Schüler fragen, Komponisten antworten

In Sachen Musikvermittlung sind natürlich Musiklehrer an vorderster Front. Seit einiger Zeit schon bin ich in Kontakt mit dem Musiklehrer Tobias Debold, der seine jugendliche Schüler regelmäßig mit Musik von mir konfrontiert und mir dann ihre unzensierten Kommentare weiterleitet. Das ist natürlich immer spannend zu lesen – anders als bei kleinen Kindern beginnen Jugendliche ja einen soziokulturell geprägten Musikgeschmack zu entwickeln, bei dem Dinge, die ihnen vorher vielleicht Spaß gemacht hätten, nun kritischer betrachtet werden. Plötzlich klingen Dinge „fremd“ und „ungewohnt“, gibt es eine „Norm“ nach der Musik gemessen wird. Schade eigentlich.

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Gerade eben hörte er mit seinen Schülern mein Stück „Goldberg spielt“ für Soloklavier und Ensemble, 30 Variationen über die Goldbergvariationen von Bach. Des weiteren las man Essays von mir über Musikästhetik.
Dies ist, was mir die Schüler dazu schrieben:

Sehr geehrter Herr Eggert,

im Musikunterricht haben wir uns intensiv mit Ihrer Musik beschäftigt.
Aus unserer teils sehr kontroversen Diskussion ist die Idee für die folgende Musikkritik entstanden und wir erlauben uns, Ihnen diese zu erläutern:
Wir sind grundsätzlich sehr geteilter Meinung, was Ihren Musikstil anbelangt. Zum einen wird ihre Musik als im positiven Sinn sehr unkonventionell angesehen. Ihre Argumentation, weshalb Sie derart abstrakte Musik komponieren, ist durchaus stichhaltig und treffend. Sicherlich ist es richtig, dass sich die Musik im Laufe der Zeit verändert, neue Mittel in die Interpretation mit einfließen und sich somit immer neuere und moderne Musikstile entwickeln.
Allerdings wird in unserem Kurs auch die Gegenseite vertreten, die sich beispielsweise fragt, ob man noch von Kunst reden kann, wenn es sich bei der Interpretationsart Ihrer Stücke subjektiv so anhört, als würde irgendjemand sein Instrument nicht richtig beherrschen. Auch finden es einige von uns sehr gewagt, wenn Sie sich beispielsweise mit Mozart vergleichen.
Einig sind wir uns dennoch darüber, dass Sie ein äußerst interessanter Mensch und Komponist sind und es uns durchaus Spaß gemacht hat, uns mit Ihrer Musik zu beschäftigen.
Florian, Tilman, Julian K., Jamie, Hannah, Anna-Leena

Sehr geehrter Herr Eggert!

Im Musikunterricht haben wir Ihre Stücke „Goldberg spielt“ durchgenommen und in diesem Zusammenhang möchten wir nun gerne Stellung zu diesen beziehen.
Zunächst sind wir alle der Meinung, dass die Innovation Ihrer Stücke sehr bemerkenswert ist und in uns allen Interesse geweckt hat, zumal die Idee, die da hintersteht, etwas für uns noch nie dagewesenes und einmaliges darstellt. Die Inspiration, einen toten Künstler Jahrhunderte lang weiterspielen zu lassen, mit immer neu dazukommenden Entwicklungen der Musik, stets erneuerten Eindrücken und Techniken seine Stücke verändern zu lassen, hat auch uns zum Nachdenken gebracht und in uns selbst die Frage hervorgerufen, wie wir uns diese Musik vorstellen würden. Ihrer Meinung, durch den allgegenwärtigen Zwang in der Musikbranche, sich einem Genre zuordnen zu können, würde unsere Musik nach und nach quasi „aussterben“, können wir nur zustimmen. „Musik aus dem Bauch heraus“ scheint da die einzig passende Lösung zu sein. Dennoch erscheint es uns fraglich, ob Ihre neue Art der Musik tatsächlich noch als solche zählen kann. Denn wir finden, dass Musik v.a. etwas mit Wiedererkennungswert zu tun hat. Einem gewissen Schema muss Musik einfach folgen – sei es Rhythmus, Melodie oder Harmonie. Denn selbst die Musik afrikanischer Urvölker folgen einem Schema – deren Rhythmus und Lautfolge ist stets wiederzuerkennen. Ihre Musik ähnelt in unseren Augen abstrakter Kunst – ein Bild, auf welchem tausend Farben übereinander geschüttet wurden: für die einen scheint es wahllos, ohne jeglichen Hintergrund, völlig willkürlich und ohne großes Talent, für die anderen jedoch einmalig, eine Botschaft übermittelnd, wohl überlegt. Musik und Kunst haben viel mit Interpretation des Adressaten zu tun – manche Leute sehen das Meisterwerk hinter dem abstrakten „etwas“, welches wiederum von anderen gesehen wird. Abschließend können wir sagen, dass Ihre Musik interessant zu hören ist, für uns jedoch nicht als Musik gesehen werden kann – doch wahrscheinlich sind wir nur ein Teil der Leute, die einfach nur das abstrakte „Etwas“ sehen können.

Steffen Leppert, Marco Bötsch, Onat Kurnaz und Hanna Nickel
Sehr geehrter Herr Eggert,

Ihrer Aussage, über den Begriff „es klingt neue-musik-artig“ können wir durchaus zustimmen, denn man macht sich wirklich sofort ein Bild, wenn diese Aussage fällt.
Aber trotzdem sind wir, als wir uns mit ihrer Musik beschäftigt haben, zu dem Entschluss gekommen, dass wir Ihre Musik sehr außergewöhnlich finden, jedoch nicht so außergewöhnlich, dass sie sich wie in Ihrem Kompositionskommentar beschrieben, sehr von anderen neuen Kompositionsformen abhebt.
Trotzdem war uns Ihre Herangehensweise an die Goldbergvariationen zunächst sehr fremd, erschloss sich uns aber durch näheres Besprechen im Unterricht und wiederholtes Anhören. Insgesamt schaffen Sie unserer Meinung nach schon neue Musik mit Ihrer eigenen Note und mischen Stile, aber sie hebt sich, wie wir finden, nicht sehr gravierend von anderer Musik ab.

Wir bedanken uns schon im Voraus, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben und hoffen, dass wir Ihnen nicht zu nahe getreten sind!

Elisabeth, Johanna, Maximilian, Markus

Sehr geehrter Herr Eggert,

nach intensiver Beschäftigung mit ihrer Musik in den letzten Stunden sind wir zu einer ambivalenten Meinung gekommen.
Einerseits wirkt ihre Musik sehr innovativ und vermittelt Spaß, andererseits sind wir zu der Meinung gekommen, dass Musik grundsätzlich an Regeln gebunden ist und deswegen wirkt ihre Musik zwar innovativ, aber teilweise unmelodisch auf uns als Laien.

