeiliche Ermittlungen sowie interne Ermittlungen.
Gestern schrieb ich einen Blog, wo ich vorschlage, dass jedes Mitglied eines Lehrkörpers bei hohen Vertragsstrafen gegenüber der Dienstherrin und dem geschädigten Studierenden verpflichtet sein sollte, sexuelle Beziehungen zu Studierenden zu unterlassen. Das ist aktuell in Deutschland nicht möglich. Ich denke aber, dass da Änderungsbedarf besteht. Jede Musikhochschule entwickelt komplizierte Verfahren für Lehrerwechsel, wenn es zu einer sexuellen Beziehung kommt und verpflichtet die betreffenden Lehrer zumindest in Prüfungssituationen zur Selbstanzeige einer sexuellen Beziehung zu einem oder einer zu prüfenden Studierenden. Wenn die Beziehung allerdings verborgen bleibt und die Selbstanzeige nicht erfolgt, findet eine potentielle Bevorzugung oder Benachteiligung statt, die eigentlich verhindert werden sollte. Sprich, die ellenlangen Regelungen dazu sind wertlos, wenn sie bewusst unterlaufen werden. Und es gibt keine genügend harten Drohmittel, um das repressiv zu vermeiden.
Wäre allerdings jede Hochschule verpflichtet, ihre Studierenden aktiv vor geschlechtlicher Diskriminierung und sexuellen Übergriffen zu schützen, jedem unkonkreten Gerücht und konkreten Vorwurf der Verletzung dessen nachzugehen, wäre sie als Institution beklagbar. Daher wäre es längst angesagt, dafür eine gesetzliche Grundlage anlog zu Title IX auch für deutsche Hochschulen zu schaffen. Denn eine Hochschule ist nicht von ihrem Renommee oder ihrem Lehrkörper her zu denken. Eine Hochschule sollte immer von den schwächsten, den Studierenden, herauf gedacht werden. Wenn gar Jungstudierende pro Studienjahr in Stärke z.B. eines Jahrganges der Fakultäten Gesang oder Klavier Hochschulangehörige sind, ist das gesamte Verhalten des Lehrkörpers untereinander und gegenüber den Studierenden von den Jungstudierenden her zu gestalten. Erwachsene Studierende sollten den gleichen Schutz genießen wie minderjährige Studierende, nicht nur weil die einen schwächer aufgrund ihrer Minderjährigkeit sind, sondern weil in ihren Schutzbedürfnissen und in Sachen institutioneller Fürsorgepflicht beide gleich zu behandeln sind, weil sie ja gleichberechtigt z.B. im Hauptfach bei z.B. ein und demselben Lehrenden studieren.
Folgt man den verhandelten Fällen sexueller Übergriffe an der Musikhochschule München, liest man dazu den Spiegel von Mitte Mai 2018, wird klar, dass der Institution selbst, dem Kunstministerium das missratene Handeln ihrer betroffenen Professoren bekannt war. In Sachen des Jungstudierenden verlautete das Ministerium unlängst, dass 1996 Alles erfolgreich erforscht worden sei. Folgt man dem Spiegel, wurde ein 16 Jahre alter Jungstudierender als mutmassliches Opfer ohne Eltern und Anwalt zu Anhörungen einbestellt, musste als Minderjähriger Protokolle ohne Gegenzeichnung der Eltern unterschreiben, aufgrund derer auch nach Stand 2018 Alles aufgeklärt worden sei? Hätten wir damals wie heute einen Title IX, könnte man den Staatsminister, den Staatssekretär, die ganze Hochschulleitung vielleicht dafür finanziell belangen. Denn eine geschützten Raum schufen sie nicht. Vielmehr entziehen sich heute noch ALLE ihrer Verantwortung und spielen heute noch eine Rolle, eine zu große Rolle, als Berater, Funktionäre und Hochschulangehörige im bayerischen Musikleben. Ein deutsches Title IX würde diesen Spuk mutmasslich schon längst ein Ende bereitet haben.
Komponist*in