Musica viva: Peter Ruzicka zum Siebzigsten – ein Sittengemälde Südostdeutschlands
Gestern Abend fand das Gratulationskonzert der BR-Neue-Musik-Reihe musica viva zum 70. Geburtstag von Peter Ruzicka statt. Das BR-Sinfonieorchester spielte gut aufgelegt unter der Leitung des Jubilars ausschliesslich Werke des Jubilars (wie schön wäre z.B. ein Wiedersehen mit Biennale-Komponisten von Bhagwati bis Nemtsov gewesen, als eine Art Klangspuren-Kontra-Impact, nicht moderiert, sondern prominent von Ruzicka hier dirigiert!). Die Violinistin Carolin Widmann mit ihrem expressiven Spiel und die Trompeter Sergei Nakariakov und Giuliano Sommerhalder mit ihrer extrem hohen Virtuosität gaben dem Abend den Glanz, den ein Geburtstagskonzert verdient.
Das Programmheft sagt, dass Peter Ruzicka seit seiner alleinigen Leitung der Münchener Biennale für Neues Musiktheater von 1998 bis 2014 die Orchester in München mit seinem Festival verknüpfte. Sie setzten tatsächlich symphonisch-konzertante Akzente im Kontrast zu den Opern bzw. bewerkstelligten wichtige Aufführungen von Werken von Helmut Lachenmann, Claude Vivier oder Gerard Grisey für München, feierten in exzessiven Konzerten den Festivalgründer Hans-Werner Henze. Die Neue Musik Szene der bayerischen Landeshauptstadt sei ebenfalls verstärkt präsent gewesen. Das stimmt partiell – denn im Jubiläumsbuch der Biennale 2014 fehlten z.B. alle Projekte der Freien Szene, der die Biennale zwar ein Forum bot, für die aber vor allem die Musikabteilung des Kulturreferats dort die Bühne freimachte, und die Leitung der Biennale oder dessen künstlerischer Berater auch mal gerade bei musiktheatralen Projekten der Szene auf der Biennale nicht anwesend waren.
Genauso heute nicht anwesend im Jubiläumskonzert zum Siebzigsten war das Gros der Münchner Komponistinnen und Komponisten, denen die Ruzicka-Biennale, wie o.g. Dank des Kulturreferats, eine Spielwiese war. Ein paar Freundinnen von mir z.B. geben mit dem Orchester „Lebenslaute“ ein Protestkonzert im Hambacher Forst gegen RWE, dort wo Blogger tot von den Bäumen fallen. Dieses Orchester gab z.B. bereits im wendländischen Gorleben Konzerte gegen die Atomkraft. Derweil gab der in Hamburg lebende Ruzicka sein Konzert in München. Sein künstlerischer Biennale-Berater, Dr. Mauser, war beispielsweise auch nicht anwesend im Gegensatz zum Spahlinger-Konzert, bis auf Mark Andre keine Komponierenden der Bayerischen Akademie der Schönen Künste – es sein denn in der Generalprobe –, keine Komposition Lehrenden der Musikhochschule, bis auf zwei keine Vertreter Münchner Ensembles, Festivals oder Vereinigungen der Freien Szene – auch da waren die meisten vor allem beim vorwöchigen Spahlinger-Konzert anwesend. Dankbarkeit sieht anders aus, aber bekanntlich haben Münchner zu wichtigen Terminen immer etwas anderes zu tun: z.B. ihre nächsten Konzerte vorzubereiten, von denen der Oktober in München übervoll ist: NKM spielt am 14.10., Angela Metzger am 15., die dedicated-Reihe des TKV am 16. auf, am 26. sind alle bei der MGNM in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, am 27.10.18 findet Antennenglühn – Nacht der Neuen der Musik im Gasteig statt, und zwischendurch fahren ganz Viele noch nach Donaueschingen auf die Musiktage!
Jeder Teil des Abends hatte zwei Werke, in jedem Teil berührte vor allem das erste Stück: im zweiten Teil begannen Ruzicka und Carolin Widmann mit dem Violinkonzert „…Inseln, randlos…“. Zum Orchester und zur Solistin traten die Sängerinnen und Sänger des sehr fein singenden Vocalconsort Berlin hinzu. Der Beginn mit hohen Streichern und Crotales war exquisit subtil, nach ein paar intonatorischen Unschärfen fingen sich Solistin, Vokalensemble und Orchester. Die besten weiteren Momente erinnerten an Exzerpte aus Rothko Chapel von Morton Feldman. Doch irgendwann drehte das Orchester voll auf, so dass man weniger an New York School oder Reduktionismus a la Klaus Huber denken musste, sondern es stand in Vorhaltsakkorden plötzlich ausdrucksstärkster Jörg Widmann vor uns. Zum Ende kehrte das Violinkonzert zum Beginn zurück und verhallte – wie jedes Werk des Abends – in langgehaltenen Kontrabasstönen. Die stärksten Fetzen erlebte man, wenn die Solo-Geige im Mitsingen des Vokalensembles in den Bühnenraum verräumlicht wurde.