Julian, Eugen, Johannes, Martin

Und das folgende habe ich ihnen geantwortet (man möge mir die Stellen verzeihen, die für Kenner eher wie Allgemeinplätze klingen – ich versuche hier Beispiele zu finden, die den Jugendlichen möglichst vertraut sind):

„Liebe Schüler,
Zuerst einmal: ich finde es toll, wie intensiv ihr euch mit meiner Musik und meinen Gedanken über Musik beschäftigt habt. Dass ihr dabei kritische Gedanken äußert, gefällt mir – als Künstler muss ich das ertragen, dass jemand mit dem was ich mache nichts anfangen kann.

In allen Kommentaren äußert ihr ganz dezidiert, wie Musik zu sein hat, z.B.:

„Musik ist grundsätzlich an Regeln gebunden“
„Einem gewissen Schema muss Musik einfach folgen – sei es Rhythmus, Melodie oder Harmonie“
„selbst die Musik afrikanischer Ureinwohner folgt einem Schema“

Ihr scheint also ganz genau zu wissen, was Musik ist, und was würdig ist, als Musik wahrgenommen zu werden. Solche Tendenzen gab es in der Kulturgeschichte immer wieder, zuletzt zum Beispiel bei den Nazis, die Musik die ihnen ungesund, unnormal und unnatürlich erschien, als „entartet“ deklarierten und verfolgten. Viele Komponisten landeten im KZ, wurden umgebracht, oder mussten (wie Schönberg und Hindemith) ins Ausland fliehen. Zur „entarteten“ Musik gehörte übrigens auch sogenannte „Negermusik“, also alle Formen des Jazz, ohne die die heutige Popmusik, die ihr jeden Tag hört, gar nicht vorstellbar wäre. Und der weltweite Einfluss von Schönberg und Hindemith als Lehrer wie Musiker ist unbestritten, selbst wenn euch das gar nicht bewusst ist.

Immer wieder haben Menschen in der Vergangenheit versucht, Regeln aufzustellen wie Musik zu sein hat. Man hat mathematische Formeln erfunden, Stimmungssysteme entworfen und wieder verworfen, und natürlich immer erklärt, dass bestimmte Dinge „Musik“ seien, andere wiederum nur „Lärm“. Aus dem Abstand der Geschichte sind solche Erklärungen immer unfreiwillig komisch – so wurden zum Beispiel viele populäre Stücke, die heute jeder oft und gerne hört, zu ihrer Entstehungszeit komplett unmusikalisch deklariert, ihre Komponisten verhöhnt und beschimpft. Dazu gehören auch Komponisten wie Beethoven und Mozart. Nach der Premiere von „Bolero“, vielleicht einem der bekanntesten Stücke des 20. Jahrhunderts, wurde Ravel von einer Zuhörerin mit einem Schirm attackiert, weil er ihrer Ansicht nach nur grauenhaften Lärm produziert hatte. Bach galt als verschrobener alter Sack, der sich mit altmodischem und nicht mehr zeitgemäßen Kontrapunkt herumschlag, Schumann wurde als Spinner verlacht und nicht ernstgenommen, und vom Urteil der Fachwelt wie auch des Publikums über Schubert zu seinen Lebzeiten muss ich gar nicht erst anfangen, nur ein paar enge Freunde spielten und liebten seine Musik.

Ich erzähle dies nicht, weil ich mich selber verteidigen und mit diesen Komponisten vergleichen will, sondern nur um zu zeigen, wie vorsichtig man mit jeglichem absolutistischen Urteil über Kunst sein muss. Musik erfüllt ganz unterschiedliche Funktionen, und wenn man die exotischen Musiken der Welt studiert, wird man schnell feststellen, dass es keine so leicht definierbaren Regeln gibt, die man auf alle Musik anwenden kann. Kennt ihr wirklich alle afrikanische Musik, dass ihr sagen könnt, dass sie komplett einem Schema folgt? Das kann ich mir kaum vorstellen – nordafrikanische, südafrikanische, westafrikanische und ostafrikanische Musik sind komplett anders, dann gibt es auch noch unglaubliche regionale Unterschiede. Die Musik einiger Pygmäenstämme, die durch ihre geografische Isolation nicht wie andere afrikanische Musikstile westliche Einflüsse aufgenommen haben (das ist auch das, was ihr an afrikanischer Musik wiedererkennt, wir haben diese Elemente selber mit Missionaren auf den afrikanischen Kontinent gebracht, kein Wunder, dass sie uns bekannt vorkommen) ist zum Beispiel ist rhythmisch viel komplexer, seltsamer und dissonanter als alles, was ich in „Goldberg spielt“ geschrieben habe. Nur dass es dort auch Pygmäenkinder schon singen und alle danach tanzen können. Die Pygmäen finden wiederum unsere Musik seltsam und schrullig, eine Mozartoper empfänden sie als dissonant und unmelodisch.

Ich habe selber viel Zeit in Afrika verbracht und zum Beispiel westafrikanische Trommelmusik gehört (dort können Kinder schon Dinge rhythmisch realisieren, die wir alle noch nicht einmal nach jahrelangem Studium hinbekommen würden) – glaubt mir, man denkt dort Musik ganz anders als bei uns, und das ist auch etwas Schönes, denn es zeigt die Vielfalt der Welt. Man findet dort ganz andere Sachen „unnatürlich“ als wir – zum Beispiel kennt die westafrikanische Musik keine ungeraden Takte, also alles ist 2/4 und 4/4 (nur dass man es dort nicht so nennt). Wenn also zum Beispiel ein westafrikanischer Musiker bestimmen würde, wie die Musik in der Welt „normal“ zu sein hat, würde er als allererstes Walzer und alle anderen Formen des 3/4 Taktes verbieten, die wiederum wir lieben.
Ich fange hier gar nicht von Musik der Nordamerikanischen Ureinwohner, aus Indien, Indonesien, Neuseeland oder Australien, China etc. an, denn die ist so grundverschieden von unserer, dass wir weder Stimmungssysteme noch andere Dinge wiedererkennen würden. Habt ihr mal eine originale chinesische Oper ganz angehört? Könnt ihr die gesungenen Melodien sofort nachsingen, die Rhythmen sofort nachklopfen? Das würde mich sehr überraschen (es sei denn ihr seid selber Chinesen, und wärt in dem Kulturkreis aufgewachsen). Unser wohltemperiertes Stimmungssystem würde ein Musiker aus dem europäischen Raum im 15. Jahrhundert als hässlich, dissonant und schmerzhaft für seine Ohren empfinden, denn es ist eine komplett abstrakte Konstruktion, die keinerlei Vorbild in der Natur hat (ich konnte euren Kommentaren entnehmen, dass ihr „abstrakt“ doof findet, dann dürftet ihr aber auch nicht Klavier oder Gitarre spielen, denn das sind gänzlich abstrakte Instrumente, die ein künstliches und unnatürliches Stimmungssystem benutzen). Mit anderen Worten: Würdet ihr ihm Musik vorspielen, die ihr schön findet, würde er aufschreien und sich die Ohren zuhalten. „Das ist doch alles zu tief/zu hoch, grässlich“ würde er sagen. Auch die Obertonreihe – gerne von Esoterikern herangenommen – hilft nicht weiter. Ja, ein Durakkord lässt sich aus ihr ableiten, aber zum Beispiel kein Mollakkord. Ein Mollakkord ist also eine Dissonanz, dennoch finden wir ihn (aus kultureller Prägung, die auf die alten Griechen zurückgeht, die die Tonarten die wir heute benutzen, erfanden) „schön“. Andere Kulturen kennen weder Dur-Akkorde noch Mollakkorde, noch Tonika noch Dominante (zum Beispiel Gamelang-Musik) und sind damit auch zufrieden, sie haben andere Formen der musikalischen Kommunikation erfunden, die genauso interessant sind.