Das Konzert für Trompete und Piccolotrompete mit Orchester mit dem Titel „Loops“ am Ende des ersten Teils warf die Frage auf, was denn nun hier geloopt sei. Die jungen Ruzicka-Kollegen Moussa und Motschmann, etc. hätten darauf eine deutlichere Antwort gewusst. Letztlich hatte man ein im durchbrochenen Kontrapunkt gehaltenes, für Solisten wie Orchester hochvirtuoses Konzert vor sich, wo die Notwendigkeit der Doppelsolisten nicht immer ganz klar hervorstach: man hatte meist den Eindruck, die Piccolotrompete spielt die Töne weiter, die auf der normalen Trompete in der dafür erforderlichen Akrobatik nicht gehen. Immerhin endete das Werk mit Röhrenglocke und Flügelhorn sowie den besagten ausklingenden Kontrabässen. Das Konzert klang mit „ Flucht – Sechs Passagen für Orchester“ aus, eine Art Vorstudie zur Oper „Benjamin“ auf Walter Benjamin. Wie die beiden anderen Werke wies auch dieses hohen Expressionismus auf, was auf eine Verwurzelung Ruzickas im Musiktheater in der Tradition Henzes schliessen lässt. Eindrucksvoll das Trompetensolo, eine Art hamburgisch, kritisch-theoretische Reminiszenz an Aaron Coplands „Fanfare for a common man.“ Fast bezaubernd die Gesualdo da Venosa Madrigal-Einflechtungen, doch auch hier wieder ein Kontrabass-Ende. Diese originäre Ader für das Musiktheater warf ein wenig die Frage auf, warum vor allem der Begriff der Zweiten Moderne für die Münchener Biennale-Leitung Ruzickas so wichtig war, wo er doch so stark zwischen Rihm und Henze zu verorten ist. Natürlich bewiesen immer wieder von ihm Beauftragte, dass sie eine Hand für das Opernhafte haben. Die meisten aber waren eher Musiktheaterverweigerer, ganz im Gegensatz zu Ruzicka selbst.
Dieses Potential hohen Ausdrucks stellte vor allem das älteste Werk unter Beweis: die „Fünf Bruchstücke“ für Orchester aus der Mitte der Achtziger Jahre. Geballte Ladungen zwischen Mahlers Dritter und Fünfter, ganz stark eigenständig durch den jungen Ruzicka weitergesponnen. Auch hier am Ende verhallende Kontrabässe. Henze grüßte im Tamburin-Trauermarsch des ersten Bruchstücks, was bei aller Ausdrucksgeladenheit doch eine Art Italianita vernehmen ließ, feine Kammermusik in den folgenden Bruchstücken, eine Art Geschwind-Feldman in der stehenden Zeit des vierten Bruchstücks, die Trompete des Anfangs der Fünften Mahlers vor den besagten beendenden Kontrabässen im fünften Bruchstück. Hier vernahm man einen Ursprung, der vielleicht auch ein Weg für einen postmodernen Komponisten gewesen wäre, wie er hier angelegt ist. Bei allen beschriebenen Ausbrüchen der späteren Stücke, der anderen Werke des Abends, fragt man sich: warum ging Ruzicka diese überbordende Ausdrucksmusik nicht weiter an? So was zu komponieren ist ja extrem anstrengend und fordernd, kann man sich nicht hinter Floskelhaftigkeit, wie sie auch dem interessanten Violinkonzert innewohnt, und Begriffen wie Zweite Moderne verstecken. Vielleicht hätte sich dann vor solch einer immensen, hypothetischen kompositorischen Ehrlichkeit auch die Münchner Szene nicht versteckt, so wie die Stadt z.B. bebte, als Tutuguri von Wolfgang Rihm oder eben zuletzt paysage/passage von Mathias Spahlinger erklang. Das zeigt nämlich, dass diese nur selten leuchtende Stadt doch weiß, was gut oder gar fantastisch ist.
Komponist*in