Was ich damit sagen will: ich wünsche euch, dass ihr neugierig und offen bleibt, euer ganzes Leben lang. Eure Meinung zu Musik die ihr mögt oder nicht sei euch ungenommen, aber überlegt mal, wie sich allein bei euch selber der Musikgeschmack in eurem Leben verändert hat. Ich war auch einmal wie ihr, und habe bestimmte Musik abgelehnt, weil sie mir zu seltsam oder anders vorkam, dann merkte ich plötzlich, dass mir diese Musik viel besser gefällt als das, was mir als langweiliger Mainstream überall um die Ohren nudelt.
Komponieren heißt: auf der Suche sein. Auch ich wünsche euch: Auf der Suche sein. Denn das ist spannender, als alles schon ganz genau zu wissen.

In diesem Sinne,
Euer
Moritz Eggert

Dokument des Scheiterns oder Annäherung?
Auf jeden Fall Dokument des großen Mysteriums der Neuzeit: Musikvermittlung in Deutschland im Jahre 2012….

Moritz Eggert

mit Dank an David Erler

30 Antworten

  1. Vielen Dank für dieses hochinteressante Material! Respekt auch für den Mut, es einfach mal so ins Netz zu stellen!

    Soweit ich weiß, interessiert Jugendliche „abseitige“ Musik (die sich z. Zt. wohl v. a. in den Subkulturen Metal, HipHop und Emo abspielt) nur, wenn sie eine auch lebensweltlich erfahrbare Gegenwelt gleich mitliefert. Da machen Sie dann plötzlich selbst die abgefahrensten, durchgeknalltesten und extremsten musikalischen Experimente mit. Warum das so ist, darüber habe ich hier mal spekuliert. Die Gegenwelt der „Neuen Musik“ ist vor allem der bestuhlte Konzertsaal, wo unverstärkte Instrumente und Stimmen erklingen (gähn) sowie ein Reden über Musik als Musik, welches nahezu gigantische Vorbildung erfordert (zzzzz). Natürlich wird auch in den Subkulturen unendlich viel kommuniziert (habe selbst jahrelang für Postunk-Fanzines geschrieben, weiß also, wovon ich rede), aber dort geht es nie um Musik als Musik, sondern immer um Gefühle, Fetischismus, Sammelleidenschaft, obsessives Vergleichen, Namedropping, Anekdotisches und solche Sachen. Sobald ich in diesen Magazinen anfing, über „Musik als Musik“ zu schreiben (also mich bsp.weise über die Funktion des Repetitiven bei Steve Reich auszulassen), schaltete der Fan ab (obwohl der „Music for 18 Musicians“ vielleicht sogar cool fand, aber eben nicht aus intellektuellen Gründen, sondern weil er irgendetwas in seinem Leben mit dieser Musik verband, bzw. weil irgendetwas in dieser Musik irgendetwas von seinem Lebensgefühl exakt und treffend ausdrückte! Wenn ich ihn, den Fan, dann regelmäßig fragte, was denn dieses „Irgendetwas“ sei, kamen eben wieder Gefühle, Fetischismus, Sammelleidenschaft, obsessives Vergleichen, Namedropping, Anekdotisches und solche Sachen …).

    Deine (implizite) Vermutung, die Schüler seien vielleicht einfach zu uninformiert über die Vielfalt musikalischer Ausdrucksmöglichkeiten, um den kulturellen Wert „Neuer Musik“ auch nur ansatzweise begreifen zu können, greift zu kurz! Die Kids sind schließlich weit stärker als wir (bin Jahrgang 1966) mit dem Internet aufgewachsen. Die Flut an Informationen zur globalen Vielfalt der Musik, die du in deinem Antwortbrief (ungefragt) anbietest, dürfte die Schüler kaum zu Fans von Pygmäenmusik gemacht haben ;-)

    Die Jugendlichen mochten deine Musik nicht, weil sie ihnen zu „unregelmäßig“ und „abstrakt“ erschien. Nun, alles andere hätte mich erstaunt. Womit ich nichts über deine Musik gesagt haben will (das entsprechende Stück kenne ich ja gar nicht und meiner Musik wäre es wohl exakt genauso gegangen!), aber sehr wohl etwas über den Musikgeschmack unspezialisierter junger Menschen: sie halten sich an Regelmäßigkeiten, Konventionen und dem Wiedererkennbaren fest. Sie sind „konservativ“, gerade auch kulturell. Wer sollte ihnen das auch verübeln? Sie wachsen schließlich auf in einer Welt, die von politischer und sozialer Instabilität, dem Ringen um die Aufrechterhaltung innerpsychischer und sozialer Ordnung und der Konfrontation mit bisher unbekannten Natur- und Wirtschaftsphänomenen geprägt ist. Von all diesen Dingen war unsere Jugend (weitgehend) frei.

    Was bringt den Kids da „Neue Musik“?

  2. Wolfgang Ponader sagt:

    Das sind schon interessante und (für Schülerverhätnisse) recht ernsthafte Auseinandersetzungen mit Neuer Musik. Ich tippe auf ein Gymnasium mit humanistischem oder musischen Hintergrund oder eine Schule, die eine Bildungsbürgerklientel besitzt.
    In meinem Umfeld wären die Meinungen (der Schüler wie ihrer Eltern und der gesamten Kollegenschaft) wesentlich intoleranter und pragmatischer.
    Ich glaube jetzt (!!), daß jede Musik ein VERFALLSDATUM besitzt und nach diesem „Datum“ nicht mehr verstanden wird und nicht mehr vermittelt werden kann. Das „ewige“ Werk gibt es (vermutlich) nicht……

  3. strieder sagt:

    Lieber Moritz, deinen Antwortbrief finde ich ganz toll. (Ich habe das Gefühl, den sollte so mancher Neue Musik-Komponist sich auch mal zu Gemüte führen.) Manchmal frage ich mich auch, warum manche Menschen schon als Jugendliche so vergreist denken. Bzw. wer daran schuld ist, wer die „Lehrmeister“ solch‘ vergreistem closed-minded Gedankengutes sind.

  4. Da ließe sich eine Unmenge sagen, über beide Seiten: Natürlich ist dieser Zustand erklärbar, nur habe ich nach 20 Jahren Darüber-Nachdenken keine Lust mehr, immer das Gleiche zu sagen/schreiben…es ist eh sinnlos…Nicht-Lehrer verstehen es nicht, weil sie nicht die psychosozialen Spielregeln von Schule kennen und Schüler verstehen es nicht, weil sie sich nicht mit irgendwelchem abgehobenen und für sie weltfremden Gedankengut abquälen wollen, das für sie keinen unmittelbat erkennbaren Zweck erfüllt.
    Ja, alles läßt sich erklären, hat sich langsam bis zum jetzigen zeitpunkt entwickelt und…ist, meiner bescheidnenen Meinung nach, nicht mehr rückgängig zu machen…
    Allerding: SORGEN um die kulturelle Entwicklung des LANDES mache ich mir schon lange keine mehr…es wird immer eine winzig kleine Gemeinschaft von Verständigen und Interessierten geben, die die Sache der Musik weiterführen. Ob das allerdings die GROSSEN, bedeutenden gesellschaftlich WIRKLICH relevanten Dinge und Bereiche sein werden, zweifle ich immer an…zumindest die JUNGE INTELLIGENZ findet an Neuer Musik nichts mehr lohnenswert entwicklungsfähiges…soweit…so gut….da liegen Bereiche wie Volkswirtschaft, Energietechnik, Biophysik viel weiter vorne….und Musik…ist GESCHMACKSSACHE.

  5. Erik Janson sagt:

    Fand sowohl die Statements der Schüler als auch Moritz´ Antwort sehr offen und ehrlich aus der jeweiligen Sicht.

    Die Haltungen der Schüler scheinen einerseits vielleicht Ergebnis eines Musikunterrichts zu sein der – vielleicht notgedrungen, weil Musikunterricht ja insgesamt zu kurz kommt und viel zu wenig Zeit ist für umfassendere musikalische Bildung – einen etwas simplifizierten Blick auf die Vielfalt von Musik vermittelt (wiewohl ich den Lehrer nicht kenne).

    Was auffällt, dass die Schüler gar nicht die Musik beschreiben oder sich darauf inhaltlich irgendwie beziehen. Sondern es wird direkt GEWERTET bzw. es kommen nur Geschmacksurteile ala „gefällt mir/ gefällt mir weniger oder nicht/kann ich nichts mit anfangen“. Wie ja in unserer Facebook-Kultur verbreitet, wir „Erwachsene“ machen es oft genug den Kindern und Jugendlichen vor, die sich im Web rum tummeln, wenn man sich so Pinwände und Kommentare anschaut (und auch hier, sogar von uns – mich eingeschlossen – meisten immer schnell gewertet wird und immer weniger man die Dinge in ihrem So-Sein auf sich wirken lässt oder einfach mal sich dem Neuen aussetzt…)

    Andererseits ist es ja auch so, dass das, was den Jugendlichen heute überall in den Massenmedien vermittelt wird, womit sie zu geschüttet werden, ja auch simplifizierend ist. Meint: Unsere Light- und Mainstream-Kultur macht es dem Fremden, dem Neuen, dem Ungewohnteren, dem Unbekannteren immer schwerer (trotz theoretischer Allverfügbarkeiten oder obwohl man überall und jederzeit die ungewohntesten Dinge anhören und ansehen kann). Und dennoch stehen wir Komponisten vor der schweren Aufgabe und Pflicht, für unsere Sache einzutreten und uns bzw. der Neuen Musik weiter Gehör zu verschaffen. Ja, das sind wir u.a. auch denen schuldig, mit denen wir uns gerne vergleichen: Bach, Beethoven, Mozart (Happy Birthday Wolferl…)

  6. Erik Janson sagt:

    @ Herr Ponader,

    ich las im Web, dass Sie selbst Musiklehrer sind? Bzw. Sie präsentieren sich so auf Ihrer Website. Oder las ich falsch? Nun, wenn das so ist, dann wundert mich doch ziemlich ihr hier abgegebener Kommentar (von wegen alles sinnlos bzw. dass er ein wenig so klingt, als müsse man sich für immer damit abfinden, dass alles „Geschmackssache“ sei und der Utilitarismus der Musik um Lichtjahre voraus …

    Auch was Sie über ewige „Verfallsdaten“ von Musik so schreiben und über deren Unumkehrbarkeiten, das mag mir nicht einleuchten. Woran machen Sie denn fest, dass z.B: eine Musik unwiederbringlich „out“ ist z.B., und wie vermitteln Sie dies dann Ihren Schülern bzw. wie begründen Sie dies?

    Wer selbst einer solch negativen Überzeugung ist, der wird natürlich auch bei Schülern keine Neugier auf Unbekannteres, Neueres oder auch nicht auf das Spannende in Traditioneller Musik vermitteln können.

    Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, aber man fragt sich unweigerlich:
    Steckt dahinter ein Burnout oder einfach nur Zynismus?

    Die eigenen (negativen oder positven) Gedanken bekommt man jedenfalls meistens bestätigt bzw. von anderen gespiegelt. Das ist gerade bei Schülern so und beim Draht zwischen (Musik-)lehrern und Schülern. Ich weiß wovon ich da spreche, da ich selbst mal als Musiklehrer im Schuldienst war.

    Schönen abend allen,
    Erik

  7. @Erik Janson
    Nun…meine drastischen Anmerkungen sind weder auf einen negativen Charakterzug noch auf eine berufsbedingte Erkrankung meinerseits zurückzuführen, sondern sie sind (in diesem Kontext) durchaus provokativ vermittelte, aus einer nun einmal vorherrschenden schulischen Realität entwickelte Langzeitbeobachtungen und -erfahrungen, die mit meiner persönlichen Effizienz als Lehrer nichts zu tun haben.
    In Ihrem Text klingen die Worte Zynismus und Burn-out wie
    Tot-Schlag-Argumente gegen kritische Anmerkungen aus der musikpädagogischen Alltagspraxis. Sie scheinen sich ja dieser Praxis rechtzeitig entzogen zu haben, um Ihre „künstlerische Eigenständigkeit“ bewahren zu können und sich dem Gegenwind der pragmatisch denkenden Mehrheit nicht mehr auszusetzen. Damit bestätigen Sie eigentlich meine obigen Thesen, denn GENAU DIESE Einstellungen verstehen heutige Jugendliche (ohne einen nennenswerten Bildungsbürgerhintergrund) nicht mehr. DIESE Mentalität des sich nur der Kunst widmenden Komponisten ist heute Jugendlichen nur noch sehr schwer oder gar nicht mehr vermittelbar. Genau DAS ist das Problem, unter dem Sie als Komponist wesentlich mehr leiden als jeder Pädagoge, der sich dem gängigen Mainstream anpasst, Freude und Spaß vermittelt, Außenwirkung für seine Institution erzielt und ansonsten nicht besonders problemorientiert über seine Arbeit nachdenkt. Einen Komponisten, den nur noch andere Komponisten hören wollen und der sich einer anders fühlenden Mehrheit entzieht, muss sich (jetzt nicht von mir) über Abstimmung der Füße wundern.

  8. Herr K sagt:

    Ich kann nur jedem Musiker empfehlen, für kurze Zeit an einer allgemeinbildenden Schule unterhalb des Gymnasiums vertretungsweise zu unterrichten. Eine sehr interessante Erfahrung. Manchmal auch erschreckend, wenn Schüler alles außerhalb der Charts nicht mal anhören wollen.

    Neugierig und offen war aber auch die Szene der „Neuen Musik“ in der Vergangenheit nicht. Nicht gegenüber Jazz, und auch nicht gegenüber Komponisten, die eine etwas wohlklingendere Ästhetik vertraten.

    Die großen Kunstwerke sind zeitlos, und vermittelbar ist natürlich trotzdem etwas, daher auch nicht sinnlos. Es passt nur nicht jede Interpretation in unsere Zeit, und die Schüler reagieren sehr auf Emotion. Nur als Beispiel: Mozart von Harnoncourt oder Rene Jacobs verstehen sie besser als Mozart in einer angestaubten Karajan-Version.

    Und was Neue Musik angeht. Ich zähle auch einen größeren Teil von Jazz zu Neuer Musik. Da ist eine Menge vermittelbar.

  9. @Herr K
    …völlig einverstanden! Sie sprechen mir aus der Seele! Gerade das Mozart-Beispiel ist eine immer wieder gemachte Beobachtung…..
    Und zu Ihrer Anmerkung zum Jazz: völlig richtig, dazu kommen jetzt auch sehr interessante Bereiche aus dem Progressive Rock (Drum Theatre OCTAVARIUM) und sogar aus der Pop-Musik (Maybebob etc.)…..
    Eine hochinteressante Erscheinung in diesem Zusammenhang war/ist auch der Siegeszug des estländischen Komponisten ARVO PÄRT. Seine Musik besitzt WIRKLICH eine ALLGEMEINE Spontanwirkung…….
    Zur Vermittelbarkeit von Inhalten muss man sich auch mit KollegeInnen aus der Germanistik und der Geschichtswissenschaft unterhalten. Hier wird ähnlich argumentiert. Borchert-Texte scheinen z. B. nicht mehr vermittelbar.
    Eine Buchempfehlung in dieser Hinsicht ist JAMES SUROWICKIS „Die Weisheit der Vielen“ (ein Buch, das aus Sicht des Musikers/Musikpädagogen anfangs weh tut). An der LMU wird, meines Wissens nach, in der Kunsthistorik gerade ein Feldversuch unternommen, in dem der Kunstgeschmack der breiten Masse auf seine „Qualität“ hin untersucht wird. Sollte dies auch auf die Musik zutreffen……..?
    Zum Thema ZEITLOSIGKEIT: als Wagner-Fan und Bayreuth-Gänger stelle ich in letzter Zeit eine gewisse Verfallserscheinung (AUCH der Musik) fest. Es ist nun WIRKLICH nicht mehr alles zeitgemäß und vieles, auch die eine oder andere Interpretation aus der Ring-Tetralogie über menschen . Macht etc. sind von der Geschichte überholt worden. Nicht alle musikalischen Kunstwerke werden diese Erscheinung vermitteln, aber ich VERMUTE jetzt (!), daß es eine Verfallszeit gibt….

  10. strieder sagt:

    Man könnte ja auch Mathematik auf addieren und subtrahieren beschränken, und lässt den exotischen Rest weg. Und Physik … braucht eh keiner. Und vom Schlafmittel Chemie sollten wir gar nicht erst anfangen. Was solls! Hass auf Andersfühlende/ denkende und Andersklingende ist nun mal heute der Standard, und das sollte man einfach akzeptieren, damit alle ungetrübten Spass haben. Ich fahr jetzt mal nach Afrika und bringe den primitiven Wilden dort Christentum und Pärt bei.

  11. strieder sagt:

    Man lese einmal aufmerksam dies hier (es fehlen leider die Grafiken): http://www.nmz.de/artikel/offene-ohren-fuer-klassisches-bewahren

    (Meinen vorigen Kommentar von 9:42 kann man meinetwegen löschen.)

  12. @strieder

    (Meinen vorigen Kommentar von 9:42 kann man meinetwegen löschen.)

    Nee, der soll jetzt gerade mal stehenbleiben. Ist ein echter strieder, nämlich ;-)

    @alle

    Interessanterweise ist bisher niemand auf den prägnantesten Zug von Moritz‘ Antwort eingegangen:

    Ihr scheint also ganz genau zu wissen, was Musik ist, und was würdig ist, als Musik wahrgenommen zu werden. Solche Tendenzen gab es in der Kulturgeschichte immer wieder, zuletzt zum Beispiel bei den Nazis, die Musik die ihnen ungesund, unnormal und unnatürlich erschien, als “entartet” deklarierten und verfolgten.

    Mir klappte erstmal die Kinnlade runter, als ich das gelesen hatte. Jenseits der höflichen Formulierung kam hier für mich rüber: „Hey, Kids, euer Musikgeschmack ist auf einem Niveau, das Joseph Goebbels gefallen hätte.“ Na, wenn das kein subtiles, didaktisch wertvolles Argumentieren ist… Im gesamten, leicht ausschweifenden Rest des Briefes versucht Moritz, diese harsche (und komplett unfaire!) Bewertung wieder zu entkräften – allein, die oben zitierten Sätze hat er stehenlassen und damit auch wohl so gemeint. Hammer!

    @Wolfgang Ponader

    …zumindest die JUNGE INTELLIGENZ findet an Neuer Musik nichts mehr lohnenswert entwicklungsfähiges…soweit…so gut….da liegen Bereiche wie Volkswirtschaft, Energietechnik, Biophysik viel weiter vorne

    Gab es jemals eine Zeit, in der sich die „junge Intelligenz“ eher für „Neue Musik“ interessiert hat als für Volkswirtschaft? Let’s face it: „Neue Musik“ ist elitär + will das auch sein. Das gilt auch für Arvo Pärt, John Adams und Phil Glass, nur haben die ihr Zeug halt mehrfachkodiert (wie z. B. Andy Warhol auch). Diese Mühe ersparen sich Komponisten wie Lachenmann und Ferneyhough (bei Moritz habe ich mir hierüber noch kein Urteil gebildet). Anspruchsvolle Mehrfachkodierung (d. h. die gelungene Amalgamierung aus dem, was Wolfgang Ponader „Spontanwirkung“ nennt mit dem, was bei Erik Janson als das „Fremde, Neue, Ungewohntere, Unbekanntere“ firmiert), ist nämlich tatsächlich sehr schwer zu bewerkstelligen, will man nicht auf der einen oder anderen Seite herunterfallen.

    Die ästhetische Frontlinie der Zeitgenössischen Klassischen Musik, wie ich sie lieber nenne, verläuft nicht am „Materialstand“, sondern am „Soziokulturellen“ entlang! Das Komponieren hyperkomplexer Expertenmusik halte ich tatsächlich für leichter, einfacher und bequemer als die mühsame Schaffung mehrfachkodierter Werke. Hyperkomplexe Werke demonstrieren lediglich das Können eines Spezialisten (und können meist auch nur ebensolche beeindrucken – da ist es wie in der Biophysik, Wolfgang Ponader), mehrfachkodierte Werke zeigen, dass er sich auch noch um den Rest der Welt ein paar einfühlende Gedanken gemacht hat.

  13. strieder sagt:

    @Stefan Hetzel: Ja gut bleibt’s eben drin :P

    mehrfachkodierte Werke zeigen, dass er sich auch noch um den Rest der Welt ein paar einfühlende Gedanken gemacht hat.

    Wer „mehrfachkodiert“ schreibt, schreibt unmöglicherweise für „den Rest der Welt“. Er schreibt vielleicht für „mehr“ Menschen. Aber „mehr“ bedeutet nicht einfach alle vorherigen + neue, sondern eben auch das wegfallen von Menschen. Aber auch diese wollen „ein paar einfühlende Gedanken“!!!

  14. @strieder

    So seid denn umschlungen, Millionen ;-)

  15. Juan Martin Koch sagt:

    @strieder: habe die Grafik in dem von Ihnen verlinkten Artikel ergänzt, danke für den Hinweis!
    http://www.nmz.de/artikel/offene-ohren-fuer-klassisches-bewahren

  16. Guntram Erbe sagt:

    Mir drängt sich der Eindruck auf, dass Moritz die jungen Leute recht pauschal und mit recht klischeehaften und moralisierenden Meinungen zur „Entarteten Musik“ und teils fehlerhaften Beschreibungen außereuropäischer Musik, somit keinesfalls expertenhaft, sondern besserwisserisch-belehrend beschwätzt und sicherlich nicht überzeugt hat.

    Wenn mir, als ich ein Junge war, jemand so kam, dann pflegte ich eine Zeit lang zuzuhören und in einer Schnaufpause meines Gegenübers zu sagen: „Aber in Australien ist das ganz anders!“ Das hatte seine Wirkung, wirkt aber bei Moritzens Globalanspruch (auch Australien ist vertreten) nicht.

    Was also tun? Wäre ich der Lehrer dieser Klasse, würde ich mit den Schülern gemeinsam Moritzens Suada Satz für Satz und Wort für Wort entzaubern.
    Was da außer dem oben schon Genannten alles anstünde, kann ich gerne aufführen, wenn es verlangt wird.

    Und noch etwas – auch für die anderen hier in diesem Blog unaufhaltsam jammernden Komponisten (es gibt nahezu immer, bei jedem Thema, etwas zu jammern):

    Wohlfeile Absichtserklärungen, umfängliche Eigenanalysen und Appelle jeglicher Art ersetzen nicht Musik, die wirkt, einfach wirkt, weil sie im Erklingen ungeheuer präsent ist, auch für junge Leute, die eine andere (auch eine andere musikalische) Sozialisation erlebt haben als Moritz Eggert oder ich.

    Guntram Erbe

  17. What’s run over your liver, Guntram? „besserwisserisch-belehrend“ wirkt eher Dein Kommentar, aber nun ja…

  18. Guntram Erbe sagt:

    Was mir über die Leber gelaufen ist?

    Ganz einfach: die kursorische Abwehr der rührend unbeholfenen und höflichen Versuche der Schüler, Stellung zu beziehen.

    Guntram

  19. @Guntram: Dann hast Du vielleicht einen anderen Artikel gelesen? Ich schreibe die ganze Zeit nichts weiter, als dass ich die Meinung der Schüler vollkommen in Ordnung finde, und appelliere eher an ihre Neugier auf anderes. Natürlich benutze ich für Experten wie Dich eher simple Beispiele (und was ist bitte daran falsch?), aber ein tiefgründiger musikwissenschaftlicher Artikel mit Fußnoten und ausführlichen Erläuterungen erschien mir hier nicht angebracht.
    Klar, Du als erfahrener Musiklehrer hast natürlich das Gefühl, Du könntest das alles viel besser erklären und vielleicht kannst Du das auch. Aber ich wurde hier als Komponist und nicht als Lehrer gefragt.
    Außerdem ist in Australien sowieso alles anders.

    Moritz Eggert

  20. Guntram Erbe sagt:

    Lieber Moritz!

    Ein paar Anmerkungen, in der Reihenfolge dem Text des Antwortbriefes folgend:
    • Der Großverdiener Mozart wurde nicht als Komponist verhöhnt.
    • Schubert war ein erfolgreicher und bekannter Komponist von Liedern und Klavier- und Kammermusik, wovon etliche Werke verlegt und gut bezahlt worden sind. O. E. Deutsch schätzte Schuberts Einkommen zwischen 1816 und 1828 im Schnitt auf 750 fl jährlich ein. Als Musikdirektor in Laibach hätte er weniger, nämlich 500 fl verdienen können.
    • Die Beschreibung der Bach- und Schumannrezeption ist einseitig. Die Wertschätzung Bachs z. B. war ungebrochen, wenn auch nicht allgemein. (Mendelssohn hat ihn nicht neu entdecken müssen)
    • „Denn selbst die Musik afrikanischer Urvölker“ erhebt nicht den Anspruch, alle afrikanischen Musiken zu erfassen. So allgemein ausgedrückt stimmt der Satz, für einige afrikanische Musiken zumindest.
    • Die Unterteilung afrikanischer Musik in westlich infizierte und davon nicht behaftete ist zu simpel. Falsch ist es, den Schülern zu unterstellen, sie brauchten den Wiedererkennungseffekt, um mit afrikanischer Musik umgehen zu können und sie wert zu schätzen.
    • Nochmals: die Schüler haben nicht behauptet, e i n Schema für alle Arten von afrikanischer Musik anzunehmen.
    • Die Charakterisierung von Pygmäenmusik greift zu kurz. Dissonanter als „Goldberg spielt“ ist sie nicht.
    • Afrikanische Musik kennt sehr wohl Metren, die einem Walzermetrum gleichen, so das im 12/8-Takt notierbare (= 4×3/8), das dem Metrum des 4×3/4 eines Walzers entspricht. Deshalb sind die Folgerungen daraus falsch.
    • Es ist besser, nicht vom „wohltemperierten System“ zu sprechen, wenn man das gleichschwebende meint.
    • Gamelan nicht Gamelang (offensichtlich kein Schreibfehler, da der falsche Name zweimal vorkommt)

    Nun zum Ton des Antwortbriefes, der ja bekanntlich die Musik macht. Stefan Hetzel hat dazu schon Treffendes geschrieben, ich will ihn nicht in allem, dem ich zustimme, wiederholen.
    Kaum denkbar ist es, dass die Schüler sich nicht abgekanzelt und disqualifiziert fühlen.
    Ich zitiere das, was sie vor den Kopf hat stoßen können:
    • Ihr scheint also ganz genau zu wissen, was Musik ist, und was würdig ist, als Musik wahrgenommen zu werden. Solche Tendenzen gab es in der Kulturgeschichte immer wieder, zuletzt zum Beispiel bei den Nazis, die Musik die ihnen ungesund, unnormal und unnatürlich erschien, als “entartet” deklarierten und verfolgten.
    • Kennt ihr wirklich alle afrikanische Musik, dass ihr sagen könnt, dass sie komplett einem Schema folgt?
    (Siehe dazu oben Gesagtes)
    • Ich fange hier gar nicht von Musik der Nordamerikanischen Ureinwohner, aus Indien, Indonesien, Neuseeland oder Australien, China etc. an (Du tust es!)
    • Könnt ihr die gesungenen Melodien sofort nachsingen, die Rhythmen sofort nachklopfen? Das würde mich sehr überraschen (es sei denn ihr seid selber Chinesen, und wärt in dem Kulturkreis aufgewachsen).
    • Was ich damit sagen will: ich wünsche euch, dass ihr neugierig und offen bleibt, euer ganzes Leben lang.
    Warum sollten die Schüler nun auf das vermeintlich Defizitäre neugierig geworden sein?

    Noch etwas Persönliches. Bitte lies deine Entgegnung einmal durch nach Einschätzungen und Unterstellungen (warum z. B. sollte ich einen musikwissenschaftlichen Brief mit fußnoten erwartet haben?), die mich als ehemaligen Lehrer betreffen. „Goldberg spielt“ habe ich übrigens vor etlichen Jahren (ich bin nun fast sieben Jahre pensioniert) im Unterricht mit Schülern in Ausschnitten angehört und besprochen. Das kam an.

    Soweit erst einmal, wenn’s noch mehr sein soll, dann vielleicht besser per E-Mail.

    Beste Grüße
    Guntram

  21. Guntram Erbe sagt:

    Hallo Strieder,

    hast ein sehr schönes Musikstück verlinkt. Ähnliches habe ich in den Neunzigern genau studiert und – wen wundert’s – als Inspirationsquelle genutzt.
    Hör mal:
    http://www.guntramerbe.de/Quintolen.mp3

    Beste Grüße
    Guntram Erbe

  22. strieder sagt:

    Die Harmonik hat dich leider nicht inspiriert ;) *wegrenn*

  23. Guntram Erbe sagt:

    Ha, ha, prima, es ist ja auch ein Stück zum Regenvertreiben. ;-)

  24. @Guntram:
    da kann man ganz leicht entgegnen:

    Zuerst einnmal: die Beispiele mit den Komponisten sind zugegebenermaßen plakativ und simpel (davor habe ich am Anfang des Bad Blog – Eintrags auch die Kennner gewarnt). Ich hätte natürlich wesentlich bessere Beispiele nennen können, aber was nützt es dann, wenn den Kids der Name nichts sagt und ich erst weit ausholen muss um zu erklären, wer Harry Partch ist?

    • Der Großverdiener Mozart wurde nicht als Komponist verhöhnt.

    Quatsch: Natürlich wurde er verhöhnt, wie so ungefähr jeder Komponist zu Lebzeiten irgendwann mal. Sein Dissonanzenquartett wurde zum Beispiel vom Verleger als „fehlerhaft“ zurückgeschickt, und es hagelte kritische Bemerkungen seiner Zeitgenossen. Das kann man überall leicht nachlesen. Natürlich war er dennoch ein erfolgreicher und auch bewunderter Musiker, ich wollte nur die Ambivalenz zum Ausdruck bringen, dass auch „Klassikstars“ kritisiert wurden. Ich habe dieses populäre Beispiel nur deswegen gebracht, weil man Mozart normalerweise nicht mit „shocking“ assoziiert. Für uns Experten ist das ein alter Hut, aber nicht jeder Schüler weiß das. Darf man also als Beispiel schon mal bringen.
    Leben konnte Mozart sehr gut, und das habe ich nirgends bestritten.

    • Schubert war ein erfolgreicher und bekannter Komponist von Liedern und Klavier- und Kammermusik, wovon etliche Werke verlegt und gut bezahlt worden sind. O. E. Deutsch schätzte Schuberts Einkommen zwischen 1816 und 1828 im Schnitt auf 750 fl jährlich ein. Als Musikdirektor in Laibach hätte er weniger, nämlich 500 fl verdienen können.

    Und, was soll uns das jetzt sagen? Auch hier habe ich nirgendwo behauptet, dass Schubert am Hungertuch nagte, das unterstellst Du mir einfach. Und das Schubert ganz sicherlich nicht zu Lebzeiten von einer großen Masse bewundert wurde, wie es nach seinem Tod geschah, ist eine unumstössliche Tatsache, dazu ist seine Karriere von doch vergleichsweise vielen Enttäuschungen geprägt. „Erfolgreich“ und „bekannt“ war er im Vergleich zu vielen wesentlich populäreren Figuren zu seinen Lebzeiten garantiert nicht. Auch dies – das gebe ich gerne zu – kein wahnsinnig ungewöhnliches Beispiel, aber siehe oben.

    • Die Beschreibung der Bach- und Schumannrezeption ist einseitig. Die Wertschätzung Bachs z. B. war ungebrochen, wenn auch nicht allgemein. (Mendelssohn hat ihn nicht neu entdecken müssen)

    Falsch, die Beschreibung ist nicht einseitig, sondern einfach nur nicht ausführlich, sie erhebt auch keinerlei Anspruch darauf. Das Mendelssohn-Beispiel habe ich gar nicht gebracht, das hast Du mir jetzt einfach elegant unterstellt. Man kann IMMER sagen „Du hättest aber noch erwähnen sollen, das…“, das ist ein absolutes Scheinargument, und relativ billig, weil immer anwendbar. Ich erwähne einfach nur die Tatsache, dass Bach (nachweislich) u.a. von seinen Söhnen nicht mehr so ganz ernst genommen wurde, während sie für ihren wesentlich moderneren Stil gefeiert wurden. Natürlich ist das nur ein Aspekt, aber um den ging es mir. Auch dies ein simples, populäres Beispiel, dass keinerlei Anspruch auf tiefgründige musikwissenschaftliche Betrachtung erhebt, darum ging es nicht, sondern nur um die simple Tatsache:
    Es gibt keine unumstösslich unkritisierbare „wahre und schöne“ Musik – irgendjemand findet’s immer doof.
    Das ist eigentlich alles.

    • „Denn selbst die Musik afrikanischer Urvölker“ erhebt nicht den Anspruch, alle afrikanischen Musiken zu erfassen. So allgemein ausgedrückt stimmt der Satz, für einige afrikanische Musiken zumindest.

    ??? Da bist Du nicht klar…

    • Die Unterteilung afrikanischer Musik in westlich infizierte und davon nicht behaftete ist zu simpel. Falsch ist es, den Schülern zu unterstellen, sie brauchten den Wiedererkennungseffekt, um mit afrikanischer Musik umgehen zu können und sie wert zu schätzen.

    Ich unterstelle nichts, sondern stelle Fragen, das ist ein kleiner Unterschied.

    • Nochmals: die Schüler haben nicht behauptet, e i n Schema für alle Arten von afrikanischer Musik anzunehmen.
    • Die Charakterisierung von Pygmäenmusik greift zu kurz. Dissonanter als „Goldberg spielt“ ist sie nicht.

    John Strieders schönes youtube – Beispiel ist weder Pygmäenmusik noch erhebt es Anspruch auf Allgemeinheit, aber…quod erat demonstrandum usw.

    • Afrikanische Musik kennt sehr wohl Metren, die einem Walzermetrum gleichen, so das im 12/8-Takt notierbare (= 4×3/8), das dem Metrum des 4×3/4 eines Walzers entspricht. Deshalb sind die Folgerungen daraus falsch.

    Bitte genauer lesen – ich sprach von WESTAFRIKANISCHER Musik, nicht von afrikanischer Musik im allgemeinen. Da kenne ich mich tatsächlich gut aus, weil ich in Accra (Ghana) mit Trommlern und Musikern gearbeitet habe. Die Takteinteilung (auch mit Triolen) ist immer 2/4 und 4/4 – ich scheiterte komplett daran, zum Beispiel selbst fortgeschrittenen Studenten einen 5/8-Takt beizubringen (2+3 oder 3+2). Triolen kennt diese rhythmische dennoch wahnsinnig komplexe und faszinierende Musik selbstverständlich – gerade deswegen kannst Du mir einen 12/8 Takt auch nicht als „Walzer“ verkaufen, sorry…

    • Es ist besser, nicht vom „wohltemperierten System“ zu sprechen, wenn man das gleichschwebende meint.

    Auch hier wählte ich bewusst den populären Begriff, nicht den Begriff den ich zum Beispiel in einem Gespräch mit Dir verwenden würde. Schande über mich.

    • Gamelan nicht Gamelang (offensichtlich kein Schreibfehler, da der falsche Name zweimal vorkommt)

    Hier hast Du mich voll erwischt – man möge mir verzeihen, dass ich mich mit Gamelang-Musik vor allem auf Englisch beschäftigt habe, deswegen passiert es mir oft, dass ich die englische Schreibweise „Gamelan“ benutze. Die ist jetzt aber nicht direkt „falsch“, sondern einfach nur in einer anderen Sprache, daher wundert mich, dass es Dir auch hier wichtig scheint, mich zu belehren, aber nun gut.

    Wie gut meine Antwort nun war oder nicht ist vollkommen diskussionswürdig. Aber oberlehrerhaft sind gerade eher Deine Anmerkungen, warum auch immer Dich da etwas aggressiv gemacht hat, keine Ahnung.

    Nach wie vor erstaunt vor soviel unnötiger Belehrung,

    Moritz

  25. Guntram Erbe sagt:

    Lieber Moritz,

    mit deinem letzten Satz bist du unfair geworden.
    Die offensichtlich unnötige und wirkungslose Belehrung hattest du erfragt. Ohne deine Frage „(und was ist bitte daran falsch?)“ hätte ich geschwiegen, so wie ab jetzt.
    Mitleser werden sich denken können, was ich weiterhin vertreten könnte und müsste.

    In Deutschland ist es eben anders als in Australien.
    Guntram

  26. @Moritz Eggert + Guntram Erbe: Leider hat sich eure Diskussion auf Themen verlagert, die mit dem ursprünglichen Anliegen von Moritz‘ Artikel (Vermittlung „Neuer Musik“ an junges Nicht-Fachpublikum) nichts mehr zu tun haben :-(

  27. Guntram Erbe sagt:

    @Stefan Hetzel
    Replik auf das ursprüngliche Posting („Bitte verhakt euch nicht in Details! Dass ihr beide tierisch gebildet seid, wissen wir doch schon“):

    Neue Weisheit:
    (Zu) spät streckt sich, wer kein Häkchen bleiben will.

    ;-))

    G. E.

  28. dazu mal was von mir, als Instrumentallehrer an einem musischen Gumminasium (und schon laengerer Mitleser des blogs)….zunaechst einmal faellt mir in der Musikvermittlung eine gewisse Schizophrenie auf: die Lernenden spielen eine Art von Musik (jetzt mal wirklich im weitesten Sinn), hoeren diese aber nie an, sondern in ihrer Freizeit ganz andere Musik. Wie waere es, die Schueler nicht nur einfach „vollzustopfen“, sondern mit ihnen einfach mal die Musik anzuhoeren, die ihnen gefaellt (ohne Belehrungen), sie zum Nachspielen, Raushoeren, Rausschreiben anzuregen?

    Das ist zuallerst einmal fair, (wofuer junge Menschen sehr sensibel sind) und es ergibt sich ganz von selbst eine Auseinandersetzung die, bei zunehmendem Spass an sinnlichem Hoeren und geistiger Verarbeitung, zur Musik der Welt, zur „klassischen“ und damit auch folgerichtig zur „zeitgenoessischen E-Musik“ (verzeiht die groben Begriffe) fuehrt.

    Das interessiert dann viele; sie folgen mit Vergnuegen der fortschreitenden Abstraktion bei gleichbleibender Sinnlichkeit… zum Beispiel zu Eggert…

    Viele Gruesse

    Euer David